Nach ihrer Ausreise aus dem Rumänien Ceauçescus könnte für Irene ein neues Leben im Westberlin der späten 80er Jahre beginnen. Aber innerlich ist sie weder ganz abgereist, noch ist sie endgültig im Neuen angekommen. Sie hat die alte Heimat verloren und keine neue gewonnen, die neue bleibt verschlossen: »In dem anderen Land, sagte Irene, hab ich verstanden, was die Menschen so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand ... Und hier, sagte Irene. Ich kann sie nicht sehen. Es tut weh, täglich die Gründe nicht zu sehn.« Im neuen Land tragen die Dinge Namen, die nicht zu ihnen passen, zersplittert die Welt in unzählige Detailbeobachtungen, die sie orientierungslos und handlungsunfähig zurücklassen. Einsam durchstreift sie Bahnhofslandschaften und Durchgangsorte, auch in ihren Beziehungen mit Männern bleibt sie innerlich allein.'Reisende auf einem Bein', erstmals erschienen 1989, ist der erste Prosaband Herta Müllers nach ihrer Übersiedelung aus Rumänien nach Berlin: eine bewegende Geschichte von Ferne und Nähe, Abreise und Ankunft - und der Leere dazwischen, in der wir schmerzhaft uns selbst spüren.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.10.2010Kassandra der Vergangenheit
Welkendes in Westberlin: Herta Müllers erster Prosaband nach ihrer Ausreise aus Rumänien
Diese Heldin tut erst gar nicht so, als wäre sie von ihrer Autorin verschieden. Irene ist soeben aus Rumänien, dem „anderen Land“, nach Deutschland ausgereist, genauer nach Westberlin, und so war es 1987 auch Herta Müller ergangen. „Reisende auf einem Bein“, 1989 im Rotbuch-Verlag erschienen, war ihr erster Prosaband nach diesem Schritt, der ihr Leben für immer in zwei Hälften zerschneiden sollte. Nun, zwei Jahrzehnte und einen Nobelpreis später, kommt das Werk erneut bei Hanser heraus.
Irene begegnet der neuen Umgebung mit einem Erstaunen, in das sich Misstrauen mischt, und lässt in ihren Bewegungen, Wahrnehmungen und kurzen Sätzen eine vorsichtige, scharfe Ökonomie walten. Ein geschmückter Weihnachtsbaum erscheint ihr, als hätte man ihn mit Eingeweiden umwunden. An einer U-Bahn-Haltestelle beobachtet sie lang eine alte Frau und ein Kind, das eine Tüte Chips futtert. Nachdem die beiden eingestiegen sind, sagt sie vom Bahnsteig, der leer zurückbleibt: „An der Stelle, wo das Kind gestanden hatte, lagen Chips. Es war eine Stille wie zwischen Messer und Hand gleich nach der Tat.“
Als Motto wählt Herta Müller von Cesare Pavese: „Aber ich war nicht mehr jung“. Wer so spät und durch die Verspätung geschwächt neu anfängt, muss seine Kräfte und Emotionen zusammenhalten. Auch die Liebesgeschichten färben sich da mit dem Ton einer undeutlichen Traurigkeit. Irene ist Franz, den sie betrunken in einem Urlaubsort des Ostblocks aufgelesen hat, in den Westen gefolgt; aber wer sie bei der Ankunft abholt, ist Stefan, und auch Thomas spielt eine Rolle, der vorübergehend bei ihr seine Homosexualität vergisst. „Manchmal mach ich Ausnahmen, Irene, ich musste dich doch rasch noch lieben, bevor du welkst.“
Dass hier zum letztmöglichen Zeitpunkt etwas geschieht und registriert wird: diesen Eindruck vermitteln dem Leser heute vor allem die Bilder aus dem alten Westberlin, dessen mürrisches Wesen mit Irenes unfroher Grundstimmung harmoniert.
Kaninchen am Mauerstreifen
Was den Touristen als Attraktion lockt, bietet sich Irene anders dar: „Der Flohmarkt war einer der vielen, von der Stadt vergessenen Orte, wo sich die Armut tarnte als Geschäft.“ Und wenn eine Frau auf der Straße ihren Hund ruft: „Komm, mein Schatz“, laden sich diese drei harmlosen Wörter mit einer traurigen Obszönität auf. Irene mag der Diktatur entronnen sein, aber der Osten und seine Angst bleiben auch in Berlin stark. In den Gesichtern der Polen, die ihr den Fußboden abschleifen, erkennt sie die Müdigkeit wieder, die nicht von Arbeit und Ausruhen herrührt, sondern von der Gefahr – in diesem Fall der, als Schwarzarbeiter erwischt zu werden: die westliche Spielart einer östlichen Erfahrung. Aus einem Brief erfährt sie, dass ein Freund im alten Land sich erhängt hat, und kommentiert: „Die Bereitschaft, an einer Kleinigkeit zu sterben, war groß.“ Wie um zu beweisen, dass dies auch für den Westen gilt, gibt sie einer Fotografie des toten Uwe Barschel in seiner Badewanne einen Ehrenplatz. Sie trifft noch auf die Steppenlandschaft an der Mauer im Herzen der Stadt und bemerkt dort die Kaninchen, die in Erdlöchern hausen. „Die machen mir mehr Angst als die Gewehre. Es sind verwandelte Tote.“
Im Kaninchen den wiederkehrenden Mauertoten sehen zu müssen, isteine Last, wie sie Kassandra als Fluch trug; nur dass Kassandra die Zukunft sah und Herta Müller die Vergangenheit. Dem jovialen Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde, der ihr Mut zusprechen will mit dem Argument, ein Lebenslauf könne doch nicht falsch sein, erwidert Irene: Ich kenne nur falsche Lebensläufe. Manchmal wünscht man sich beim Lesen, Herta Müller und ihre Irene wären lieber zynisch geworden, das ließe sich leichter ertragen. Stattdessen halten sie mit ruhiger Aufmerksamkeit den Phänomen stand, zu welchen sie ohne großes Aufhebens auch die Gespenster rechnen. BURKHARD MÜLLER
HERTA MÜLLER: Reisende auf einem Bein. Roman. Hanser, München 2010. 176 Seiten, 17,90 Euro.
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Welkendes in Westberlin: Herta Müllers erster Prosaband nach ihrer Ausreise aus Rumänien
Diese Heldin tut erst gar nicht so, als wäre sie von ihrer Autorin verschieden. Irene ist soeben aus Rumänien, dem „anderen Land“, nach Deutschland ausgereist, genauer nach Westberlin, und so war es 1987 auch Herta Müller ergangen. „Reisende auf einem Bein“, 1989 im Rotbuch-Verlag erschienen, war ihr erster Prosaband nach diesem Schritt, der ihr Leben für immer in zwei Hälften zerschneiden sollte. Nun, zwei Jahrzehnte und einen Nobelpreis später, kommt das Werk erneut bei Hanser heraus.
Irene begegnet der neuen Umgebung mit einem Erstaunen, in das sich Misstrauen mischt, und lässt in ihren Bewegungen, Wahrnehmungen und kurzen Sätzen eine vorsichtige, scharfe Ökonomie walten. Ein geschmückter Weihnachtsbaum erscheint ihr, als hätte man ihn mit Eingeweiden umwunden. An einer U-Bahn-Haltestelle beobachtet sie lang eine alte Frau und ein Kind, das eine Tüte Chips futtert. Nachdem die beiden eingestiegen sind, sagt sie vom Bahnsteig, der leer zurückbleibt: „An der Stelle, wo das Kind gestanden hatte, lagen Chips. Es war eine Stille wie zwischen Messer und Hand gleich nach der Tat.“
Als Motto wählt Herta Müller von Cesare Pavese: „Aber ich war nicht mehr jung“. Wer so spät und durch die Verspätung geschwächt neu anfängt, muss seine Kräfte und Emotionen zusammenhalten. Auch die Liebesgeschichten färben sich da mit dem Ton einer undeutlichen Traurigkeit. Irene ist Franz, den sie betrunken in einem Urlaubsort des Ostblocks aufgelesen hat, in den Westen gefolgt; aber wer sie bei der Ankunft abholt, ist Stefan, und auch Thomas spielt eine Rolle, der vorübergehend bei ihr seine Homosexualität vergisst. „Manchmal mach ich Ausnahmen, Irene, ich musste dich doch rasch noch lieben, bevor du welkst.“
Dass hier zum letztmöglichen Zeitpunkt etwas geschieht und registriert wird: diesen Eindruck vermitteln dem Leser heute vor allem die Bilder aus dem alten Westberlin, dessen mürrisches Wesen mit Irenes unfroher Grundstimmung harmoniert.
Kaninchen am Mauerstreifen
Was den Touristen als Attraktion lockt, bietet sich Irene anders dar: „Der Flohmarkt war einer der vielen, von der Stadt vergessenen Orte, wo sich die Armut tarnte als Geschäft.“ Und wenn eine Frau auf der Straße ihren Hund ruft: „Komm, mein Schatz“, laden sich diese drei harmlosen Wörter mit einer traurigen Obszönität auf. Irene mag der Diktatur entronnen sein, aber der Osten und seine Angst bleiben auch in Berlin stark. In den Gesichtern der Polen, die ihr den Fußboden abschleifen, erkennt sie die Müdigkeit wieder, die nicht von Arbeit und Ausruhen herrührt, sondern von der Gefahr – in diesem Fall der, als Schwarzarbeiter erwischt zu werden: die westliche Spielart einer östlichen Erfahrung. Aus einem Brief erfährt sie, dass ein Freund im alten Land sich erhängt hat, und kommentiert: „Die Bereitschaft, an einer Kleinigkeit zu sterben, war groß.“ Wie um zu beweisen, dass dies auch für den Westen gilt, gibt sie einer Fotografie des toten Uwe Barschel in seiner Badewanne einen Ehrenplatz. Sie trifft noch auf die Steppenlandschaft an der Mauer im Herzen der Stadt und bemerkt dort die Kaninchen, die in Erdlöchern hausen. „Die machen mir mehr Angst als die Gewehre. Es sind verwandelte Tote.“
Im Kaninchen den wiederkehrenden Mauertoten sehen zu müssen, isteine Last, wie sie Kassandra als Fluch trug; nur dass Kassandra die Zukunft sah und Herta Müller die Vergangenheit. Dem jovialen Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde, der ihr Mut zusprechen will mit dem Argument, ein Lebenslauf könne doch nicht falsch sein, erwidert Irene: Ich kenne nur falsche Lebensläufe. Manchmal wünscht man sich beim Lesen, Herta Müller und ihre Irene wären lieber zynisch geworden, das ließe sich leichter ertragen. Stattdessen halten sie mit ruhiger Aufmerksamkeit den Phänomen stand, zu welchen sie ohne großes Aufhebens auch die Gespenster rechnen. BURKHARD MÜLLER
HERTA MÜLLER: Reisende auf einem Bein. Roman. Hanser, München 2010. 176 Seiten, 17,90 Euro.
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