Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2002Mehr Körper wagen
Brigitte Oleschinski denkt darüber nach, wie Gedichte denken
Ja, wie denken sie denn? Man weiß es am Ende, nach der Lektüre dieses Buches, immer noch nicht; und daß sie überhaupt denken, erscheint dem Leser dann noch fragwürdiger als vor Beginn der Lektüre. Wer also von diesem Buch klare Auskünfte über die Denkweise von Gedichten nach Art eines soliden Sachbuchs erwartet, wird notwendigerweise enttäuscht. Wer dagegen etwas über die enthusiastische, fast schon pathologische Leidenschaft für Gedichte von einer der profiliertesten Lyrikerinnen der Gegenwart erfahren möchte, über ihre Wahrnehmungen, über die kaum formulierbaren Geheimnisse der Entstehung, Seinsweise und Wirkung von Gedichten, der wird sich mit diesem Buch sehr anfreunden können. Es ist keine wissenschaftliche Abhandlung und kein abgerundeter Essay, keine intersubjektiv vermittelbare und nachvollziehbare Poetik und kein nur subjektiver Erfahrungsbericht. Es ist das poetische Zeugnis einer fortdauernden Obsession. "Tage ohne Gedichte machen mich krank", liest man bereits auf der ersten Seite.
Brigitte Oleschinski (Jahrgang 1955) ist mit ihren Gedichtbänden "Mental Heat Control" (1990) und "Your Passport is Not Guilty" (1997) schnell bekannt geworden. Von Haus aus ist sie Historikerin und hat an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin gearbeitet. Mit der Symbiose von Dichtung und Wissenschaft läßt sich vielleicht der Grundkonflikt zwischen Emphase und Diskurs, zwischen Poesie und Reflexion erklären, der das Buch durchzieht und letztlich ungelöst bleibt.
Die eindrucksvollsten Passagen gelingen ihr dort, wo scheinbar gar nicht vom Gedicht, sondern beispielsweise von den Schlafsäcken Jugendlicher die Rede ist, von Träumen und Albträumen, von der Milchquote und von Melkschläuchen. Man hat den Eindruck, hier Gedichten in statu nascendi zu begegnen, kommenden Gedichten, die ihren Weg erst noch finden müssen. Er führt aus der bloßen Präzision von Beobachtungen und Wörtern entschieden heraus. "Mir scheint", heißt es einmal, "daß die Sprache von Gedichten immer auf etwas aus ist, das wie die physikalische Unschärferelation zwischen zwei Zuständen liegt: Wohlklang bespricht Schmerz, Lust umarmt das bloße Wort, im festen Metrum singt die Emphase, und Furcht bannt das Unnennbare in eine Litanei. Diese Zustände lassen sich nicht in Kategorien von Entweder-Oder aufspalten, sondern müssen in ihrer Widersprüchlichkeit als Gesamtheit begriffen werden." Da haben wir es: Kunst ist hier nichts anderes als die Produktion von Widersprüchlichkeiten, Antinomien, Aporien - als gäbe es dergleichen nicht schon genug, auch ohne die Kunst.
Aber dann kommen wieder die Zweifel, die Selbstzweifel auch. Sie dominieren das lange Gespräch mit der Lyrikerin Elke Erb, das Brigitte Oleschinski in ihre lyrische Denkschule nach Tonbandaufzeichnungen eingefügt hat. Das war keine gute Idee. Denn was hier an Un- und Mißverständnissen, an Unschärfe und unbegriffener Begrifflichkeit - offensichtlich kaum redigiert - dokumentiert wird ("Jetzt verstehe ich nicht, was du meinst", "Das verstehe ich noch nicht ganz", "Fachbegriffe kann man finden, das braucht uns hier nicht aufzuhalten"), das geht auf keine Kuhhaut, geschweige denn auf ein Tonband, so daß man es fast nicht für einen Zufall halten möchte, daß ein Teil der Aufzeichnungen unwiederbringlich verlorengegangen ist. Natürlich finden sich auch ein paar Perlen unter dem Gesprächsmüll, doch man muß schon sehr tolerant und sehr enthusiastisch sein, um bei Laune zu bleiben, nach ihnen zu suchen.
Dann aber findet man zum Beispiel immerhin ein poetisches Credo von Brigitte Oleschinski: Was braucht ein Gedicht? "Mehr Körper. Mehr Entschiedenheit. Mehr Lust, mehr Intensität." Kein schlechtes Programm. Ihr nächster Gedichtband wird zeigen, ob die Autorin es eingelöst hat.
WULF SEGEBRECHT
Brigitte Oleschinski: "Reizstrom in Aspik. Wie Gedichte denken". DuMont Verlag, Köln 2002. 131 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Brigitte Oleschinski denkt darüber nach, wie Gedichte denken
Ja, wie denken sie denn? Man weiß es am Ende, nach der Lektüre dieses Buches, immer noch nicht; und daß sie überhaupt denken, erscheint dem Leser dann noch fragwürdiger als vor Beginn der Lektüre. Wer also von diesem Buch klare Auskünfte über die Denkweise von Gedichten nach Art eines soliden Sachbuchs erwartet, wird notwendigerweise enttäuscht. Wer dagegen etwas über die enthusiastische, fast schon pathologische Leidenschaft für Gedichte von einer der profiliertesten Lyrikerinnen der Gegenwart erfahren möchte, über ihre Wahrnehmungen, über die kaum formulierbaren Geheimnisse der Entstehung, Seinsweise und Wirkung von Gedichten, der wird sich mit diesem Buch sehr anfreunden können. Es ist keine wissenschaftliche Abhandlung und kein abgerundeter Essay, keine intersubjektiv vermittelbare und nachvollziehbare Poetik und kein nur subjektiver Erfahrungsbericht. Es ist das poetische Zeugnis einer fortdauernden Obsession. "Tage ohne Gedichte machen mich krank", liest man bereits auf der ersten Seite.
Brigitte Oleschinski (Jahrgang 1955) ist mit ihren Gedichtbänden "Mental Heat Control" (1990) und "Your Passport is Not Guilty" (1997) schnell bekannt geworden. Von Haus aus ist sie Historikerin und hat an der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin gearbeitet. Mit der Symbiose von Dichtung und Wissenschaft läßt sich vielleicht der Grundkonflikt zwischen Emphase und Diskurs, zwischen Poesie und Reflexion erklären, der das Buch durchzieht und letztlich ungelöst bleibt.
Die eindrucksvollsten Passagen gelingen ihr dort, wo scheinbar gar nicht vom Gedicht, sondern beispielsweise von den Schlafsäcken Jugendlicher die Rede ist, von Träumen und Albträumen, von der Milchquote und von Melkschläuchen. Man hat den Eindruck, hier Gedichten in statu nascendi zu begegnen, kommenden Gedichten, die ihren Weg erst noch finden müssen. Er führt aus der bloßen Präzision von Beobachtungen und Wörtern entschieden heraus. "Mir scheint", heißt es einmal, "daß die Sprache von Gedichten immer auf etwas aus ist, das wie die physikalische Unschärferelation zwischen zwei Zuständen liegt: Wohlklang bespricht Schmerz, Lust umarmt das bloße Wort, im festen Metrum singt die Emphase, und Furcht bannt das Unnennbare in eine Litanei. Diese Zustände lassen sich nicht in Kategorien von Entweder-Oder aufspalten, sondern müssen in ihrer Widersprüchlichkeit als Gesamtheit begriffen werden." Da haben wir es: Kunst ist hier nichts anderes als die Produktion von Widersprüchlichkeiten, Antinomien, Aporien - als gäbe es dergleichen nicht schon genug, auch ohne die Kunst.
Aber dann kommen wieder die Zweifel, die Selbstzweifel auch. Sie dominieren das lange Gespräch mit der Lyrikerin Elke Erb, das Brigitte Oleschinski in ihre lyrische Denkschule nach Tonbandaufzeichnungen eingefügt hat. Das war keine gute Idee. Denn was hier an Un- und Mißverständnissen, an Unschärfe und unbegriffener Begrifflichkeit - offensichtlich kaum redigiert - dokumentiert wird ("Jetzt verstehe ich nicht, was du meinst", "Das verstehe ich noch nicht ganz", "Fachbegriffe kann man finden, das braucht uns hier nicht aufzuhalten"), das geht auf keine Kuhhaut, geschweige denn auf ein Tonband, so daß man es fast nicht für einen Zufall halten möchte, daß ein Teil der Aufzeichnungen unwiederbringlich verlorengegangen ist. Natürlich finden sich auch ein paar Perlen unter dem Gesprächsmüll, doch man muß schon sehr tolerant und sehr enthusiastisch sein, um bei Laune zu bleiben, nach ihnen zu suchen.
Dann aber findet man zum Beispiel immerhin ein poetisches Credo von Brigitte Oleschinski: Was braucht ein Gedicht? "Mehr Körper. Mehr Entschiedenheit. Mehr Lust, mehr Intensität." Kein schlechtes Programm. Ihr nächster Gedichtband wird zeigen, ob die Autorin es eingelöst hat.
WULF SEGEBRECHT
Brigitte Oleschinski: "Reizstrom in Aspik. Wie Gedichte denken". DuMont Verlag, Köln 2002. 131 S., geb., 16,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Angelika Overath traut, wie sie am Ende ihrer Rezension der poetologischen Textsammlung "Reizstrom in Aspik. Wie Gedichte denken" von Brigitte Oleschinski schreibt, Gedichten wieder mehr Antworten zu. Gedichte erscheinen der Rezensentin "hermetisch", und mit Oleschinski begreift sie sie als "latente Energien", die man sich in der "persönlichen Lektüre" erschließt. Die Autorin, Jahrgang 1955, gehöre zu den bedeutenden neuen Stimmen der deutschsprachigen Lyrik, so Overath, und diese Zusammenstellung von Interviews, Aufsätzen und Notizen böten dem Leser die Gelegenheit, "einer komplexen, ja schwierigen Lyrikerin über die Schulter zu sehen, und das in wechselnder Perspektive und manchmal sehr nah".
© Perlentaucher Medien GmbH
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