Produktdetails
  • Verlag: Mohr Siebeck
  • ISBN-13: 9783161469411
  • Artikelnr.: 23415435
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2000

Vielleicht ist er entzückt, vielleicht ist er bedrückt
Der Glaubende hat viele Gründe, zumal der Protestant: Zum vierten Mal erscheint das Nachschlagewerk "Religion in Geschichte und Gegenwart"

Im September 1908 wurde sie in Tübingen geboren: Die "Religion in Geschichte und Gegenwart", das repräsentative Lexikon des deutschen universitären Protestantismus. Von Anfang an war die "RGG" ein fabelhaftes Zwitterwesen aus dem Reiche der schönen Lau: einem Reich, in dem Widersprüche nicht aufgelöst werden müssen. Denn theologische Standpunkte sollte sie vertreten, um protestantische Professoren und Pfarrer zu inspirieren, aber gleichzeitig wollte sie eine religionswissenschaftliche Enzyklopädie sein, die ohne kirchlichen Standpunkt philologisch und historisch beschrieb und verglich.

Aus Krisensituation und Aufbruchstimmung erwuchs die 1913 abgeschlossene erste Auflage, die dem Werk sein Profil verlieh. Die erste RGG war von der "Religionsgeschichtlichen Schule" dominiert, einer späten Erbin der Aufklärung, die den Ursprung des Christentums aus hellenistischen und orientalischen Religionen ableitet. Daneben kam der traditionelle Kulturprotestantismus zu Wort. Aus diesem Geiste heraus informierte die RGG von Anfang an auch über Literatur, Kunst, Musik, Soziales und Politisches. Gegenüber dieser ersten RGG spiegelte die zweite Auflage von 1927 bis 1932 mit ihren diffuseren Konturen und der Minderung des historischen zugunsten des systematisch-theologischen Anteils die neue politische und kulturelle Lage. So schloss der Artikel "Absolutheit des Christentums" mit einem Hinweis auf die "dialektische Theologie": Diese junge Strömung suchte dem quälenden Problem des Vergleichs der Religionen dadurch zu entkommen, dass sie strikt zwischen der Religion, die nur Menschenwerk sei, und der Offenbarung Gottes in Christus als Krisis aller Religion unterschied.

Auf die Katastrophen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs reagierte die dritte RGG von 1957 bis 1965 mit einer stärkeren Besinnung auf den evangelischen Glauben deutschsprachiger Prägung. Ihn nannte das Vorwort "die ordnende Mitte, von der aus kritisch zu allen Erscheinungsformen des Religiösen Stellung genommen" werden sollte. Jetzt liegen die ersten beiden Bände der völlig neu erarbeiteten vierten Auflage vor. Die Perspektive hat sich gewandelt. Geschichte und Gegenwart des Religiösen sollen diesmal "in Auseinandersetzung mit der evangelischen Mitte des christlichen Glaubens" dargestellt werden. Erster Gesamteindruck: Die neue RGG ist ihrer drei Vorgängerinnen würdig, sie ist mit ihnen verglichen umfangreicher, aktueller, internationaler und ökumenisch offener - manchmal allerdings auch unbestimmter und oberflächlicher.

Fünf Bände hatte die erste RGG, sechs die letzte, und diesmal sind acht Bände geplant (dazu der gewohnte Registerband). Der um ein Drittel gewachsene Umfang wird für neu aufgenommene Stichwörter benötigt. Im Durchschnitt sind die Artikel etwas kürzer geworden. Die RGG nimmt hier eine Mitte ein zwischen dem katholischen "Lexikon für Theologie und Kirche", dessen erster Band (1993) rund 1900 Artikel des Buchstabens A bietet, und der viel ausführlicheren protestantischen "Theologischen Realenzyklopädie", die für ganze 180 Stichwörter auf "A" mehr als vier Bände benötigt (1977 bis 1980).

Augenfälliger noch als die durchweg neu verfassten Texte zu den schon 1957 enthaltenen Lemmata dokumentieren neue Stichwörter die vielfältigen Methoden, Moden und Leitwörter, die seit damals auf- und teils auch wieder abgetaucht sind: zum Beispiel Abschreckung, das Absurde, Andersheit, Androzentrik, Befreiungstheologie, Dekonstruktion oder Diskursethik. Andere Artikel handeln von verstorbenen Persönlichkeiten, die während der letzten Auflage noch lebten: Karl Barth und Rudolf Bultmann zuerst, aber auch Hans Urs von Balthasar, Martin Buber, Yves Congar, Oscar Cullmann. Weiter denn je schweift der kulturelle Blick - manchmal zu weit. So kann man sich fragen, warum Bruno Bettelheim, John Cage oder Duke Ellington in die RGG Eingang gefunden haben, nicht dagegen Carl Andresen, Elias Bickerman oder Babatha, jene Jüdin um 100 nach Christus, deren Familienarchiv am Toten Meer zu den aufschlussreichsten Papyrusfunden der letzten Jahrzehnte zählt.

Die unzähligen Veränderungen des theologischen und religionswissenschaftlichen Forschungsstandes schlagen sich in allen guten Artikeln nieder, ob sie "Alte Kirche" oder "Ägypten" heißen mögen. Wie es scheint, haben in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die historischen Fächer einen erheblichen Zugewinn an lexikalisch verwertbarer Differenziertheit und Tiefenschärfe erzielt. Großer Wandel auch im Kleinen. Der Kurzartikel "Abba" räumt mit dem tausendfach in Predigten und Unterrichtsstunden verbreiteten Märchen auf, diese aramäische Gottesanrede Jesu entspreche dem Kinderwort "Papa" und drücke die einzigartige Gottesbeziehung Jesu aus; es war ein normales Wort für "Vater".

Nur kompetent ausgewählte Literaturhinweise sichern die Aktualität und Brauchbarkeit eines Lexikons. Viele Literaturverzeichnisse der RGG erfüllen ihren Zweck. Zu häufig klaffen aber haarsträubende bibliographische Lücken: Über den katholischen Patristiker Altaner ist keine Sekundärliteratur seit einem Nekrolog von 1964 genannt, dabei ist 1997 eine fünfhundertseitige Biographie erschienen. In dem sonst guten Artikel über den böhmischen Philosophen Bernard Bolzano steht kein Hinweis auf die Gesamtausgabe. Charakteristisch für die vierte RGG und in höchstem Maße respektabel ist ihre Internationalität. Zwei der vier Herausgeber leben in Chicago, dreizehn der siebenunddreißig Fachberater und viele der mehr als tausend Autorinnen und Autoren kommen ebenfalls aus dem anderssprachigen Ausland. Die Mischung wird die dringend notwendige wechselseitige Kenntnisnahme nachhaltig fördern, zumal wohl eine amerikanische Ausgabe geplant ist. Mehr als in allen früheren Auflagen finden sich Artikel über Personen, Institutionen und Begriffe, die nicht aus Deutschland oder nicht einmal aus Europa stammen, vom "Canonical Approach" der Bibelwissenschaft bis zu afrobrasilianischen Kulten. Daran lässt sich aber auch ablesen, in wie getrennten Welten die internationale Wissenschaft inzwischen lebt: Der Großartikel Christentum ist zum Beispiel noch immer weithin auf europäische, oft sogar deutsche Verhältnisse zugeschnitten und erschiene in Amerika fremd, umgekehrt findet man bei Artikeln über Alphabetmystik und Exempla die zu erwartende Information über das christliche Mittelalter fast nur im Spiegel jüdischer Traditionen - der Verfasser ist ein Judaist hebräischer und englischer Sprache.

Die RGG ist ökumenisch offener geworden. Der Fachberater für das Neue Testament ist ein Katholik, und es kann als schönes Zeichen praktizierter Ökumene gelten, dass die Gliederung des zentralen Artikels "Bibelkritik" Spuren eines Dokumentes der Päpstlichen Bibelkommission von 1993 verrät. Aber nicht immer gelingt die Ökumene. Bei wichtigen systematischen Artikeln sind die von katholischer Seite verfassten Abschnitte oft zu kurz oder zu nebulös, um die Differenzen überhaupt erkennen zu lassen, auf die sich ein ernsthafter Dialog beziehen könnte. Dagegen hätte der lange Abschnitt über die Geschichte der Christologie nach dem Ausgang des Mittelalters eigentlich in teutonischer Frakturschrift gesetzt werden müssen, beschränkt er sich doch fast ganz auf protestantische Autoren deutscher Sprache; Teilhard de Chardin, von Balthasar, Schillebeeckx oder Sobrino werden keines Blickes gewürdigt.

Eine Stärke der neuen RGG ist die Vielfalt ihrer Perspektiven. Aber diese Pluralität geht mit einer etwas unverbindlichen Biederkeit vieler thematisch wichtiger Artikel einher. Da wird unter dem Titel "Absolutheitsanspruch des Christentums" ein Spektrum möglicher Theorien angeboten, aber frühere Auflagen verbanden das mit eigener Argumentation, eigenem Entwurf. Bei der Lektüre des hausbackenen systematischen Teils zur Christologie wird sich mancher Leser nicht zum ersten Mal fragen, wie viel anregender und aufregender das Lexikon geworden wäre, wenn Theologen wie John Milbank und Wolfhart Pannenberg oder auch Jan Rohls, Hermann Timm, Gunther Wenz und andere als Autoren gewonnen worden wären. Die spannendsten Fragen werden oft nicht auf den Punkt gebracht. Da formuliert eine Feministin in wünschenswerter Deutlichkeit: "Die feministisch-christliche Bibelkritik stellt die Autorität der Bibel/des Neuen Testaments grundsätzlich in Frage." Nur: Auf welcher Grundlage kann ein evangelisches Christentum beruhen, das die Autorität der Bibel der des Feminismus unterordnet?

Drei Auflagen lang hatte das Werk "Die Religion in Geschichte und Gegenwart" geheißen. In der jetzigen Auflage ist der bestimmte Artikel am Anfang des Titels fortgefallen. Symbolisiert dieser Fortfall des bestimmten Artikels nicht auch einen Verlust an Bestimmtheit im Denken? In der RGG reflektiert sich das heutige Bild eines Protestantismus, der hin und her gerissen ist zwischen der Sehnsucht, das unterscheidend Reformatorische wiederzugewinnen, und dem Streben nach vollständiger Auflösung in der Vielfalt dieser Welt.

Eine tiefgründige Benutzungsanleitung der neuen RGG versteckt sich in dem Artikel "Antike und Christentum". Darin wird unter anderem skizziert, wie die Religionsgeschichtler einst nach der Identität des Christlichen in der religiös pluralen Welt der ersten Jahrhunderte nach Christus fragten. Diese Frage, um 1900 viel diskutiert, ist am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts auf fast unheimliche Weise zeitgenössisch geworden. Denn jetzt leben wir selbst in einer pluralen Welt. Was, so kann man sinnieren, wird fortgefallen sein, wenn es noch einmal eine Auflage dieses trotz aller Schwächen großartigen evangelischen Lexikons geben wird: die Religion? Ihre Geschichte? Oder ihre Gegenwart?

ROLAND KANY

"Religion in Geschichte und Gegenwart". Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Herausgegeben von Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janowski und Eberhard Jüngel. Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage. Band 1: A-B. Band 2: C-E. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 1998/99. LIV. 969/LIX, 926 S., Abb., Subskriptionspreis je Band 398,- DM.

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