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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.1996

Der geteilte Mantel
Anton Legners kundige und umfassende Geschichte des Reliquienkultes

Man nimmt das reich mit Bildern ausgestattete Werk als Rezensent etwas zögernd in die Hand, denn was ließe sich zum Reliquienkult nach dem vortrefflichen Buch von Arnold Angenendt (vergleiche F.A.Z. vom 15. März 1994) über dieses etwas in Mode gekommene Thema noch sagen? Solche Besorgnis erübrigt sich aber bald, läßt man sich auf die Lektüre des Werkes selbst ein, dessen Hauptaspekt der essentielle Zusammenhang zwischen Reliquienkult und Kunst ist. Dabei handelt es sich nicht nur um kostbare goldene oder silberne Behältnisse, also um Reliquiare, Reliquienschreine, Kruzifixe mit Kreuzpartikeln und so weiter, sondern der Verfasser bezieht mit vollem Recht auch die Architektur mit ein, die für die Aufbewahrung von Reliquien geschaffen worden ist. So spannt sich ein weiter Bogen vom Heiltum des mit einem Bettler (Christus) geteilten Kriegsmantels des heiligen Martin von Tours - der "cappa Sancti Martini", die in einem Sakralraum aufbewahrt wurde, den man später "cap(p)ella" nannte - bis zur spätmittelalterlichen Sainte Chapelle in Paris und zur Burg Karlstein westlich von Prag, in der Kaiser Karl IV. nicht nur die Reichskleinodien aufbewahrte, sondern die auch seine ungeheuer große Reliquiensammlung beherbergte: Architektur als kunstvolles Gefäß für die Präsenz der Heiligen,

Anton Legner, ein künstlerisch wie organisatorisch gleichermaßen renommierter Ausstellungsmacher - erinnert sei hier vor allem an seine großartige Parler-Ausstellung mit den kostbaren fünf Katalogbänden von 1978 -, kann in der Interpretation von Kunst für Reliquien wahrlich aus dem vollen schöpfen, alle Register seiner kunsthistorischen Belesenheit ziehen und eine Vielfalt von Aspekten verknüpfen. Dabei geht es im einzelnen um die "Wirkungsmacht" von Reliquien (die übrigens auch den gefälschten eignet!), um Reliquienprozessionen, um die liturgische Darbietung von Reliquien, um Reliquienaltäre und um fürstliche Heiltumskammern, wobei gleichsam im Nebenschluß am "Leitfossil" die Reliquie (wenn man es so drastisch ausdrücken darf) eine sehr konkrete, ja oft festliche Frömmigkeitsgeschichte entstanden ist, die uns einen lebendigen Begriff vom Fühlen und Denken, vom Hoffen und Streben des mittelalterlichen Menschen vermittelt, der in ganz anderer Weise ständig von Not, Hunger, Seuche und Tod bedroht war, als wir es uns vorzustellen vermögen.

Vielleicht bleibt insgesamt - um doch etwas Kritisches anzumerken - das Problem der bewußten Reliquienfälschung etwas unterbelichtet und damit auch der grobschlächtige Mißbrauch besonders des Spätmittelalters, der nicht zufällig die scharfe und allzuoft auch berechtigte Kritik der Reformatoren hervorgerufen hat. Auch ist zu bedenken, daß schon seit der Spätantike orientalische Händler die Sehnsucht nach dem materialisierten Heil der Heiligen massenhaft mit falschen Reliquien zu befriedigen wußten; Brauch und Mißbrauch lagen hier von Anfang an eng beieinander, womit die im Untertitel des Buches apostrophierte "Aufklärung" wohl schon immer parallel zum legitimen Kult lief. Reliquienschwindel war ein Thema, dessen sich dann auch die spätmittelalterliche Schwankliteratur in ergötzlicher Weise bemächtigte.

Ergötzlich ist übrigens auch jener Briefwechsel des 12. Jahrhunderts, den der mit allen Wassern gewaschene Abt und Homo politicus Wibald von Stablo mit einem säumigen Künstler führte, ein Briefwechsel, den Fidel Rädle 1975 publizierte und der sich bei Legner leider nur im umfangreichen Anmerkungsapparat findet. Die Antwort, die der Künstler dem etwas hochnäsigen Abt mit dessen eigenen Argumenten verpaßt, ist interessant und erheiternd zugleich, zeigt sie doch den Goldschmied G. als einen ebenso witzigen wie gebildeten Menschen, den jeder sofort versteht, der einmal im Leben mit Verlegern um Termine und Honorare gestritten hat. Woraus man wiederum getrost schließen kann, daß das Mittelalter trotz Reliquienglaube in vielen Dingen uns auch wieder ganz verständlich und erstaunlich stinknormal gewesen ist. Fazit: ein schönes, interessantes Buch eines profunden Kenners, dem man viele aufgeklärte Leser wünscht. FRIEDRICH PRINZ

Anton Legner: "Reliquien in Kunst und Kult". Zwischen Antike und Aufklärung.

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995. 430 S., zahlr. Abb., geb., 98,- DM.

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