Produktdetails
- Verlag: ZWEITAUSENDEINS
- ISBN-13: 9783861505624
- Artikelnr.: 24404535
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2011Im Lehnsessel ohne Ziel unterwegs
Xavier de Maistres Klassiker "Die Reise um mein Zimmer" neu aufgelegt
Xavier de Maistres Klassiker "Die Reise um mein Zimmer" von 1795 kann man heute als freundliche Aufforderung lesen, es dem Urvater des Genres der "Zimmerreisen" nachzutun: es sich im Lehnsessel gemütlich zu machen, es tut aber auch ein Stuhl schwedischer Durchschnittsware. Und dann den Blick schweifen zu lassen, "diagonal, im Zickzack, ohne Plan und Ziel". Wenn dann die Seele zum Träumen den Körper verlässt, sich also abstößt von den Gegenständen ringsum, von Bett, Tisch, Stuhl, käme man dem befreienden Prinzip dieser Reise recht nah.
Die Unabhängigkeit im Kopf hatte de Maistre (1763 bis 1852) nötig. Der schriftstellernde Maler aus dem französischen Savoyen, der als Soldat über Turin bis nach Sankt Petersburg kam, musste nach einem Duell für 42 Tage ins Gefängnis. Er nutzte die Krise als Chance und stieß mit seinen Gedankenspaziergängen eine ganze Poetik der Entschleunigung an, von Sophie von La Roche über Franz Hessel bis Wilhelm Genazino. Bernd Stiegler, der 2010 eine wunderbare Studie über die Geschichte der Zimmerreisen vorgelegt hat ("Reisender Stillstand", S. Fischer Verlag), schätzt an de Maistre, dass er keine Gegenstände verschiebt, sondern "ihre ordnende Funktion" in den Blick nimmt. "Er gibt ihnen das Maß an Fremdheit zurück, das sie im Alltag verloren haben." Das ermögliche eine Distanz zur Wirklichkeit - kein laues Seele-baumeln-Lassen also; vielmehr eine Kulturtechnik. Der schon viel zu lange unberührte Papierstapel eines Projekts wäre bei eingehender Betrachtung nicht als bedrohlich, vielleicht ja als lebensnährend zu betrachten; und die unaufgeräumte Ecke als stilbildend für die Ecke gegenüber. Was lockt uns Robinson. Lieber stillhalten und in nächster Nähe schauen.
Allein das verlegerische Glück hätte sich bei dieser Neuausgabe liebevoller zeigen dürfen. Sie schmückt zwar eine Illustration, aber innen nur eine biographische Notiz. Ironische Anspielungen der Zeit muss man sich selbst erschließen, für diese ebenso wie für die zweite Zimmerreise, entstanden in Turin ("Nächtliche Entdeckungsreise um mein Zimmer", 1825). Um sich für Zwangssituationen aller Art zu wappnen, taugt diese Ausgabe allemal: "Sie haben mir untersagt, durch eine Stadt, einen geographischen Punkt, zu laufen; aber sie haben mir das ganze Universum überlassen: Die Unermesslichkeit und die Ewigkeit stehen zu meinen Diensten." Von wegen Kontingenz, es ist alles eine Frage der Einstellung.
ANJA HIRSCH
Xavier de Maistre: "Die Reise um mein Zimmer". Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2011. 172 S., geb., 16,65 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Xavier de Maistres Klassiker "Die Reise um mein Zimmer" neu aufgelegt
Xavier de Maistres Klassiker "Die Reise um mein Zimmer" von 1795 kann man heute als freundliche Aufforderung lesen, es dem Urvater des Genres der "Zimmerreisen" nachzutun: es sich im Lehnsessel gemütlich zu machen, es tut aber auch ein Stuhl schwedischer Durchschnittsware. Und dann den Blick schweifen zu lassen, "diagonal, im Zickzack, ohne Plan und Ziel". Wenn dann die Seele zum Träumen den Körper verlässt, sich also abstößt von den Gegenständen ringsum, von Bett, Tisch, Stuhl, käme man dem befreienden Prinzip dieser Reise recht nah.
Die Unabhängigkeit im Kopf hatte de Maistre (1763 bis 1852) nötig. Der schriftstellernde Maler aus dem französischen Savoyen, der als Soldat über Turin bis nach Sankt Petersburg kam, musste nach einem Duell für 42 Tage ins Gefängnis. Er nutzte die Krise als Chance und stieß mit seinen Gedankenspaziergängen eine ganze Poetik der Entschleunigung an, von Sophie von La Roche über Franz Hessel bis Wilhelm Genazino. Bernd Stiegler, der 2010 eine wunderbare Studie über die Geschichte der Zimmerreisen vorgelegt hat ("Reisender Stillstand", S. Fischer Verlag), schätzt an de Maistre, dass er keine Gegenstände verschiebt, sondern "ihre ordnende Funktion" in den Blick nimmt. "Er gibt ihnen das Maß an Fremdheit zurück, das sie im Alltag verloren haben." Das ermögliche eine Distanz zur Wirklichkeit - kein laues Seele-baumeln-Lassen also; vielmehr eine Kulturtechnik. Der schon viel zu lange unberührte Papierstapel eines Projekts wäre bei eingehender Betrachtung nicht als bedrohlich, vielleicht ja als lebensnährend zu betrachten; und die unaufgeräumte Ecke als stilbildend für die Ecke gegenüber. Was lockt uns Robinson. Lieber stillhalten und in nächster Nähe schauen.
Allein das verlegerische Glück hätte sich bei dieser Neuausgabe liebevoller zeigen dürfen. Sie schmückt zwar eine Illustration, aber innen nur eine biographische Notiz. Ironische Anspielungen der Zeit muss man sich selbst erschließen, für diese ebenso wie für die zweite Zimmerreise, entstanden in Turin ("Nächtliche Entdeckungsreise um mein Zimmer", 1825). Um sich für Zwangssituationen aller Art zu wappnen, taugt diese Ausgabe allemal: "Sie haben mir untersagt, durch eine Stadt, einen geographischen Punkt, zu laufen; aber sie haben mir das ganze Universum überlassen: Die Unermesslichkeit und die Ewigkeit stehen zu meinen Diensten." Von wegen Kontingenz, es ist alles eine Frage der Einstellung.
ANJA HIRSCH
Xavier de Maistre: "Die Reise um mein Zimmer". Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2011. 172 S., geb., 16,65 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main