Produktdetails
- Verlag: Herder, Freiburg
- 2., verb. Aufl.
- Seitenzahl: 407
- Deutsch, Latein
- Abmessung: 27mm x 128mm x 194mm
- Gewicht: 467g
- ISBN-13: 9783451221439
- ISBN-10: 3451221438
- Artikelnr.: 06221381
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.1996In der Mitte ist der Kern
Humanist bleiben: Octavio Paz glaubt an etwas Fundamentales
Es kommt nicht gerade oft vor, daß Dichter ihre politische Autobiographie schreiben. Octavio Paz hat es getan, obwohl er im Gegensatz zu manch anderem Schriftsteller aus Lateinamerika nie Politiker war. Seine diplomatische Karriere, in der er es zum mexikanischen Botschafter in Indien brachte, verlief, wie er selbst schreibt, "glanzlos und gemächlich". Allerdings war der Einfluß des politischen Denkers Paz immer sehr groß. Der Autor hochartistischer Lyrik fühlte sich stets verpflichtet, zu politischen Ereignissen in seinem Land und auf der ganzen Welt Stellung zu nehmen. Mit dreiundzwanzig Jahren wollte er in Spanien, wo er am Antifaschistischen Schriftsteller-Kongreß teilgenommen hatte, für die Republik als Freiwilliger gegen die Aufständischen unter Franco kämpfen. Sozialistische Politiker rieten ihm damals ab, weil sie ihn mit der Schreibmaschine für nützlicher hielten als mit der Waffe.
Für Octavio Paz beginnt das zwanzigste Jahrhundert mit dem Ersten Weltkrieg - er wurde 1914 geboren - und endet mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime. Paz sagt im Gespräch gern, er rede lieber über Literatur als über Politik, doch zitiert werde er vorwiegend mit seinen politischen Äußerungen. Häufig zitiert, oft mißverstanden und manchmal auch bewußt falsch interpretiert. So hat er sich vorgenommen, in "Itinerarium" seinen politischen und intellektuellen Lebensweg offenzulegen und Mißverständnisse auszuräumen. Geschrieben ist sein Buch in einem differenzierten, glasklaren Stil.
Als Heranwachsender erlebte Paz die mexikanische Revolution, in der sein Vater ein aktive Rolle spielte. Später engagierte er sich selbst in den großen Auseinandersetzungen unseres Jahrhunderts: Spanischer Bürgerkrieg, Faschismus und Zweiter Weltkrieg, die stalinistischen Säuberungen, der trotzkistische Dogmatismus, der Kalte Krieg, die kubanische Revolution (mit anfänglicher Zustimmung und später klarer Ablehnung), die Rebellion der kolonialisierten Länder der Dritten Welt, das definitive Scheitern des totalitären Kommunismus und der Anspruch des Marktes, einzige Richtlinie und Ersatz aller Werte zu sein. Paz veranschaulicht die ideologischen Auseinandersetzungen und den brutal geführten Kampf zwischen Trotzkisten und stalinistischem Kommunismus. Das erste Kommando, das Trotzki ermorden sollte (es gelang "nur" die Ermordung von Trotzkis Sekretär), wurde übrigens von dem berühmten Maler Siqueiros, einem guten Freund und ehemaligen Genossen von Octavio Paz, angeführt.
Mit dem Werk Sartres konnte sich Paz nie anfreunden. Seine Distanziertheit, schreibt er, habe auch poetische Gründe: "Im Gegensatz zu Heidegger, dem Ausleger Hölderlins und Rilkes, hat die Poesie in Sartres System keinen Platz." Die wichtigsten Vorbehalte gegenüber Sartre sind allerdings politischer Art: Es ist die Einführung einer angeblichen Logik der Geschichte als einer höheren moralischen Instanz, die vom Willen und den Absichten des einzelnen Menschen unabhängig ist. Die Revolution als Gottheit oder der Gott Geschichte seien unzuverlässiger als der christliche Gott, der unwandelbar sei und auf einem Kodex zeitloser Bedeutungen beruhe. Sartres Argumente erinnern Paz "an die, welche ich schon in Madrid, Mexiko und New York von Stalinisten und Trotzkisten gehört hatte. Es war das genaue Gegenteil dessen, was ich Breton und Camus habe sagen hören."
Albert Camus, mit dem Paz der Einsatz für ein demokratisches Spanien verbindet, wurde für Paz zu einer politischen Lichtgestalt, als die meisten Intellektuellen bei der berühmten Polemik zwischen Sartre und Camus in "Les temps modernes" noch hinter Jean-Paul Sartre standen und Camus des ideologischen Verrats bezichtigten. Als Paz sich 1951 in einem Artikel über die sowjetischen Konzentrationslager vom Kommunismus lossagte und das Schweigen anderer Intellektueller anprangerte, fand er in Mexiko keine Zeitschrift, die seinen Beitrag veröffentlichen wollte. Die traditionsreiche argentinische Monatsschrift "Sur" gab ihm schließlich Platz dafür. Nach diesem Artikel wurde Paz von zahlreichen Mexikanern und Europäern totgeschwiegen. In dem Kritiker der Sowjetunion sahen sie einen Verteidiger des amerikanischen Imperialismus. Jahrzehntelang wurde Paz abschätzig als "Konservativer" bezeichnet. Dabei hielt er die Kritik an den kapitalistischen Demokratien stets für wichtig. Doch seit 1950 hat er sich immer geweigert, "die kapitalistischen liberalen Demokratien den kommunistischen totalitären Regimen gleichzusetzen".
Octavio Paz' politischem Denken ist Schwarzweißmalerei fremd. Das unterscheidet ihn etwa von Mario Vargas Llosa, der sich von einem dogmatischen Kommunisten zu einem kaum weniger dogmatischen Ultraliberalen und einem bedingungslosen Anhänger des freien Marktes wandelte. Für Paz dagegen gehören die Exzesse des Marktes zu den Übeln, "die uns heimsuchen", nachdem der totalitäre Kommunismus verschwunden ist. Weitere Übel sieht er im fanatischen Fundamentalismus, in der Manipulation von Information sowie in einer Uniformiertheit des Bewußtseins und der Ideen: dem Kult eines hemmungslosen, egoistischen Individualismus.
Die Demokratie wäre damit überfordert, hier das Gegenmittel zu liefern. Sie ist nichts Absolutes, sondern lediglich "ein System zivilisierten Zusammenlebens". Auf die fundamentalen Fragen, die sich die Menschen, seit Urzeiten gestellt hätten, auf die große Frage nach der Bestimmung des Menschen gebe sie keine Antwort. Während der Relativismus das friedliche Zusammenleben und die Koexistenz von Glaubensüberzeugungen garantiere, versuchten fundamentalistische und totalitäre Ideologien und Religionen, die Leere im Innern der relativistischen Gesellschaften zu füllen. Das sei eine Gefahr, der sich die Demokratie ständig erwehren müsse - am besten tue sie es durch das, was von Aristoteles bis Montesquieu "die Tugend der Bürger" genannt wurde, also die Herrschaft über uns selbst, vor allem über die niederen Leidenschaften wie Neid, Eitelkeit, Geiz, Trägheit.
Immerhin hilft die moderne Demokratie laut Octavio Paz dabei, sich den "Fallstricken des Glaubens", wie eines seiner bedeutendsten Werke überschrieben ist, zu entziehen. Gleichzeitig dürfe sie die Religion, bei aller erforderlichen Neutralität in Dingen des Glaubens, nicht ignorieren oder "in das Reservat des individuellen Gewissens einschließen". Die Religionen dürften nicht gehindert werden, sich öffentlich zu manifestieren. Ohnehin drohe die Gefahr einer Ersatzreligion durch die ökologische Bewegung, die in mancherlei an totalitäre und reaktionäre Ideologien erinnere.
"Itinerarium" ist eine faszinierende Darstellung der wesentlichen Auseinandersetzungen unseres Jahrhunderts. Den Freunden des Werkes von Octavio Paz mag das Buch eine willkommene Antwort auf ungerechte, vorwiegend politisch motivierte Vorwürfe gegen den großen mexikanischen Schriftsteller sein. Vielleicht könnte dieses Bändchen auch manche deutschen Kritiker eines Besseren belehren. Künftig wird es nicht mehr so einfach sein, dem Nobelpreisträger Octavio Paz mangelnde gedankliche Disziplin, unsystematische Darstellung und "feuilletonistische" Sinnsprüche vorzuwerfen. WALTER HAUBRICH
Octavio Paz: "Itinerarium". Kleine politische Autobiographie. Aus dem Spanischen übersetzt von Rudolf Wittkopf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 104 S., br., 24,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Humanist bleiben: Octavio Paz glaubt an etwas Fundamentales
Es kommt nicht gerade oft vor, daß Dichter ihre politische Autobiographie schreiben. Octavio Paz hat es getan, obwohl er im Gegensatz zu manch anderem Schriftsteller aus Lateinamerika nie Politiker war. Seine diplomatische Karriere, in der er es zum mexikanischen Botschafter in Indien brachte, verlief, wie er selbst schreibt, "glanzlos und gemächlich". Allerdings war der Einfluß des politischen Denkers Paz immer sehr groß. Der Autor hochartistischer Lyrik fühlte sich stets verpflichtet, zu politischen Ereignissen in seinem Land und auf der ganzen Welt Stellung zu nehmen. Mit dreiundzwanzig Jahren wollte er in Spanien, wo er am Antifaschistischen Schriftsteller-Kongreß teilgenommen hatte, für die Republik als Freiwilliger gegen die Aufständischen unter Franco kämpfen. Sozialistische Politiker rieten ihm damals ab, weil sie ihn mit der Schreibmaschine für nützlicher hielten als mit der Waffe.
Für Octavio Paz beginnt das zwanzigste Jahrhundert mit dem Ersten Weltkrieg - er wurde 1914 geboren - und endet mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime. Paz sagt im Gespräch gern, er rede lieber über Literatur als über Politik, doch zitiert werde er vorwiegend mit seinen politischen Äußerungen. Häufig zitiert, oft mißverstanden und manchmal auch bewußt falsch interpretiert. So hat er sich vorgenommen, in "Itinerarium" seinen politischen und intellektuellen Lebensweg offenzulegen und Mißverständnisse auszuräumen. Geschrieben ist sein Buch in einem differenzierten, glasklaren Stil.
Als Heranwachsender erlebte Paz die mexikanische Revolution, in der sein Vater ein aktive Rolle spielte. Später engagierte er sich selbst in den großen Auseinandersetzungen unseres Jahrhunderts: Spanischer Bürgerkrieg, Faschismus und Zweiter Weltkrieg, die stalinistischen Säuberungen, der trotzkistische Dogmatismus, der Kalte Krieg, die kubanische Revolution (mit anfänglicher Zustimmung und später klarer Ablehnung), die Rebellion der kolonialisierten Länder der Dritten Welt, das definitive Scheitern des totalitären Kommunismus und der Anspruch des Marktes, einzige Richtlinie und Ersatz aller Werte zu sein. Paz veranschaulicht die ideologischen Auseinandersetzungen und den brutal geführten Kampf zwischen Trotzkisten und stalinistischem Kommunismus. Das erste Kommando, das Trotzki ermorden sollte (es gelang "nur" die Ermordung von Trotzkis Sekretär), wurde übrigens von dem berühmten Maler Siqueiros, einem guten Freund und ehemaligen Genossen von Octavio Paz, angeführt.
Mit dem Werk Sartres konnte sich Paz nie anfreunden. Seine Distanziertheit, schreibt er, habe auch poetische Gründe: "Im Gegensatz zu Heidegger, dem Ausleger Hölderlins und Rilkes, hat die Poesie in Sartres System keinen Platz." Die wichtigsten Vorbehalte gegenüber Sartre sind allerdings politischer Art: Es ist die Einführung einer angeblichen Logik der Geschichte als einer höheren moralischen Instanz, die vom Willen und den Absichten des einzelnen Menschen unabhängig ist. Die Revolution als Gottheit oder der Gott Geschichte seien unzuverlässiger als der christliche Gott, der unwandelbar sei und auf einem Kodex zeitloser Bedeutungen beruhe. Sartres Argumente erinnern Paz "an die, welche ich schon in Madrid, Mexiko und New York von Stalinisten und Trotzkisten gehört hatte. Es war das genaue Gegenteil dessen, was ich Breton und Camus habe sagen hören."
Albert Camus, mit dem Paz der Einsatz für ein demokratisches Spanien verbindet, wurde für Paz zu einer politischen Lichtgestalt, als die meisten Intellektuellen bei der berühmten Polemik zwischen Sartre und Camus in "Les temps modernes" noch hinter Jean-Paul Sartre standen und Camus des ideologischen Verrats bezichtigten. Als Paz sich 1951 in einem Artikel über die sowjetischen Konzentrationslager vom Kommunismus lossagte und das Schweigen anderer Intellektueller anprangerte, fand er in Mexiko keine Zeitschrift, die seinen Beitrag veröffentlichen wollte. Die traditionsreiche argentinische Monatsschrift "Sur" gab ihm schließlich Platz dafür. Nach diesem Artikel wurde Paz von zahlreichen Mexikanern und Europäern totgeschwiegen. In dem Kritiker der Sowjetunion sahen sie einen Verteidiger des amerikanischen Imperialismus. Jahrzehntelang wurde Paz abschätzig als "Konservativer" bezeichnet. Dabei hielt er die Kritik an den kapitalistischen Demokratien stets für wichtig. Doch seit 1950 hat er sich immer geweigert, "die kapitalistischen liberalen Demokratien den kommunistischen totalitären Regimen gleichzusetzen".
Octavio Paz' politischem Denken ist Schwarzweißmalerei fremd. Das unterscheidet ihn etwa von Mario Vargas Llosa, der sich von einem dogmatischen Kommunisten zu einem kaum weniger dogmatischen Ultraliberalen und einem bedingungslosen Anhänger des freien Marktes wandelte. Für Paz dagegen gehören die Exzesse des Marktes zu den Übeln, "die uns heimsuchen", nachdem der totalitäre Kommunismus verschwunden ist. Weitere Übel sieht er im fanatischen Fundamentalismus, in der Manipulation von Information sowie in einer Uniformiertheit des Bewußtseins und der Ideen: dem Kult eines hemmungslosen, egoistischen Individualismus.
Die Demokratie wäre damit überfordert, hier das Gegenmittel zu liefern. Sie ist nichts Absolutes, sondern lediglich "ein System zivilisierten Zusammenlebens". Auf die fundamentalen Fragen, die sich die Menschen, seit Urzeiten gestellt hätten, auf die große Frage nach der Bestimmung des Menschen gebe sie keine Antwort. Während der Relativismus das friedliche Zusammenleben und die Koexistenz von Glaubensüberzeugungen garantiere, versuchten fundamentalistische und totalitäre Ideologien und Religionen, die Leere im Innern der relativistischen Gesellschaften zu füllen. Das sei eine Gefahr, der sich die Demokratie ständig erwehren müsse - am besten tue sie es durch das, was von Aristoteles bis Montesquieu "die Tugend der Bürger" genannt wurde, also die Herrschaft über uns selbst, vor allem über die niederen Leidenschaften wie Neid, Eitelkeit, Geiz, Trägheit.
Immerhin hilft die moderne Demokratie laut Octavio Paz dabei, sich den "Fallstricken des Glaubens", wie eines seiner bedeutendsten Werke überschrieben ist, zu entziehen. Gleichzeitig dürfe sie die Religion, bei aller erforderlichen Neutralität in Dingen des Glaubens, nicht ignorieren oder "in das Reservat des individuellen Gewissens einschließen". Die Religionen dürften nicht gehindert werden, sich öffentlich zu manifestieren. Ohnehin drohe die Gefahr einer Ersatzreligion durch die ökologische Bewegung, die in mancherlei an totalitäre und reaktionäre Ideologien erinnere.
"Itinerarium" ist eine faszinierende Darstellung der wesentlichen Auseinandersetzungen unseres Jahrhunderts. Den Freunden des Werkes von Octavio Paz mag das Buch eine willkommene Antwort auf ungerechte, vorwiegend politisch motivierte Vorwürfe gegen den großen mexikanischen Schriftsteller sein. Vielleicht könnte dieses Bändchen auch manche deutschen Kritiker eines Besseren belehren. Künftig wird es nicht mehr so einfach sein, dem Nobelpreisträger Octavio Paz mangelnde gedankliche Disziplin, unsystematische Darstellung und "feuilletonistische" Sinnsprüche vorzuwerfen. WALTER HAUBRICH
Octavio Paz: "Itinerarium". Kleine politische Autobiographie. Aus dem Spanischen übersetzt von Rudolf Wittkopf. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 104 S., br., 24,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main