Im April 2006 traf sich eine Gruppe international geachteter Experten aus dem Gebiet der Handschriften- und Bibliotheksforschung in Trier, um über neue Formen der Erschließung mittelalterlicher Handschriften zu diskutieren.
Die Ergebnisse des Workshops werden im vorliegenden Band publiziert. Die Spannweite der Beiträge reicht von der Beschreibung aktueller Katalogisierungsprojekte in Koblenz, Luxemburg und Trier über die Frage nach der Bedeutung mittelalterlicher Bibliothekskataloge bis hin zu Problemen der Digitalisierung und virtuellen Rekonstruktion dislozierter Bibliotheken. Ein besonderes Augenmerk ist dem Komplex der Förderung aktueller Digitalisierungsprojekte durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gewidmet. Die Tagung fand statt unter dem Dach des "Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums Mainz-Trier" (HKFZ), dessen Generalthema die Erforschung historischer Wissensräume ist.
Die Ergebnisse des Workshops werden im vorliegenden Band publiziert. Die Spannweite der Beiträge reicht von der Beschreibung aktueller Katalogisierungsprojekte in Koblenz, Luxemburg und Trier über die Frage nach der Bedeutung mittelalterlicher Bibliothekskataloge bis hin zu Problemen der Digitalisierung und virtuellen Rekonstruktion dislozierter Bibliotheken. Ein besonderes Augenmerk ist dem Komplex der Förderung aktueller Digitalisierungsprojekte durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gewidmet. Die Tagung fand statt unter dem Dach des "Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums Mainz-Trier" (HKFZ), dessen Generalthema die Erforschung historischer Wissensräume ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2008Kennen Sie die Erotik der verlorenen Bücher?
Digitalisierte Bibliothek: Ein gründlicher Sammelband stellt neue Formen der Analyse und Aufbereitung von Handschriften vor
Als der französische Historiker Marc Bloch 1908/09 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität studierte, machte er die Bekanntschaft mit dem Juristen Heinrich Brunner, der in seinen Arbeiten manches von der erst durch Bloch begründeten Mentalitätsgeschichte vorweggenommen hat. Da Bloch schon nach einem Semester nach Leipzig weiterzog, hatte er zu wenig Zeit für umfassende Mit- oder Abschriften. Zehn Jahre darauf an die Universität Straßburg berufen, suchte er zu seinem Ärger dort vergeblich nach einer wegweisenden Abhandlung Brunners; es musste noch einmal so viel Zeit vergehen, bis er den rechtshistorischen Aufsatz zu Gesicht bekam. Die Reise zum Internationalen Historikertag in Oslo 1928 nahm Bloch zum Anlass, um auf der Rückfahrt in Berlin Station zu machen und die Studie in der Preußischen Staatsbibliothek Unter den Linden einzusehen.
Forschendes Lesen konstituierte von jeher bis in unsere Tage nicht nur einen individuellen Kosmos aus Büchern und Gleichgesinnten, mit denen man kommunizierte, sondern einen Wissensraum als Bewegungsraum. Nirgends waren alle gelehrten Schriften an einem Ort verfügbar, so dass, wer Grenzen des Wissens überschreiten wollte, auch seinen Platz verlassen oder die Reisen anderer nutzen musste. Dies scheint sich in der Gegenwart zu ändern, denn wo das Internet die Verfügbarkeit der Literatur aller Orte verheißt, kann der Forscher zu Hause bleiben - zwischen dem "locus" und dem "universum" verschwindet das "spatium". Kein Wunder, dass deshalb jetzt auch die Bibliothek als Wissensraum zum Problem wird; das 2005 gegründete Historisch-Kulturwissenschaftliche Forschungszentrum der Universitäten Mainz und Trier will sich seiner annehmen.
Nicht alle Projekte, die in einem ersten Sammelband der rheinland-pfälzischen Arbeitsgemeinschaft vorgestellt werden, sind neu oder innovativ. Wie fruchtbar der neue Ansatz aber sein kann, zeigt die Studie von Andrea Rapp und Michael Embach über die Bibliothek der mittelalterlichen Abtei St. Matthias in Trier. Die 412 nachgewiesenen Handschriften sind der Rest von etwa zehn Prozent desjenigen Bestandes, den die französische Konsularregierung bei der Aufhebung des Klosters 1802 inventarisiert hatte; durch Verkäufe und wohl auch Verschleppung sind sie heute auf rund zwei Dutzend öffentliche und private Sammlungen in Europa und darüber hinaus verstreut, so dass nur mit ihrer Volltextdigitalisierung das verlorene Büchermagazin der mittelalterlichen Mönche virtuell wiederhergestellt werden kann.
Noch eindrucksvoller erweist die "Digitalisierung der Trierer Papyri", von der Bärbel Kramer berichtet, den Segen der neuen Techniken. Die Papyrussammlung der Trierer Universitätsbibliothek wurde erst 1982 begründet und umfasst 637 Objekte aus dem dritten vor- und dem sechsten nachchristlichen Jahrhundert, fast ausschließlich in griechischer, koptischer und demotischer Sprache. Durch ein kompliziertes Verfahren wurden die Vor- und Rückseiten der Papyri zwischen 2002 und 2005 schattenfrei eingescannt und ihre Texte wissenschaftlich kommentiert. Orientiert an amerikanischen und deutschen Vorbildern, haben die Trierer Forscherinnen ihre verhältnismäßig bescheidene Sammlung einer internationalen papyrologischen Datenbank zugeführt, so dass ihre Texte fortan "überall verfügbar sind, auch wenn keine Bibliothek in der Nähe ist". Die egalisierende Tendenz der elektronischen Wissensdistribution veranlasst Kramer, die "Papyrologen alter Schule" zu trösten: Zwar werde die Kennerschaft des Spezialisten entwertet, mit der in der Vergangenheit entlegenste mit vielbekannten Zeugnissen zusammengebracht wurden, aber "beim Entziffern, Verstehen, Übersetzen und der wissenschaftlichen Bearbeitung und Interpretation trennt sich dann doch die Spreu vom Weizen".
In der Geschichte der Medien hat der Wechsel der Beschreibstoffe während der Spätantike antizipiert, was sich auch in der Gegenwart vollzieht: Beim Abschreiben der auf Papyrus überlieferten Werke aufs Pergament sind die meisten Texte verlorengegangen, wie es jetzt auch bei der Digitalisierung gedruckter Bücher der Fall sein dürfte. Die mittelalterliche Literatur selbst ist fast ausschließlich auf den Häuten von Kälbern, Schafen und Ziegen, also eben auf Pergament, und nicht mehr in Rollen, sondern in Codices festgehalten worden. In vielen Ländern Europas wird diese Überlieferung durch Handschriftenbeschreibungen erschlossen.
Seit 1960 sind auf diese Weise hierzulande in über zweihundert Katalogen etwa zwei Drittel der 60000 erhaltenen mittelalterlichen Bücher erfasst worden. Wollte man so fortfahren, dann wären für die nächsten zwanzig Jahre vierzig Bearbeiterinnen oder 46 Millionen Euro nötig. Diese Geduld und diese Mittel wollte die Deutsche Forschungsgemeinschaft nicht mehr aufbringen, so dass der unbearbeitete Bestand seit 2001 nur noch in einem "beschleunigten, nutzerfreundlichen und internetfähigen" Verfahren reduzierten wissenschaftlichen Anspruchs dargestellt wird. Die "Tiefenerschließung als besonderes Markenzeichen der DFG-geförderten Projekte" soll künftig nur auf wissenschaftlich besonders interessante Bestände beschränkt bleiben.
Protest gegen die Aufgabe bewährter Standards artikuliert in dem Sammelband ein Ausländer und - wenigstens indirekt - mit Gerhard Powitz ein deutscher Wissenschaftler der älteren Generation: Das neue Verfahren verlange formelhafte Verkürzungen und stehe einer freien, dem Codex in seiner Einzigartigkeit entsprechenden Ausdrucksweise entgegen. Der Segen der EDV könnte deshalb "leicht zum Fluch werden". Wo die Individualität des mittelalterlichen Buches nivelliert wird, kann es auch keine erotische Attraktivität mehr entfalten, die seine Leser früher zu Reisen durch alle Welt animieren mochte.
MICHAEL BORGOLTE
Andrea Rapp, Michael Embach (Hrsg.): "Rekonstruktion und Erschließung mittelalterlicher Bibliotheken". Neue Formen der Handschriftenpräsentation. Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften, Band 1. Akademie Verlag, Berlin 2008. 186 S., geb., 49,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Digitalisierte Bibliothek: Ein gründlicher Sammelband stellt neue Formen der Analyse und Aufbereitung von Handschriften vor
Als der französische Historiker Marc Bloch 1908/09 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität studierte, machte er die Bekanntschaft mit dem Juristen Heinrich Brunner, der in seinen Arbeiten manches von der erst durch Bloch begründeten Mentalitätsgeschichte vorweggenommen hat. Da Bloch schon nach einem Semester nach Leipzig weiterzog, hatte er zu wenig Zeit für umfassende Mit- oder Abschriften. Zehn Jahre darauf an die Universität Straßburg berufen, suchte er zu seinem Ärger dort vergeblich nach einer wegweisenden Abhandlung Brunners; es musste noch einmal so viel Zeit vergehen, bis er den rechtshistorischen Aufsatz zu Gesicht bekam. Die Reise zum Internationalen Historikertag in Oslo 1928 nahm Bloch zum Anlass, um auf der Rückfahrt in Berlin Station zu machen und die Studie in der Preußischen Staatsbibliothek Unter den Linden einzusehen.
Forschendes Lesen konstituierte von jeher bis in unsere Tage nicht nur einen individuellen Kosmos aus Büchern und Gleichgesinnten, mit denen man kommunizierte, sondern einen Wissensraum als Bewegungsraum. Nirgends waren alle gelehrten Schriften an einem Ort verfügbar, so dass, wer Grenzen des Wissens überschreiten wollte, auch seinen Platz verlassen oder die Reisen anderer nutzen musste. Dies scheint sich in der Gegenwart zu ändern, denn wo das Internet die Verfügbarkeit der Literatur aller Orte verheißt, kann der Forscher zu Hause bleiben - zwischen dem "locus" und dem "universum" verschwindet das "spatium". Kein Wunder, dass deshalb jetzt auch die Bibliothek als Wissensraum zum Problem wird; das 2005 gegründete Historisch-Kulturwissenschaftliche Forschungszentrum der Universitäten Mainz und Trier will sich seiner annehmen.
Nicht alle Projekte, die in einem ersten Sammelband der rheinland-pfälzischen Arbeitsgemeinschaft vorgestellt werden, sind neu oder innovativ. Wie fruchtbar der neue Ansatz aber sein kann, zeigt die Studie von Andrea Rapp und Michael Embach über die Bibliothek der mittelalterlichen Abtei St. Matthias in Trier. Die 412 nachgewiesenen Handschriften sind der Rest von etwa zehn Prozent desjenigen Bestandes, den die französische Konsularregierung bei der Aufhebung des Klosters 1802 inventarisiert hatte; durch Verkäufe und wohl auch Verschleppung sind sie heute auf rund zwei Dutzend öffentliche und private Sammlungen in Europa und darüber hinaus verstreut, so dass nur mit ihrer Volltextdigitalisierung das verlorene Büchermagazin der mittelalterlichen Mönche virtuell wiederhergestellt werden kann.
Noch eindrucksvoller erweist die "Digitalisierung der Trierer Papyri", von der Bärbel Kramer berichtet, den Segen der neuen Techniken. Die Papyrussammlung der Trierer Universitätsbibliothek wurde erst 1982 begründet und umfasst 637 Objekte aus dem dritten vor- und dem sechsten nachchristlichen Jahrhundert, fast ausschließlich in griechischer, koptischer und demotischer Sprache. Durch ein kompliziertes Verfahren wurden die Vor- und Rückseiten der Papyri zwischen 2002 und 2005 schattenfrei eingescannt und ihre Texte wissenschaftlich kommentiert. Orientiert an amerikanischen und deutschen Vorbildern, haben die Trierer Forscherinnen ihre verhältnismäßig bescheidene Sammlung einer internationalen papyrologischen Datenbank zugeführt, so dass ihre Texte fortan "überall verfügbar sind, auch wenn keine Bibliothek in der Nähe ist". Die egalisierende Tendenz der elektronischen Wissensdistribution veranlasst Kramer, die "Papyrologen alter Schule" zu trösten: Zwar werde die Kennerschaft des Spezialisten entwertet, mit der in der Vergangenheit entlegenste mit vielbekannten Zeugnissen zusammengebracht wurden, aber "beim Entziffern, Verstehen, Übersetzen und der wissenschaftlichen Bearbeitung und Interpretation trennt sich dann doch die Spreu vom Weizen".
In der Geschichte der Medien hat der Wechsel der Beschreibstoffe während der Spätantike antizipiert, was sich auch in der Gegenwart vollzieht: Beim Abschreiben der auf Papyrus überlieferten Werke aufs Pergament sind die meisten Texte verlorengegangen, wie es jetzt auch bei der Digitalisierung gedruckter Bücher der Fall sein dürfte. Die mittelalterliche Literatur selbst ist fast ausschließlich auf den Häuten von Kälbern, Schafen und Ziegen, also eben auf Pergament, und nicht mehr in Rollen, sondern in Codices festgehalten worden. In vielen Ländern Europas wird diese Überlieferung durch Handschriftenbeschreibungen erschlossen.
Seit 1960 sind auf diese Weise hierzulande in über zweihundert Katalogen etwa zwei Drittel der 60000 erhaltenen mittelalterlichen Bücher erfasst worden. Wollte man so fortfahren, dann wären für die nächsten zwanzig Jahre vierzig Bearbeiterinnen oder 46 Millionen Euro nötig. Diese Geduld und diese Mittel wollte die Deutsche Forschungsgemeinschaft nicht mehr aufbringen, so dass der unbearbeitete Bestand seit 2001 nur noch in einem "beschleunigten, nutzerfreundlichen und internetfähigen" Verfahren reduzierten wissenschaftlichen Anspruchs dargestellt wird. Die "Tiefenerschließung als besonderes Markenzeichen der DFG-geförderten Projekte" soll künftig nur auf wissenschaftlich besonders interessante Bestände beschränkt bleiben.
Protest gegen die Aufgabe bewährter Standards artikuliert in dem Sammelband ein Ausländer und - wenigstens indirekt - mit Gerhard Powitz ein deutscher Wissenschaftler der älteren Generation: Das neue Verfahren verlange formelhafte Verkürzungen und stehe einer freien, dem Codex in seiner Einzigartigkeit entsprechenden Ausdrucksweise entgegen. Der Segen der EDV könnte deshalb "leicht zum Fluch werden". Wo die Individualität des mittelalterlichen Buches nivelliert wird, kann es auch keine erotische Attraktivität mehr entfalten, die seine Leser früher zu Reisen durch alle Welt animieren mochte.
MICHAEL BORGOLTE
Andrea Rapp, Michael Embach (Hrsg.): "Rekonstruktion und Erschließung mittelalterlicher Bibliotheken". Neue Formen der Handschriftenpräsentation. Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften, Band 1. Akademie Verlag, Berlin 2008. 186 S., geb., 49,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Michael Borgolte begrüßt diesen von Andrea Rapp und Michael Embach herausgegebenen Sammelband über "neue Formen der Handschriftenpräsentation". Die Beiträge führen für ihn überzeugend vor Augen, wie nützlich und bedeutend die digitale Aufbereitung von Handschriften sein kann, auch wenn ihm alle Projekte, die dokumentiert werden, wirklich "neu" oder "innovativ" erscheinen. Neben der Studie von Andrea Rapp und Michael Embach über Volltext-Digitalisierung in der Bibliothek der mittelalterlichen Abtei St. Matthias in Trier hebt er Bärbel Kramers Beitrag über die "Digitalisierung der Trierer Papyri" lobend hervor.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein gründlicher Sammelband stellt neue Formen der Analyse und Aufbereitung von Handschriften vor." Michael Borgolte in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Juni 2008 "Im ganzen ist diese Publikation [...] erfreulich und erwünscht, vermag sie doch mit gut präsentierten Forschungsresultaten die Politiker zu überzeugen, dass es sich bei ihrem Gegenstand nicht um 'Haufen altes Papier, das man liest' handelt, [...] sondern um Dokumente unserer Geschichte, die nur in ihren Zusammenhängen verstanden werden können [...]." Martin Germann in: il Bibliotecario, 3/ 2008