Peirce' Religionsphilosophische Schriften dokumentieren eine wissenschaftsmethodisch neue Begründung von Metaphysik und Religionsphilosophie. Die Edition ist chronologisch am Gesamtwerk orientiert und enthält Texte, die erstmals aus dem Nachlasswerk publiziert werden bzw. Haupttexte von Peirce' systematischer Philosophie, erstmals in deutscher Übersetzung, z.B. Kritik des Positivismus (1867/1868); Eine Vermutung über das Rätsel [der Sphinx] (1887/1888); Die Idee eines Naturgesetzes (1901); Ein vernachlässigtes Argument für die Realität Gottes (1908).
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.1996Vermutungen über das Rätsel
Charles S. Peirce versöhnt Pragmatismus und Religion
"Mein einziger Trost ist die Religion. Ich bin ein Theist - nicht ein Heide wie Du", schrieb Charles S. Peirce im Juli 1905 seinem Freund William James, nachdem er zum wiederholten Male mit dem Versuch gescheitert war, die von ihm entwickelte Relationenlogik einer akademischen Öffentlichkeit vorzustellen. Von Krankheit und Armut gezeichnet, von der wissenschaftlichen Debatte ausgeschlossen, vertraut er dem Autor des wenige Jahre zuvor erschienenen Hauptwerks pragmatischer Religionsphilosophie "The Varieties of Religious Experience" nicht nur Selbstmordphantasien, sondern auch seine Glaubenshoffnungen an.
Scharf trennt er seine eigene Religionsphilosophie und den sie begründenden "Pragmatizismus" von der Philosophie des Freundes. Eine Religion unter den von William James dargelegten Voraussetzungen sei "kaum besser als gar keine". Und Peirce ergreift die Gelegenheit, durch die Darlegung semiotischer Grundbegriffe den Gottesglauben gegenüber einem verkürzten Pragmatismus zu verteidigen.
Diese Verbindung von Religiosität und philosophischer Position zeigt sich bei Peirce immer wieder und läßt es nicht zu, seine Reflexionen über die Religion als einen Anwendungsfall oder als einen metaphysischen Anhang von der Logik, Phänomenologie und Semiotik abzuspalten. Das Religionsthema ist ein integraler Bestandteil dieses Werkes, der Gottesbegriff ohne die pragmatische Perspektive zwar leer, die pragmatische Philosophie ohne den Theismus aber blind.
Um diesen Zusammenhang deutlich zu machen, gliedert der Herausgeber die nun auf deutsch vorliegenden, aus dem Nachlaß zusammengestellten "Religionsphilosophischen Schriften" nach dem, was er als drei Hauptphasen des Gesamtwerkes begreift: in frühe metaphysische Versuche (1859-1870), in Texte der durch die Auseinandersetzung um die nominalistische Wissenschaftsauffassung geprägten mittleren Zeit (1870-1900) und in die um die phänomenologisch-kategoriale Formulierung eines Gottesarguments bemühte Spätzeit (1905-1911). Die Sammlung dokumentiert, daß Peirces Theismus nicht als Rückfall des Spätwerkes in die Metaphysik beschrieben werden kann (gegen Karl-Otto Apel) und daß gerade die innovative Phase seiner Philosophie von jener Profanität weit entfernt ist, die ein nachmetaphysisches Denken an Peirce schätzt (gegen Jürgen Habermas).
Die Verflechtung von biographischer Situation, Religionsphilosophie und Pragmatismus wird von dem Herausgeber als so unauflöslich eingeschätzt, daß er eine besondere Begründung für die getroffene Auswahl nicht gibt und daß er einen der aufschlußreichsten Texte von Peirce, den man bisher in deutschen Ausgaben vermißt hat, in diese Sammlung aufnimmt, obwohl er nur am Rande das Religionsproblem thematisiert: "A Guess at the Riddle" ("Eine Vermutung über das Rätsel").
Solche Editionsentscheidungen sind Anzeichen dafür, daß es unter Peirces Arbeiten keine trennscharf bestimmbare Gattung religionsphilosophischer Schriften gibt. Seine Texte zu Religion und Wissenschaft, Schöpfungsglaube und Evolution, Gottesargument und Christentum stellen denn auch keine ausgearbeitete Religionsphilosophie - ein Begriff, den Peirce selbst nicht verwendet - dar, sie sind fragmentarische Arbeiten an religionsphilosophischen Fragestellungen, eingestreut auf allen Etappen seines Denkwegs. Ihr systematischer Charakter ist daher nur erkennbar, wenn man die Folie des Gesamtwerkes zu ihrer Interpretation heranzieht, wofür sowohl der Anmerkungsapparat als auch die vom Herausgeber an anderer Stelle vorgestellte Rekonstruktion (siehe F.A.Z. vom 15. Januar 1995) nützlich sind.
An Peirces Wissenschaftsverständnis fielen immer schon die quasireligiösen Züge auf, die seine Texte zwischen wissenschaftlicher Methodologie und emphatischem Szientismus eigentümlich schillern lassen. Nun wird erkennbar, daß dies von einer "wissenschaftlichen Religionsauffassung" herrührt, womit etwas anderes als Religionswissenschaft gemeint ist. Peirce geht es um Religion, die nur durch das Nadelöhr der Wissenschaft zugänglich wird, freilich einer Wissenschaft, die sich nicht durch ihren jeweiligen Wissensstand, sondern durch methodische Wissenssuche definiert.
Schon für den Neunzehnjährigen ist in diesem Sinne "Wahrheitsliebe" die unerläßliche Bedingung rechter Religionsausübung, der gegenüber alle positiven Glaubensbekenntnisse nachgeordnet bleiben. Der Glaube ist eine Probe der Wahrheitsliebe auf die unterstellte Wahrheit, ein Prozeß, der von der schlechten Metaphysik der Theologen eher gestört wird als von der methodischen Suche des Wissenschaftlers nach Erkenntnis. Der Konflikt zwischen den Ergebnissen der Wissenschaft (damals vor allem der Evolutionstheorie) und den Voraussetzungen des religiösen Glaubens wird von Peirce nicht bestritten, sondern bearbeitet. Freilich immer so, daß die wissenschaftliche Einstellung als Gewinner aus diesem Konflikt hervorgeht.
Ohne den Fallibilismus, also die Überzeugung, daß Hypothesen überprüft und im Falle ihrer Widerlegung aus dem Verkehr gezogen werden müssen, selbstwidersprüchlich als etwas absolut Gewisses auszugeben, charakterisiert Peirce ihn doch als "im wesentlichen unangreifbar". Wenn seine "Konsequenzen der Religion widerstreiten, dann um so schlimmer für die Religion". Wenn sie sich aber nur selbst treu bleibt und vom wissenschaftlichen Geist "im Vertrauen darauf inspirieren läßt, daß alle Eroberungen der Wissenschaft auch Triumphe der Religion sein werden", geht sie immerhin als zweiter Sieger vom Platz.
Der Pragmatismus wird zur Stütze dieses Vertrauens. Denn zum einen bricht er mit der radikalen Skepsis, die den Blick auf die lebensweltlichen Gewißheiten verliert, indem sie an allem zu zweifeln vorgibt und dabei doch nur Gratiszweifel produziert. Zum anderen weist der Pragmatismus in den Zusammenhang von vorausgesetztem Glauben ("belief"), Korrektur durch Erfahrung und erneuter Glaubensbildung ein, an der auch der religiöse Glaube ("faith") partizipiert.
Schließlich entfaltet Peirce den Zusammenhang von Fallibilismus und Kontinuität. Der Fallibilismus korrigiert die wissenschaftliche Überzeugung im Übergang vom Vagen zum Bestimmten und bestätigt damit am Ort des erkennenden Subjektes die kontinuierliche Gerichtetheit des Naturprozesses. Unumkehrbares Wachstum ist daher das ausschlaggebende Argument für die Überwindung des mechanistischen Naturbegriffs: die evolutionäre Variation sei durch die wiederholte Anwendung gleichförmiger Naturgesetze nicht zu erklären. Eine Philosophie der Kontinuität, die Peirce "Synechismus" nennt, entwickelt daher einen Evolutionsbegriff, der mit dem Theismus harmoniert. Liest man in diesem flüssig übersetzten und sorgsam edierten Band, so nimmt man einen Einblick in die Anstrengung Peirces, ein Optimist zu bleiben. MICHAEL MOXTER
Charles Sanders Peirce: "Religionsphilosophische Schriften". Übersetzt unter Mitarbeit von Helmut Maaßen, eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von Hermann Deuser. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1995. 603 S., geb., 148,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Charles S. Peirce versöhnt Pragmatismus und Religion
"Mein einziger Trost ist die Religion. Ich bin ein Theist - nicht ein Heide wie Du", schrieb Charles S. Peirce im Juli 1905 seinem Freund William James, nachdem er zum wiederholten Male mit dem Versuch gescheitert war, die von ihm entwickelte Relationenlogik einer akademischen Öffentlichkeit vorzustellen. Von Krankheit und Armut gezeichnet, von der wissenschaftlichen Debatte ausgeschlossen, vertraut er dem Autor des wenige Jahre zuvor erschienenen Hauptwerks pragmatischer Religionsphilosophie "The Varieties of Religious Experience" nicht nur Selbstmordphantasien, sondern auch seine Glaubenshoffnungen an.
Scharf trennt er seine eigene Religionsphilosophie und den sie begründenden "Pragmatizismus" von der Philosophie des Freundes. Eine Religion unter den von William James dargelegten Voraussetzungen sei "kaum besser als gar keine". Und Peirce ergreift die Gelegenheit, durch die Darlegung semiotischer Grundbegriffe den Gottesglauben gegenüber einem verkürzten Pragmatismus zu verteidigen.
Diese Verbindung von Religiosität und philosophischer Position zeigt sich bei Peirce immer wieder und läßt es nicht zu, seine Reflexionen über die Religion als einen Anwendungsfall oder als einen metaphysischen Anhang von der Logik, Phänomenologie und Semiotik abzuspalten. Das Religionsthema ist ein integraler Bestandteil dieses Werkes, der Gottesbegriff ohne die pragmatische Perspektive zwar leer, die pragmatische Philosophie ohne den Theismus aber blind.
Um diesen Zusammenhang deutlich zu machen, gliedert der Herausgeber die nun auf deutsch vorliegenden, aus dem Nachlaß zusammengestellten "Religionsphilosophischen Schriften" nach dem, was er als drei Hauptphasen des Gesamtwerkes begreift: in frühe metaphysische Versuche (1859-1870), in Texte der durch die Auseinandersetzung um die nominalistische Wissenschaftsauffassung geprägten mittleren Zeit (1870-1900) und in die um die phänomenologisch-kategoriale Formulierung eines Gottesarguments bemühte Spätzeit (1905-1911). Die Sammlung dokumentiert, daß Peirces Theismus nicht als Rückfall des Spätwerkes in die Metaphysik beschrieben werden kann (gegen Karl-Otto Apel) und daß gerade die innovative Phase seiner Philosophie von jener Profanität weit entfernt ist, die ein nachmetaphysisches Denken an Peirce schätzt (gegen Jürgen Habermas).
Die Verflechtung von biographischer Situation, Religionsphilosophie und Pragmatismus wird von dem Herausgeber als so unauflöslich eingeschätzt, daß er eine besondere Begründung für die getroffene Auswahl nicht gibt und daß er einen der aufschlußreichsten Texte von Peirce, den man bisher in deutschen Ausgaben vermißt hat, in diese Sammlung aufnimmt, obwohl er nur am Rande das Religionsproblem thematisiert: "A Guess at the Riddle" ("Eine Vermutung über das Rätsel").
Solche Editionsentscheidungen sind Anzeichen dafür, daß es unter Peirces Arbeiten keine trennscharf bestimmbare Gattung religionsphilosophischer Schriften gibt. Seine Texte zu Religion und Wissenschaft, Schöpfungsglaube und Evolution, Gottesargument und Christentum stellen denn auch keine ausgearbeitete Religionsphilosophie - ein Begriff, den Peirce selbst nicht verwendet - dar, sie sind fragmentarische Arbeiten an religionsphilosophischen Fragestellungen, eingestreut auf allen Etappen seines Denkwegs. Ihr systematischer Charakter ist daher nur erkennbar, wenn man die Folie des Gesamtwerkes zu ihrer Interpretation heranzieht, wofür sowohl der Anmerkungsapparat als auch die vom Herausgeber an anderer Stelle vorgestellte Rekonstruktion (siehe F.A.Z. vom 15. Januar 1995) nützlich sind.
An Peirces Wissenschaftsverständnis fielen immer schon die quasireligiösen Züge auf, die seine Texte zwischen wissenschaftlicher Methodologie und emphatischem Szientismus eigentümlich schillern lassen. Nun wird erkennbar, daß dies von einer "wissenschaftlichen Religionsauffassung" herrührt, womit etwas anderes als Religionswissenschaft gemeint ist. Peirce geht es um Religion, die nur durch das Nadelöhr der Wissenschaft zugänglich wird, freilich einer Wissenschaft, die sich nicht durch ihren jeweiligen Wissensstand, sondern durch methodische Wissenssuche definiert.
Schon für den Neunzehnjährigen ist in diesem Sinne "Wahrheitsliebe" die unerläßliche Bedingung rechter Religionsausübung, der gegenüber alle positiven Glaubensbekenntnisse nachgeordnet bleiben. Der Glaube ist eine Probe der Wahrheitsliebe auf die unterstellte Wahrheit, ein Prozeß, der von der schlechten Metaphysik der Theologen eher gestört wird als von der methodischen Suche des Wissenschaftlers nach Erkenntnis. Der Konflikt zwischen den Ergebnissen der Wissenschaft (damals vor allem der Evolutionstheorie) und den Voraussetzungen des religiösen Glaubens wird von Peirce nicht bestritten, sondern bearbeitet. Freilich immer so, daß die wissenschaftliche Einstellung als Gewinner aus diesem Konflikt hervorgeht.
Ohne den Fallibilismus, also die Überzeugung, daß Hypothesen überprüft und im Falle ihrer Widerlegung aus dem Verkehr gezogen werden müssen, selbstwidersprüchlich als etwas absolut Gewisses auszugeben, charakterisiert Peirce ihn doch als "im wesentlichen unangreifbar". Wenn seine "Konsequenzen der Religion widerstreiten, dann um so schlimmer für die Religion". Wenn sie sich aber nur selbst treu bleibt und vom wissenschaftlichen Geist "im Vertrauen darauf inspirieren läßt, daß alle Eroberungen der Wissenschaft auch Triumphe der Religion sein werden", geht sie immerhin als zweiter Sieger vom Platz.
Der Pragmatismus wird zur Stütze dieses Vertrauens. Denn zum einen bricht er mit der radikalen Skepsis, die den Blick auf die lebensweltlichen Gewißheiten verliert, indem sie an allem zu zweifeln vorgibt und dabei doch nur Gratiszweifel produziert. Zum anderen weist der Pragmatismus in den Zusammenhang von vorausgesetztem Glauben ("belief"), Korrektur durch Erfahrung und erneuter Glaubensbildung ein, an der auch der religiöse Glaube ("faith") partizipiert.
Schließlich entfaltet Peirce den Zusammenhang von Fallibilismus und Kontinuität. Der Fallibilismus korrigiert die wissenschaftliche Überzeugung im Übergang vom Vagen zum Bestimmten und bestätigt damit am Ort des erkennenden Subjektes die kontinuierliche Gerichtetheit des Naturprozesses. Unumkehrbares Wachstum ist daher das ausschlaggebende Argument für die Überwindung des mechanistischen Naturbegriffs: die evolutionäre Variation sei durch die wiederholte Anwendung gleichförmiger Naturgesetze nicht zu erklären. Eine Philosophie der Kontinuität, die Peirce "Synechismus" nennt, entwickelt daher einen Evolutionsbegriff, der mit dem Theismus harmoniert. Liest man in diesem flüssig übersetzten und sorgsam edierten Band, so nimmt man einen Einblick in die Anstrengung Peirces, ein Optimist zu bleiben. MICHAEL MOXTER
Charles Sanders Peirce: "Religionsphilosophische Schriften". Übersetzt unter Mitarbeit von Helmut Maaßen, eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von Hermann Deuser. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1995. 603 S., geb., 148,- DM.
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