Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie beleuchtet das Verhältnis Algerien/Frankreich/Deutschland aus verschiedenen Perspektiven und mit teils persönlichen Begegnungen und Erlebnissen in Algerien. Dadurch gelingt es dem Autor, einen hohen Spannungsbogen zu halten und Zahlen und Fakten en passent zu vermitteln. Behandelte Themenkomplexe sind u.a. die "Kofferträger", die Kolonialzeit, aber auch zeitgenössische algerische Kunst, die sich mit dem Spannungsfeld beschäftigt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2022Die Kofferträger wollten verstanden sein
Claus Leggewie blickt zurück auf die Bedeutung Algeriens für seine intellektuelle Biographie
Im Anfang war oft Algerien. Pierre Bourdieus soziologische Forschung wurzelt in algerischen Erfahrungen, ebenso die philosophische Denkbewegung Jacques Derridas, die literarische Produktion Albert Camus' und die Gewalttheorie eines Frantz Fanon. Über allem schwebt die koloniale Konstellation.
Die im zwanzigsten Jahrhundert in Algerien explodierende Kolonialgewalt entspringt der mit dem Jahr 1830 einsetzenden französischen Landnahme am Südufer des Mittelmeeres. Alexis de Tocqueville reflektierte die daraus hervorgehende Konstellation: Im Mutterland gilt das allgemeine Gesetz, in der Kolonie herrscht unmittelbare, unverhüllte Gewalt. General Thomas Robert Bugeaud exekutierte sie in exemplarischer Grausamkeit an den muslimischen Algeriern. Diese ursprüngliche Gewalt hat sich tief in die Erinnerungskultur des Landes eingeschrieben.
Auch moderne französische Judenfeindschaft hat in der kolonialen Konstellation Algeriens einen ihrer Ursprünge. Einen wesentlichen Treiber hatte die Dreyfus-Affäre in Algier. Édouard Drumont, Autor des Katechismus des französischen Antisemitismus, "La France Juive", und Oberhaupt der Anti-Dreyfusards, wurde zur Jahrhundertwende als Vertreter Algiers in die Nationalversammlung zu Paris gewählt. Seine antijüdische Agitation befeuerte in der Weißen Stadt Pogrome europäischer Siedler an den erst knapp eine Generation zuvor zu Franzosen erklärten algerischen Juden. Mitte der Dreißigerjahre verübten Muslime in Constantine an den ihnen gegenüber rechtlich privilegierten Juden ein Pogrom.
Anlässlich der sechzigsten Wiederkehr der 1962 blutig errungenen algerischen Unabhängigkeit hat Claus Leggewie ein Buch über die algerische Konstellation vorgelegt. Es ist aus zum Teil bereits erschienenen, für die vorliegende Publikation überarbeiteten Beiträgen komponiert. Genau besehen handelt es sich um die Präsentation einer an Algerien ausgerichteten Bildungsgeschichte des Autors, verbunden mit selbstkritischen Reflexionen - eine Art biographischer Archäologie.
So legt Leggewie einleitend dar, dass Algerien von früh an in ihm ein letztendlich unerklärliches, ein Leben lang andauerndes Interesse geweckt habe. Immer wieder hat er das Land bereist und dabei seine politische Neugierde mit akademischen Vorhaben verknüpft, die er, seiner journalistischen Ader folgend, immer auch als zeitgeistige Intervention verstand. Er gehört zwar nicht zur Generation jener, die die Zeit des blutigen Unabhängigkeitskrieges bewusst erleben konnten. Gleichwohl weckten die ehemals aktiven Netzwerke der Unterstützer des algerischen Befreiungskampf, vor allem die Deutschen unter den sogenannten "Kofferträgern", seinen Forschungstrieb. Und warfen so die an sich selbst gestellte Frage auf, was ihn, den jungen Bundesrepublikaner, dazu veranlasst haben könnte, sich den algerischen Fragen derart intensiv zu widmen.
Die Antwort mag sich aus den Texten ergeben, die einen Bogen von den Ursprüngen der Kolonialgeschichte bis zur jugendlichen Hirak-Bewegung der jüngsten Vergangenheit schlagen und dabei so unterschiedliche Themen wie Entwicklungspolitik und algerischen Rap behandeln. Die Frage von Reparationen steht - anders, als der Titel vermuten lässt - dabei nicht im Zentrum und wird nur ganz am Ende nachgetragen. Hingegen ist die Rede vom "Dreieck der Erinnerung" schon einschlägiger. Vor allem dann, wenn es sich dabei nicht um die algerisch-französisch-deutsche Konstellation zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges, sondern um eine etwas weiter zurückliegende Vergangenheit handelt, die sich eher im Verborgenen auswirkt.
Für sie können jene Texte stehen, die an den Barbie-Prozess 1983 in Lyon anknüpfen, bei dem die Verteidigung unter Jacques Vergès französische Kolonialverbrechen, vornehmlich in Algerien begangen, den nationalsozialistischen Verbrechen gegenüberstellte. Dabei präsentiert Claus Leggewie nicht nur das damals von ihm mit Vergès geführte Interview, in dem dieser die NS-Verbrechen kleinredet, um den Kolonialverbrechen negativen Vorrang zu gewährleisten: Er unternimmt anhand des Lyoner Prozesses einen Vergleich von Kollektivverbrechen, um ihr unterschiedliches kriminelles Gewebe sichtbar zu machen - eine Praxis, die im Zuge einer mittlerweile eingetretenen postkolonialen Weichspülung verloren gegangen ist.
Dass der Altnazi François Genoud, der damals die Kriegskasse der algerischen Nationalen Befreiungsfront verwaltete, Vergès freundschaftlich verbunden war und für dessen anwaltliche Vergütung nicht nur im Barbie-Prozess aufkam, verweist über das Anekdotische hinaus auf Abgründe, denen durchaus strukturelle Bedeutung zukommt. So in den Affinitäten der Erinnerungen jener, die unter dem Joch von westlichen Kolonialmächten lebten, und von jenen, die ihnen im Namen der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg Avancen machten. Diese Affinitäten mögen sich auf den ersten Blick der Wahrnehmung entziehen, als Spurenelemente der Vergangenheit üben sie gleichwohl weiter Wirkung aus - auch in dem von Claus Leggewie evozierten, aus Algerien, Frankreich und Deutschland gebildeten Gedächtnisdreieck. DAN DINER
Claus Leggewie: "Reparationen". Im Dreieck Algerien, Frankreich, Deutschland.
Donata Kinzelbach Verlag, Mainz 2022. 352 S., br., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Claus Leggewie blickt zurück auf die Bedeutung Algeriens für seine intellektuelle Biographie
Im Anfang war oft Algerien. Pierre Bourdieus soziologische Forschung wurzelt in algerischen Erfahrungen, ebenso die philosophische Denkbewegung Jacques Derridas, die literarische Produktion Albert Camus' und die Gewalttheorie eines Frantz Fanon. Über allem schwebt die koloniale Konstellation.
Die im zwanzigsten Jahrhundert in Algerien explodierende Kolonialgewalt entspringt der mit dem Jahr 1830 einsetzenden französischen Landnahme am Südufer des Mittelmeeres. Alexis de Tocqueville reflektierte die daraus hervorgehende Konstellation: Im Mutterland gilt das allgemeine Gesetz, in der Kolonie herrscht unmittelbare, unverhüllte Gewalt. General Thomas Robert Bugeaud exekutierte sie in exemplarischer Grausamkeit an den muslimischen Algeriern. Diese ursprüngliche Gewalt hat sich tief in die Erinnerungskultur des Landes eingeschrieben.
Auch moderne französische Judenfeindschaft hat in der kolonialen Konstellation Algeriens einen ihrer Ursprünge. Einen wesentlichen Treiber hatte die Dreyfus-Affäre in Algier. Édouard Drumont, Autor des Katechismus des französischen Antisemitismus, "La France Juive", und Oberhaupt der Anti-Dreyfusards, wurde zur Jahrhundertwende als Vertreter Algiers in die Nationalversammlung zu Paris gewählt. Seine antijüdische Agitation befeuerte in der Weißen Stadt Pogrome europäischer Siedler an den erst knapp eine Generation zuvor zu Franzosen erklärten algerischen Juden. Mitte der Dreißigerjahre verübten Muslime in Constantine an den ihnen gegenüber rechtlich privilegierten Juden ein Pogrom.
Anlässlich der sechzigsten Wiederkehr der 1962 blutig errungenen algerischen Unabhängigkeit hat Claus Leggewie ein Buch über die algerische Konstellation vorgelegt. Es ist aus zum Teil bereits erschienenen, für die vorliegende Publikation überarbeiteten Beiträgen komponiert. Genau besehen handelt es sich um die Präsentation einer an Algerien ausgerichteten Bildungsgeschichte des Autors, verbunden mit selbstkritischen Reflexionen - eine Art biographischer Archäologie.
So legt Leggewie einleitend dar, dass Algerien von früh an in ihm ein letztendlich unerklärliches, ein Leben lang andauerndes Interesse geweckt habe. Immer wieder hat er das Land bereist und dabei seine politische Neugierde mit akademischen Vorhaben verknüpft, die er, seiner journalistischen Ader folgend, immer auch als zeitgeistige Intervention verstand. Er gehört zwar nicht zur Generation jener, die die Zeit des blutigen Unabhängigkeitskrieges bewusst erleben konnten. Gleichwohl weckten die ehemals aktiven Netzwerke der Unterstützer des algerischen Befreiungskampf, vor allem die Deutschen unter den sogenannten "Kofferträgern", seinen Forschungstrieb. Und warfen so die an sich selbst gestellte Frage auf, was ihn, den jungen Bundesrepublikaner, dazu veranlasst haben könnte, sich den algerischen Fragen derart intensiv zu widmen.
Die Antwort mag sich aus den Texten ergeben, die einen Bogen von den Ursprüngen der Kolonialgeschichte bis zur jugendlichen Hirak-Bewegung der jüngsten Vergangenheit schlagen und dabei so unterschiedliche Themen wie Entwicklungspolitik und algerischen Rap behandeln. Die Frage von Reparationen steht - anders, als der Titel vermuten lässt - dabei nicht im Zentrum und wird nur ganz am Ende nachgetragen. Hingegen ist die Rede vom "Dreieck der Erinnerung" schon einschlägiger. Vor allem dann, wenn es sich dabei nicht um die algerisch-französisch-deutsche Konstellation zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges, sondern um eine etwas weiter zurückliegende Vergangenheit handelt, die sich eher im Verborgenen auswirkt.
Für sie können jene Texte stehen, die an den Barbie-Prozess 1983 in Lyon anknüpfen, bei dem die Verteidigung unter Jacques Vergès französische Kolonialverbrechen, vornehmlich in Algerien begangen, den nationalsozialistischen Verbrechen gegenüberstellte. Dabei präsentiert Claus Leggewie nicht nur das damals von ihm mit Vergès geführte Interview, in dem dieser die NS-Verbrechen kleinredet, um den Kolonialverbrechen negativen Vorrang zu gewährleisten: Er unternimmt anhand des Lyoner Prozesses einen Vergleich von Kollektivverbrechen, um ihr unterschiedliches kriminelles Gewebe sichtbar zu machen - eine Praxis, die im Zuge einer mittlerweile eingetretenen postkolonialen Weichspülung verloren gegangen ist.
Dass der Altnazi François Genoud, der damals die Kriegskasse der algerischen Nationalen Befreiungsfront verwaltete, Vergès freundschaftlich verbunden war und für dessen anwaltliche Vergütung nicht nur im Barbie-Prozess aufkam, verweist über das Anekdotische hinaus auf Abgründe, denen durchaus strukturelle Bedeutung zukommt. So in den Affinitäten der Erinnerungen jener, die unter dem Joch von westlichen Kolonialmächten lebten, und von jenen, die ihnen im Namen der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg Avancen machten. Diese Affinitäten mögen sich auf den ersten Blick der Wahrnehmung entziehen, als Spurenelemente der Vergangenheit üben sie gleichwohl weiter Wirkung aus - auch in dem von Claus Leggewie evozierten, aus Algerien, Frankreich und Deutschland gebildeten Gedächtnisdreieck. DAN DINER
Claus Leggewie: "Reparationen". Im Dreieck Algerien, Frankreich, Deutschland.
Donata Kinzelbach Verlag, Mainz 2022. 352 S., br., 26,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Historiker Dan Diner bleibt in seiner Besprechung von Claus Leggewies Algerien-Band zurückhaltend im Urteil. Deutlich macht er, welche Bedeutung Algeriens Kolonialgeschichte für das französische Denken hatte (bei Fanon, Bourdieu, Derrida) und somit auch in der intellektuellen Biografie des frankophilen Leggewie. Bei den hier versammelten Texte handelt es sich um bereits publizierte Arbeiten zu verschiedenen Themen von der Entwicklungspolitik bis zum algerischen Rap. Von "Reparationen" ist allerdings kaum die rede, warnt er vor. Am meisten scheint Diner zu interessieren, was Leggewie zum Prozess gegen den NS-Verbrecher Klaus Barbie 1983 in Lyon zusammenträgt, etwa ein Interview mit dessen berüchtigtem Verteidiger Jacques Vergès, wodurch auch erkennbar werde, welch unappetitlichen Verbindungen es von alten Nazis und ewigen Antisemiten zu den Kämpfern der algerischen FLN gegeben hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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