Mit über neunzig vergisst Beryl Dusinbery alles Mögliche, nicht selten sogar die eigenen Kinder. Ihr Verstand ist jedoch so scharf wie eh und je, sehr zum Leidwesen ihrer Pflegerinnen, die von der alten Dame mit spitzen Kommentaren über Anstand und Benimm traktiert werden. Shimi Carmelli dagegen erinnert sich an jede noch so kleine Begebenheit seines Lebens, was ihn mit einem konstanten Schamgefühl erfüllt, das von den Witwen Nordlondons gerne mit Vornehmheit verwechselt wird. Da er zudem in der Lage ist, auch in hohem Alter seine Jacke noch selbst zuzuknöpfen, hat er sich unfreiwillig zum begehrtesten Junggesellen über achtzig entwickelt. Für beide scheint die Zukunft nicht mehr viel bereitzuhalten - ein perfekter Zeitpunkt also, um sich nochmal auf alles einzulassen, was das Leben bietet.
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»Howard Jacobson wurde einmal zugeschrieben, er wäre der 'britische Philip Roth'. Das hat ihm nicht behagt. Er antwortete, viel lieber sei er eine 'jüdische Jane Austen' - was immer er damit gemein haben mag. [...] Und diese Mischung aus galligem britischen Humor, dunkler Satire und funkelndem jüdischen Witz, vor allem auch Wortwitz macht seine Alterskomödie zu einem amüsanten großen Techtelmechtel. [...] Hier findet der Leser keine melancholische Gesellschaft von Alterslemuren mit Plemplem, hier kann er eintauchen in eine frohgemute Gesellschaft, die ihr Leben zu genießen versteht.« Lerke von Saalfeld, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. April 2021 Lerke von Saalfeld FAZ 20210413
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Im neuen Roman des britischen Schriftstellers Howard Jacobson findet Rezensentin Lerke von Saalfeld die Mischung aus "galligem" britischen Witz und "funkelndem" jüdischen Humor wieder, die die KritikerInnen in Jacobsons Trump-Satire so schmerzlich vermissten. Hier aber ist Jacobson ganz in seinem Element, freut sich die Kritikerin, die sich prächtig mit den beiden über neunzig Jahre alten Londonern Beryl und Shimi amüsiert. Zu den beiden kuriosen Alten gesellt sich eine weitere Schar "Glamour-Greisinnen", die sich strenge Regeln fürs Älterwerden auferlegen: Wiederholungen sind beispielsweise nicht gestattet, liest die Rezensentin. Das Buch ist ein farbenfroher "Zirkus" voller Witz, Satire und ohne Altersmüdigkeit, schließt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2021Altern mit Würde? Wozu das denn?
Howard Jacobson wirft in seinem neuen Roman einen quicklebendigen satirischen Blick aufs Greisentum
Vor drei Jahren erschien Howard Jacobsons Satire auf Donald Trump unter dem Titel "Pussy", schon ein Jahr später wurde der Roman ins Deutsche übersetzt. Die Kritik war gespannt, denn der britische Autor ist geschätzt als bissiger, geistreicher Meister der Ironie. Und die Kritik war enttäuscht bis empört über diese in ein Märchen gehüllte misslungene Entlarvung des damaligen amerikanischen Präsidenten. Es fehle der Witz, es fehle die Enthüllung, nur allzu Bekanntes werde langweilig ausgebreitet. Der Schriftsteller rechtfertigte sich, er habe das Buch unmittelbar nach Trumps Wahl geschrieben, weil er davon ausgegangen sei, der neue Präsident würde keine hundert Tage politisch überleben. Eile sei geboten gewesen, deshalb der "Schnellschuss".
Mit dem nächsten Roman hat der 1942 geborene Jacobson sich nun wieder auf vertrauteres Terrain begeben: "Rendezvous und andere Alterserscheinungen" heißt er, ins Visier nimmt er die alternde Gesellschaft im Norden Londons, die dort ein mehr als bizarres Leben führt. Die Hauptfiguren sind Beryl Dusinbery, neunzig Jahre alt, die sich gerne als "Prinzessin" tituliert, und Shimi Carmelli, 99 Jahre alt, der als eleganter Hagestolz durch die Welt der Witwen flaniert, sich aber von keiner einfangen lässt. Shimi beglückt die Damenwelt mit Kartenlegen und bastelt mit Begeisterung an phrenologischen Büsten. Er ist ein passionierter Einzelgänger, der allerdings immer wieder Aufmerksamkeit erheischt. Als ihn im Park eine alte Dame für den russischen Pianisten Horowitz hält, obwohl der bereits 1989 starb, und sich selig an dessen begnadete Interpretation von Schumanns "Kinderszenen" in der Royal Festival Hall erinnert, verdrückt Shimi sich konsterniert in die Büsche. Seinen Bruder Ephraim, den er immer als Rivalen empfand, hat er seit der Jugend nicht mehr gesehen, erst zur Beerdigung wagt er sich wieder herbei und lernt bei dieser Gelegenheit Beryl Dusinbery kennen.
Beryl ist umgeben von einem Hofstaat aus zwei Betreuerinnen: der Afrikanerin Euphoria und der aus Moldawien stammenden Nastya, die sich beide leidenschaftlich um die Gunst ihrer Herrin streiten. Im Park schießt sie mit ihrer auffälligen Erscheinung den Vogel ab: "Die Prinzessin ist wie ein Wintervogel extravagant gegen die Kälte ausstaffiert. Auf dem Kopf sitzt ihr ein burgunderroter Schal aus Velours in jenem Stil zu einem Turban drapiert, den Edith Sitwell bevorzugte, und ihre Schultern sind in ein voluminöses mit ägyptischen Hieroglyphen besticktes Tuch gehüllt, wie Kleopatra es in Rom getragen hat." Eine andere alte Dame, die Witwe Wanda Wolfsheim, präsentiert mit Vergnügen die umwerfende Schönheit ihrer Beine, keiner darf sie missachten. Auch Wanda gehört zu den Glamour-Greisinnen. "Sie wird bis zum Ende weitermachen, neue Kleider kaufen, einmal pro Woche ihrem Friseur einen Besuch abstatten, sich einen Personal Trainer leisten, um biegsam und kräftig zu bleiben, sich die gelegentlichen Anzeichen von Müdigkeit in ihrem Gesicht ausbügeln lassen und Wohltätigkeitsveranstaltungen vorsitzen, auch wenn sie sich mittlerweile nicht mehr erinnern kann, wofür die Initialen dieser oder jener Gruppe jetzt noch genau standen."
Jacobson zeichnet keine vertrocknete Welt der Altersödigkeit, bei ihm geht es manchmal bunt und quirlig wie in einem Zirkus zu, mit Satire und Witz beschreibt er eine fidele Gesellschaft, die voller Esprit ihr Alter Lügen straft. Die Damen erinnern sich ihrer Vergangenheit, wenn es ihnen gerade passt, und sie vergessen, wenn es angebracht oder schicklich ist. Shimi und Beryl, die sich immer näher kommen, stellen Lebensregeln auf. Die Regel Nr. 3 lautet: "Vergesslichkeit hin oder her: Wiederholungen werden nicht toleriert. Selbst ein nachlassendes Gehirn kann darauf gedrillt werden zu erkennen, dass der gerade im Entstehen begriffene Satz nur einen Augenblick zuvor bereits in identischer Form artikuliert worden ist. Zwar sollte allenthalben Nachsicht obwalten, aber es darf auch keine der beiden Seiten dazu genötigt werden, sich langweilen zu müssen."
Shimi trägt einen unausrottbaren Makel mit sich, über den er nur gequält sprechen kann. Als Kind hat er sich in die Unterwäsche seiner Mutter verguckt und sie heimlich getragen. Dabei war das Vergnügen durchaus ambivalent. Seiner Mutter wirft er vor: "Deine Liebestöter deprimieren mich, Ma. Ich hatte mir ein Kleidungsstück von überragender Kostbarkeit erhofft, fand stattdessen ein wertloses, unfassbar hässliches Teil aus billigem Stoff, die Spitze ausgeleiert und verfärbt."
Howard Jacobson wurde einmal zugeschrieben, er wäre der "britische Philip Roth". Das hat ihm nicht behagt. Er antwortete, viel lieber sei er eine "jüdische Jane Austen" - was immer er damit gemeint haben mag. Auf eines legt er jedenfalls Wert: "Meine Sprache hat jüdische Untertöne." Und diese Mischung aus galligem britischen Humor, dunkler Satire und funkelndem jüdischen Witz, vor allem auch Wortwitz macht seine Alterskomödie zu einem amüsanten großen Techtelmechtel, durch das die alten Damen wie Primadonnen spazieren und die wenigen Männer meist Mistkerle und Feiglinge sind. Hier findet der Leser keine melancholische Gesellschaft von Alterslemuren mit Plemplem, hier kann er eintauchen in eine frohgemute Gesellschaft, die ihr Leben zu genießen versteht.
LERKE VON SAALFELD
Howard Jacobson:
"Rendezvous und andere
Alterserscheinungen".
Roman.
Aus dem Englischen von
Johann Christoph Maass. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 400 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Howard Jacobson wirft in seinem neuen Roman einen quicklebendigen satirischen Blick aufs Greisentum
Vor drei Jahren erschien Howard Jacobsons Satire auf Donald Trump unter dem Titel "Pussy", schon ein Jahr später wurde der Roman ins Deutsche übersetzt. Die Kritik war gespannt, denn der britische Autor ist geschätzt als bissiger, geistreicher Meister der Ironie. Und die Kritik war enttäuscht bis empört über diese in ein Märchen gehüllte misslungene Entlarvung des damaligen amerikanischen Präsidenten. Es fehle der Witz, es fehle die Enthüllung, nur allzu Bekanntes werde langweilig ausgebreitet. Der Schriftsteller rechtfertigte sich, er habe das Buch unmittelbar nach Trumps Wahl geschrieben, weil er davon ausgegangen sei, der neue Präsident würde keine hundert Tage politisch überleben. Eile sei geboten gewesen, deshalb der "Schnellschuss".
Mit dem nächsten Roman hat der 1942 geborene Jacobson sich nun wieder auf vertrauteres Terrain begeben: "Rendezvous und andere Alterserscheinungen" heißt er, ins Visier nimmt er die alternde Gesellschaft im Norden Londons, die dort ein mehr als bizarres Leben führt. Die Hauptfiguren sind Beryl Dusinbery, neunzig Jahre alt, die sich gerne als "Prinzessin" tituliert, und Shimi Carmelli, 99 Jahre alt, der als eleganter Hagestolz durch die Welt der Witwen flaniert, sich aber von keiner einfangen lässt. Shimi beglückt die Damenwelt mit Kartenlegen und bastelt mit Begeisterung an phrenologischen Büsten. Er ist ein passionierter Einzelgänger, der allerdings immer wieder Aufmerksamkeit erheischt. Als ihn im Park eine alte Dame für den russischen Pianisten Horowitz hält, obwohl der bereits 1989 starb, und sich selig an dessen begnadete Interpretation von Schumanns "Kinderszenen" in der Royal Festival Hall erinnert, verdrückt Shimi sich konsterniert in die Büsche. Seinen Bruder Ephraim, den er immer als Rivalen empfand, hat er seit der Jugend nicht mehr gesehen, erst zur Beerdigung wagt er sich wieder herbei und lernt bei dieser Gelegenheit Beryl Dusinbery kennen.
Beryl ist umgeben von einem Hofstaat aus zwei Betreuerinnen: der Afrikanerin Euphoria und der aus Moldawien stammenden Nastya, die sich beide leidenschaftlich um die Gunst ihrer Herrin streiten. Im Park schießt sie mit ihrer auffälligen Erscheinung den Vogel ab: "Die Prinzessin ist wie ein Wintervogel extravagant gegen die Kälte ausstaffiert. Auf dem Kopf sitzt ihr ein burgunderroter Schal aus Velours in jenem Stil zu einem Turban drapiert, den Edith Sitwell bevorzugte, und ihre Schultern sind in ein voluminöses mit ägyptischen Hieroglyphen besticktes Tuch gehüllt, wie Kleopatra es in Rom getragen hat." Eine andere alte Dame, die Witwe Wanda Wolfsheim, präsentiert mit Vergnügen die umwerfende Schönheit ihrer Beine, keiner darf sie missachten. Auch Wanda gehört zu den Glamour-Greisinnen. "Sie wird bis zum Ende weitermachen, neue Kleider kaufen, einmal pro Woche ihrem Friseur einen Besuch abstatten, sich einen Personal Trainer leisten, um biegsam und kräftig zu bleiben, sich die gelegentlichen Anzeichen von Müdigkeit in ihrem Gesicht ausbügeln lassen und Wohltätigkeitsveranstaltungen vorsitzen, auch wenn sie sich mittlerweile nicht mehr erinnern kann, wofür die Initialen dieser oder jener Gruppe jetzt noch genau standen."
Jacobson zeichnet keine vertrocknete Welt der Altersödigkeit, bei ihm geht es manchmal bunt und quirlig wie in einem Zirkus zu, mit Satire und Witz beschreibt er eine fidele Gesellschaft, die voller Esprit ihr Alter Lügen straft. Die Damen erinnern sich ihrer Vergangenheit, wenn es ihnen gerade passt, und sie vergessen, wenn es angebracht oder schicklich ist. Shimi und Beryl, die sich immer näher kommen, stellen Lebensregeln auf. Die Regel Nr. 3 lautet: "Vergesslichkeit hin oder her: Wiederholungen werden nicht toleriert. Selbst ein nachlassendes Gehirn kann darauf gedrillt werden zu erkennen, dass der gerade im Entstehen begriffene Satz nur einen Augenblick zuvor bereits in identischer Form artikuliert worden ist. Zwar sollte allenthalben Nachsicht obwalten, aber es darf auch keine der beiden Seiten dazu genötigt werden, sich langweilen zu müssen."
Shimi trägt einen unausrottbaren Makel mit sich, über den er nur gequält sprechen kann. Als Kind hat er sich in die Unterwäsche seiner Mutter verguckt und sie heimlich getragen. Dabei war das Vergnügen durchaus ambivalent. Seiner Mutter wirft er vor: "Deine Liebestöter deprimieren mich, Ma. Ich hatte mir ein Kleidungsstück von überragender Kostbarkeit erhofft, fand stattdessen ein wertloses, unfassbar hässliches Teil aus billigem Stoff, die Spitze ausgeleiert und verfärbt."
Howard Jacobson wurde einmal zugeschrieben, er wäre der "britische Philip Roth". Das hat ihm nicht behagt. Er antwortete, viel lieber sei er eine "jüdische Jane Austen" - was immer er damit gemeint haben mag. Auf eines legt er jedenfalls Wert: "Meine Sprache hat jüdische Untertöne." Und diese Mischung aus galligem britischen Humor, dunkler Satire und funkelndem jüdischen Witz, vor allem auch Wortwitz macht seine Alterskomödie zu einem amüsanten großen Techtelmechtel, durch das die alten Damen wie Primadonnen spazieren und die wenigen Männer meist Mistkerle und Feiglinge sind. Hier findet der Leser keine melancholische Gesellschaft von Alterslemuren mit Plemplem, hier kann er eintauchen in eine frohgemute Gesellschaft, die ihr Leben zu genießen versteht.
LERKE VON SAALFELD
Howard Jacobson:
"Rendezvous und andere
Alterserscheinungen".
Roman.
Aus dem Englischen von
Johann Christoph Maass. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 400 S., geb., 24,- [Euro].
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