Als Ed Rosen in der Morgendämmerung erwacht und mit den Zehen wackelt, steht eines fest: der Huf, der am Fußende aus seinem Bett ragt, ist auf keinen Fall seiner. Aber da. Wie soll er sich das erklären? Rosen, ein Software-Experte, war Mitentwickler und erster Träger des UniCom, eines Kommunikationsmittels, das als Implantat weit mehr kann als ein Smartphone - es protokolliert die Sinneswahrnehmungen seines Besitzers und macht das, was wir Realität nennen, in "Replays" unendlich wiederhol- und veränderbar: vor allem eine erotische Verlockung. Und es macht den Träger total kontrollierbar. Rosens Chef Matana und seine Firma treten einen weltweiten Siegeszug mit diesem Gerät an und nur ein paar ewiggestrige Störenfriede mahnen. Bis sich unerwartet Widerstand gegen das digitale Arkadien regt, der vielleicht auch den Huf erklärt?
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
"Unangenehm plausibel" findet Judith von Sternburg diesen Science-Fiction-Stoff über eine nahe Zukunft, in der Daten via Implantat direkt ins Gehirn der Menschen transportiert werden und damit zugleich ein "Erinnerungsarchiv" aufgebaut wird, den sich der in fantastischen Dingen ohnehin bewanderte Benjamin Stein da ausgedacht hat. Klug findet es die Rezensentin, dass Stein diese "logische Weiterentwicklung" von George Orwells "1984" vermittels einer "Anpirschtechnik" aus Perspektive des Implantaterfinders erzählt, bedauerlich findet sie es indessen, dass der zwar dünne, an Ideen aber reich gefüllte Band nicht alles angemessen behandle, was der Autor thematisch oft nur anreiße, sowie dass die Schilderung der künstlichen Welten der Erinnerungsarchive bald überhand nehme. Erfreut nimmt sie aber zur Kenntnis, wie Stein alte Topoi mit neuen Ideen vermähle und attestiert ihm abschließend anerkennend, Nachfolger des Prager Schriftstellers Leo Perutz und seiner düster-phantastischen Seelenerkundungen zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2012Ab sofort kann jeder Augenblick verweilen
Willkommen im Paralleluniversum von "Replay": Benjamin Stein entwirft in seinem neuen Roman eine faszinierende Welt endloser Erinnerung. Es ist eine Science-fiction aus der Perspektive der Mächtigen.
Wie könnte unsere Welt in Zukunft aussehen? Diese Frage beschäftigt die Literatur seit der Antike. Bereits Aristoteles hielt in seiner Poetik fest, "dass es nicht Aufgabe des Dichters ist, mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte". Seither reißt die Flut literarischer Utopien nicht ab. Jetzt stellt sich Benjamin Steins Roman "Replay" dieser Herausforderung.
Herausgekommen ist ein großartiges Buch - klug, glänzend erzählt, spannend. Das Zukunftspotential macht Stein in unserer optischen Wahrnehmung und im Gedankengut des radikalen Konstruktivismus aus: Die Welt konstituiert sich dadurch, wie wir sie betrachten. Würden plötzlich alle Menschen mit anderen Augen auf sie blicken, käme dies einer Revolution gleich. In neuen Wahrnehmungsformen also liegt die Zukunft, und zwar dann, wenn man sie mit Informationstechnik kurzschließt.
Dieser Einfall liegt nicht nur nahe, weil die digitale Revolution in aller Munde ist, sondern auch, weil Benjamin Stein ein Fachmann auf diesem Gebiet ist: Der Autor arbeitet als Redakteur diverser Computerzeitschriften und als Unternehmensberater für Informationstechnologie. In der Zukunft von "Replay" tragen die Menschen ein Implantat, das ihre Erlebnisse aufzeichnet und auf einer externen Datenbank speichert. Umgekehrt erlaubt das sogenannte "UniCom", Daten in Form von Bildern, Texten oder Filmen vor dem inneren Auge abzurufen: "Man konnte lesen, mit geschlossenen Augen. Man konnte Musik hören ohne Kopfhörer oder Lautsprecher. Man konnte die Nachrichten verfolgen in Bild und Ton . . . und natürlich konnte man sich in die lebendige audiovisuelle Wahrnehmung eines Augenblicks zurückversetzen, den man selbst zuvor aufgezeichnet hatte."
UniCom-Träger können zu jedem beliebigen Augenblick sagen: "Verweile doch! Du bist so schön!" Sie rufen ein "Replay" auf und durchleben den Moment mit allen Emotionen erneut. Sie können ihre Erinnerungsbilder nachträglich bearbeiten und, sobald mehrere das Implantat tragen, die Situationen anderer durchleben. Und da in Steins Welt siebzig Prozent der Amerikaner über ein UniCom verfügen, wachsen sich die "Replays" zu einem Paralleluniversum aus, durch das man wie auf einer endlosen Welle "driften" kann. Der Einstieg in das fremde Bewusstsein gehört zum allgemeinen Lebensstil. Allein schon diese Idee fasziniert. Man will fast hoffen, dass der Autor sich seine Erfindung samt den Begriffen wie "UniCom" "Replay", "Driften" hat patentieren lassen. Die neue Technologie zieht enorme Konsequenzen nach sich. Der Einzelne vergisst nichts mehr, alles ist speicher- und abrufbar. Alle Personen sind transparent. Verdächtig ist, wer sein Bewusstsein der Allgemeinheit entzieht und sich dem "Fortschritt" verweigert. Die gläserne Welt birgt die Gefahr des Totalitarismus. Da die "United Communications Corporation" über die Daten aller Menschen verfügt, hat sie die absolute Macht inne. Ob ein solches Szenario nicht in den Aussagen der heutigen großen Technologieunternehmen mitschwingt? In Steins Roman zumindest legitimiert die Firma ihre Allmacht damit, dass alle Kunden ihr UniCom freiwillig erworben haben. Ist also ganz Amerika der Faszination des UniComs erlegen? Nein! Eine vom unbeugsamen Wikileaks-Gründer Julian Assange geführte "Community" leistet Widerstand. Assange kämpft - welche Wandlung - gegen die totale Transparenz.
Wer nun einen seitenfüllenden Zweikampf Assanges gegen das Imperium erwartet, ist in "Replay" auf der falschen Spur. Stein erzählt seine Science-Fiction - in Umkehr zu Orwells "1984" - aus der Perspektive der Mächtigen. Sein Held, Ed Rosen, hat das UniCom mitentwickelt. Er hat alle Prototypen des Geräts im eigenen Körper erprobt und verkörpert den Prototyp der neuen Gesellschaft. Rosens Lebensgeschichte steht im Fokus der Erzählung und damit weniger die Frage, wie die neue Welt aussieht, als vielmehr, wie es zu dieser kommen konnte. Um Ed Rosens Karriere, um sein Fühlen, Denken und Handeln zu beleuchten, greift die Erzählung auf einen Topos literarischer Utopien zurück: Sie bannt ihren Helden auf eine einsame Insel, die in Ed Rosens Fall aus seinem Bett besteht.
In drei Episoden schildert der Roman, wie sein Protagonist morgens erwacht. Das erste Mal am 17. Dezember 2010, das zweite und dritte Mal an zwei aufeinanderfolgenden Tagen etwa zwanzig Jahre später. So weit die Handlung. Alles Weitere spielt sich in Form von Gedanken, Erinnerungen, Träumen und Phantasien in Eds Kopf ab. Im Resonanzraum von Prousts "Recherche", Kafkas "Verwandlung" und Joyce' "Ulysses" widmet "Replay" sich der Schwelle zwischen Schlafen und Wachen, Traum und Realität. Das Bett fungiert als Ort, an dem das Fremde, Unfassbare die Vernunft überlagert. Dafür steht die erste Bettszene. Sie spielt an dem Morgen, an dem Ed entscheiden muss, ob er sich seiner Firma als Proband zur Verfügung stellt. Er wacht auf, wirft einen Blick auf das Fußende seines Bettes, und was er dort sieht, versetzt ihn in Schrecken: "Ich fürchte mich vor Erscheinungen, die ich nicht selbst erfunden habe. Und nun dieser Huf . . . Am Fußende lugt er im Dunkeln unter der Decke hervor."
Ed Rosens Blick trifft das Unheimliche. Und das "lugt", das heißt, es schaut zurück. Ed Rosen schließt die Augen. Ist der Huf echt? Gibt ihm eine höhere Macht ein Zeichen? Soll er seinem Labor absagen? Um die Unsicherheit zu vertreiben, lässt er seinen Lebensweg vor seinem inneren Auge Revue passieren: Kindheit, Studium, Promotion, Einstieg in eine Software-Firma, Liebesbegegnung mit Katelyne. Das klingt normal, in Eds Fall aber verläuft das Leben so schräg wie in einem Film der Coen-Brüder. So auch der vorherige Abend. Da hatten ihn zuerst die Pan- und Nymphenbilder einer Ausstellung aus der Bahn geworfen, bevor sein Chef ihm antrug, das Produkt der Firma am eigenen Leib zu erproben. Der Leser erlebt dies, als säße er in Eds Kopf. Being Ed Rosen bedeutet, sich in die Erinnerung eines jüdischen, auf einem Auge blinden Nerds zu vertiefen, der seit dem Barmizwa-Unterricht ein Faible für das Abgründige und zudem einen ausgeprägten Fußfetischismus pflegt. Die Huferscheinung ist kein Zufall, denn Pan ist in Eds Welt allgegenwärtig.
Dasselbe Szenario spielt der Roman zwanzig Jahre später durch. Erneut wacht Ed in seinem Bett auf. Weil ihn das Gefühl beschleicht, seine schöne neue Welt sei bedroht, flüchtet er sich in jene goldene Vergangenheit, in der er das UniCom entwickelte. Aus der Sicht des heutigen Lesers gilt daher: Sogar von der Zukunft erzählt Stein im Modus der Erinnerung. Wie der furiose Vorgängerroman "Die Leinwand" (2010) stellt auch "Replay" ein gewagtes Erinnerungsexperiment dar. Wenn Ed jetzt auf seine vergangenen Jahre zurückblickt, dann bestimmt sein UniCom sowohl seine gegenwärtige Wahrnehmung als auch seinen Innenblick.
Ohne der auf Spannung angelegten Erzählung vorzugreifen, kann man so viel sagen: Eds Erfindergeschichte stellt einen Gegenentwurf zu der Theorie dar, dass die entscheidenden technologischen Innovationen allein militärischer Forschung zu verdanken seien. Das UniCom entsteht aus den Ideen, der Macht, Neugier sowie der sexuellen Lust einzelner Personen. Ed beschwört jene Macht des Subjekts, die er mit seiner Erfindung abschafft. Er erinnert den Schöpfungsprozess als umfassende Metamorphose: vom Sehbehinderten zum (Anders-)Sehenden, vom Gezeichneten zum Ausgezeichneten, vom Außenseiter zum Minister, von der Idee zur Massenware, von der Start-up-Firma zum Global Player, aber nicht zuletzt auch vom glücklich Liebenden zum Verlassenen.
Rosens Erinnerungen umkreisen seine große Liebe. Mit ihr versinkt er in eine Traumnovelle, bevor sie ihm verlorengeht. Warum? Weil die Technik das Unheimliche nicht austreibt, sondern Pan in Arkadien sein Unwesen treibt. Keine Utopie also, außer der Leser glaubt, was bei Eds drittem Erwachen erzählt wird. Aber das könnte ebenso gut wahr wie ein manipuliertes "Replay" sein. Große Literatur ist es in jedem Fall.
CHRISTIAN METZ
Benjamin Stein: "Replay". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2012. 174 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Willkommen im Paralleluniversum von "Replay": Benjamin Stein entwirft in seinem neuen Roman eine faszinierende Welt endloser Erinnerung. Es ist eine Science-fiction aus der Perspektive der Mächtigen.
Wie könnte unsere Welt in Zukunft aussehen? Diese Frage beschäftigt die Literatur seit der Antike. Bereits Aristoteles hielt in seiner Poetik fest, "dass es nicht Aufgabe des Dichters ist, mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte". Seither reißt die Flut literarischer Utopien nicht ab. Jetzt stellt sich Benjamin Steins Roman "Replay" dieser Herausforderung.
Herausgekommen ist ein großartiges Buch - klug, glänzend erzählt, spannend. Das Zukunftspotential macht Stein in unserer optischen Wahrnehmung und im Gedankengut des radikalen Konstruktivismus aus: Die Welt konstituiert sich dadurch, wie wir sie betrachten. Würden plötzlich alle Menschen mit anderen Augen auf sie blicken, käme dies einer Revolution gleich. In neuen Wahrnehmungsformen also liegt die Zukunft, und zwar dann, wenn man sie mit Informationstechnik kurzschließt.
Dieser Einfall liegt nicht nur nahe, weil die digitale Revolution in aller Munde ist, sondern auch, weil Benjamin Stein ein Fachmann auf diesem Gebiet ist: Der Autor arbeitet als Redakteur diverser Computerzeitschriften und als Unternehmensberater für Informationstechnologie. In der Zukunft von "Replay" tragen die Menschen ein Implantat, das ihre Erlebnisse aufzeichnet und auf einer externen Datenbank speichert. Umgekehrt erlaubt das sogenannte "UniCom", Daten in Form von Bildern, Texten oder Filmen vor dem inneren Auge abzurufen: "Man konnte lesen, mit geschlossenen Augen. Man konnte Musik hören ohne Kopfhörer oder Lautsprecher. Man konnte die Nachrichten verfolgen in Bild und Ton . . . und natürlich konnte man sich in die lebendige audiovisuelle Wahrnehmung eines Augenblicks zurückversetzen, den man selbst zuvor aufgezeichnet hatte."
UniCom-Träger können zu jedem beliebigen Augenblick sagen: "Verweile doch! Du bist so schön!" Sie rufen ein "Replay" auf und durchleben den Moment mit allen Emotionen erneut. Sie können ihre Erinnerungsbilder nachträglich bearbeiten und, sobald mehrere das Implantat tragen, die Situationen anderer durchleben. Und da in Steins Welt siebzig Prozent der Amerikaner über ein UniCom verfügen, wachsen sich die "Replays" zu einem Paralleluniversum aus, durch das man wie auf einer endlosen Welle "driften" kann. Der Einstieg in das fremde Bewusstsein gehört zum allgemeinen Lebensstil. Allein schon diese Idee fasziniert. Man will fast hoffen, dass der Autor sich seine Erfindung samt den Begriffen wie "UniCom" "Replay", "Driften" hat patentieren lassen. Die neue Technologie zieht enorme Konsequenzen nach sich. Der Einzelne vergisst nichts mehr, alles ist speicher- und abrufbar. Alle Personen sind transparent. Verdächtig ist, wer sein Bewusstsein der Allgemeinheit entzieht und sich dem "Fortschritt" verweigert. Die gläserne Welt birgt die Gefahr des Totalitarismus. Da die "United Communications Corporation" über die Daten aller Menschen verfügt, hat sie die absolute Macht inne. Ob ein solches Szenario nicht in den Aussagen der heutigen großen Technologieunternehmen mitschwingt? In Steins Roman zumindest legitimiert die Firma ihre Allmacht damit, dass alle Kunden ihr UniCom freiwillig erworben haben. Ist also ganz Amerika der Faszination des UniComs erlegen? Nein! Eine vom unbeugsamen Wikileaks-Gründer Julian Assange geführte "Community" leistet Widerstand. Assange kämpft - welche Wandlung - gegen die totale Transparenz.
Wer nun einen seitenfüllenden Zweikampf Assanges gegen das Imperium erwartet, ist in "Replay" auf der falschen Spur. Stein erzählt seine Science-Fiction - in Umkehr zu Orwells "1984" - aus der Perspektive der Mächtigen. Sein Held, Ed Rosen, hat das UniCom mitentwickelt. Er hat alle Prototypen des Geräts im eigenen Körper erprobt und verkörpert den Prototyp der neuen Gesellschaft. Rosens Lebensgeschichte steht im Fokus der Erzählung und damit weniger die Frage, wie die neue Welt aussieht, als vielmehr, wie es zu dieser kommen konnte. Um Ed Rosens Karriere, um sein Fühlen, Denken und Handeln zu beleuchten, greift die Erzählung auf einen Topos literarischer Utopien zurück: Sie bannt ihren Helden auf eine einsame Insel, die in Ed Rosens Fall aus seinem Bett besteht.
In drei Episoden schildert der Roman, wie sein Protagonist morgens erwacht. Das erste Mal am 17. Dezember 2010, das zweite und dritte Mal an zwei aufeinanderfolgenden Tagen etwa zwanzig Jahre später. So weit die Handlung. Alles Weitere spielt sich in Form von Gedanken, Erinnerungen, Träumen und Phantasien in Eds Kopf ab. Im Resonanzraum von Prousts "Recherche", Kafkas "Verwandlung" und Joyce' "Ulysses" widmet "Replay" sich der Schwelle zwischen Schlafen und Wachen, Traum und Realität. Das Bett fungiert als Ort, an dem das Fremde, Unfassbare die Vernunft überlagert. Dafür steht die erste Bettszene. Sie spielt an dem Morgen, an dem Ed entscheiden muss, ob er sich seiner Firma als Proband zur Verfügung stellt. Er wacht auf, wirft einen Blick auf das Fußende seines Bettes, und was er dort sieht, versetzt ihn in Schrecken: "Ich fürchte mich vor Erscheinungen, die ich nicht selbst erfunden habe. Und nun dieser Huf . . . Am Fußende lugt er im Dunkeln unter der Decke hervor."
Ed Rosens Blick trifft das Unheimliche. Und das "lugt", das heißt, es schaut zurück. Ed Rosen schließt die Augen. Ist der Huf echt? Gibt ihm eine höhere Macht ein Zeichen? Soll er seinem Labor absagen? Um die Unsicherheit zu vertreiben, lässt er seinen Lebensweg vor seinem inneren Auge Revue passieren: Kindheit, Studium, Promotion, Einstieg in eine Software-Firma, Liebesbegegnung mit Katelyne. Das klingt normal, in Eds Fall aber verläuft das Leben so schräg wie in einem Film der Coen-Brüder. So auch der vorherige Abend. Da hatten ihn zuerst die Pan- und Nymphenbilder einer Ausstellung aus der Bahn geworfen, bevor sein Chef ihm antrug, das Produkt der Firma am eigenen Leib zu erproben. Der Leser erlebt dies, als säße er in Eds Kopf. Being Ed Rosen bedeutet, sich in die Erinnerung eines jüdischen, auf einem Auge blinden Nerds zu vertiefen, der seit dem Barmizwa-Unterricht ein Faible für das Abgründige und zudem einen ausgeprägten Fußfetischismus pflegt. Die Huferscheinung ist kein Zufall, denn Pan ist in Eds Welt allgegenwärtig.
Dasselbe Szenario spielt der Roman zwanzig Jahre später durch. Erneut wacht Ed in seinem Bett auf. Weil ihn das Gefühl beschleicht, seine schöne neue Welt sei bedroht, flüchtet er sich in jene goldene Vergangenheit, in der er das UniCom entwickelte. Aus der Sicht des heutigen Lesers gilt daher: Sogar von der Zukunft erzählt Stein im Modus der Erinnerung. Wie der furiose Vorgängerroman "Die Leinwand" (2010) stellt auch "Replay" ein gewagtes Erinnerungsexperiment dar. Wenn Ed jetzt auf seine vergangenen Jahre zurückblickt, dann bestimmt sein UniCom sowohl seine gegenwärtige Wahrnehmung als auch seinen Innenblick.
Ohne der auf Spannung angelegten Erzählung vorzugreifen, kann man so viel sagen: Eds Erfindergeschichte stellt einen Gegenentwurf zu der Theorie dar, dass die entscheidenden technologischen Innovationen allein militärischer Forschung zu verdanken seien. Das UniCom entsteht aus den Ideen, der Macht, Neugier sowie der sexuellen Lust einzelner Personen. Ed beschwört jene Macht des Subjekts, die er mit seiner Erfindung abschafft. Er erinnert den Schöpfungsprozess als umfassende Metamorphose: vom Sehbehinderten zum (Anders-)Sehenden, vom Gezeichneten zum Ausgezeichneten, vom Außenseiter zum Minister, von der Idee zur Massenware, von der Start-up-Firma zum Global Player, aber nicht zuletzt auch vom glücklich Liebenden zum Verlassenen.
Rosens Erinnerungen umkreisen seine große Liebe. Mit ihr versinkt er in eine Traumnovelle, bevor sie ihm verlorengeht. Warum? Weil die Technik das Unheimliche nicht austreibt, sondern Pan in Arkadien sein Unwesen treibt. Keine Utopie also, außer der Leser glaubt, was bei Eds drittem Erwachen erzählt wird. Aber das könnte ebenso gut wahr wie ein manipuliertes "Replay" sein. Große Literatur ist es in jedem Fall.
CHRISTIAN METZ
Benjamin Stein: "Replay". Roman.
Verlag C. H. Beck, München 2012. 174 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.08.2012Hölle
ohne Feuer
Benjamin Stein marschiert mit
Bocksfuß in die Zukunft
Eine kalifornische Firma mit dem schönen Namen „Proteus“ hat, so war kürzlich zu lesen, „Mindfulness Pills“ auf den Markt gebracht, die man nicht gegen eine bestimmte Krankheit schluckt, sondern als stets wache Gehilfen bei der allgemeinen Überwachung der Gesundheit. Sie haben einen integrierten Chip in sich, mit dessen Hilfe ein am Körper angebrachter Sensor den Puls, den Schlafrhythmus, das Gewicht etc. misst und die erhobenen Daten per Smartphone an den „Proteus“-Server übermittelt (SZ vom 28. Juli).
Schon in der alten Proteus-Welt war der Körper, wie die Narbe des Odysseus belegt, ein Archiv. Aber nun nimmt er nicht nur die Zeichen von Verletzungen und die Spuren des Alters in sich auf, sondern ganze Aufzeichnungssysteme der fortlaufenden Selbstbeobachtung, Implantate, die ihn an die allgemeinen Datennetze anschließen.
Der Schriftsteller Benjamin Stein, geboren 1970 in Ost-Berlin, hat sich schon in seinem Roman „Die Leinwand“ (2010) als ausgefuchster Konstrukteur doppelbödiger Handlungsgerüste erwiesen. In seinem jüngsten Buch „Replay“ lässt er seinen Helden wie in einem Computerspiel von Level zu Level des Wechselspiels von Selbstaufzeichnung und Netzanschluss voranschreiten. UniCom heißt das Implantat, mit dem der Ich-Erzähler Ed Rosen zunächst nur den Seh-Defekt ausgleichen will, durch den die von Geburt an gelähmten, von noch so vielen Operationen nicht zu erweckenden Muskeln seines rechten Auges sein Leben von Kindheit an überschattet haben.
Das Implantat ist nicht das isolierte Produkt eines eigenbrötlerischen Erfinders, sondern die Einstiegsdroge in die schöne neue Welt des kalifornischen Start-up-Unternehmens United Communications Corporation, in dem Ed Rosen als Softwareexperte Karriere macht – als Prototyp der Löschung des Unterschieds zwischen Erinnerung und Erfahrung. Durch in das Implantat eingespeiste Neuro-Impulse entsteht der Eindruck, „man sähe und hörte mit eigenen Augen und Ohren, was tatsächlich eine Aufzeichnung war“. Das ist nur die eine Seite. Die andere ist die vollkommene Transparenz der angeschlossenen User: Big Brother wirkt wie ein Halbblinder gegenüber der hier in Szene gesetzten Totalerfassung aller Lebensäußerungen.
In einer ironischen Volte stellt Benjamin Stein diesem System lückenloser Transparenz, die nicht von einem totalitären Staat, sondern von einem Privatunternehmen unter dem Beifall seiner zufriedenen Kunden hergestellt wird, eine zum Untergang verurteilte Opposition gegenüber, deren Wortführer niemand anderes als Julien Assange ist, der ehemalige Prophet der Transparenz, der hier in der Hölle seiner verwirklichten Utopie büßen muss, in einer Welt, in der die Leute am Ende nicht mal mehr wissen können, ob sie offline oder online sind, weil das Implantat, das mit ihrem Nervengewebe verwachsen ist, es ihnen nicht verrät.
Das mechanische Zeitalter hat in der Ära seiner Elektrifizierung im Film wie in der Literatur gültige Bilder der Einfügung der Körper in Maschinenwelten hervorgebracht, man denke nur an Chaplins „Modern Times“. Dieser Roman zeigt, dass es sehr viel leichter ist, für die Darstellung des neuen Typus der in den Körper selbst implantierten Technologien einen plausiblen Plot zu erfinden als eine Sprache, die auf der Höhe der behaupteten suggestiven Verschmelzung von Illusion und Erlebnis und der damit einhergehenden Entgrenzung von Auge und Ohr, Tastsinn und Gefühl wäre.
In seiner Not hat sich Benjamin Stein an den chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und an den antiken Hirtengott Pan gewandt. Maturana liefert ihm die Figur des genialen Kognitionsforschers Matana, und das funktioniert ganz gut. In Pan, dem Herren der Lust und des Schreckens, soll das Dämonische der „Replay“-Technologie Gestalt gewinnen, die Perfidie, mit der sie den Sex für sich einspannt. Das aber klappt weniger gut. Die „Replay“-Technologie verspricht die ungeheure Intensivierung sexueller Erfahrung durch Rückkoppelungs- und Verdoppelungseffekte, aber was Ed Rosen über die Sexspiele mit seiner Freundin (und Physio-Trainerin) Katelyn und zu dritt mit einer Asiatin berichtet, bleibt vollkommen innerhalb der sprachlichen Konvention eines gängigen realistischen Softpornos.
Nicht nur in der Darstellung der Herrschaft Pans bleibt die Rollenprosa des Ich-Erzählers hinter seinen technologischen Innovationen beträchtlich zurück. Man begreift rasch, dass er jedes neue Level des „Replay“ so gleichmütig-affirmativ betritt, damit der Leser an seiner Stelle zum Kritiker der totalitären Gefahr wird – aber für den ästhetischen Reiz des Romans wäre einiges gewonnen gewesen, wenn Benjamin Stein ihm mehr euphorisch-diabolische Sprachkraft gegeben hätte. Dass dieser Ed Rosen übrigens gelegentlich seine jüdische Herkunft und Identität hervorkehrt, bleibt ein müßiges Spiel. Es bringt den Helden etwas markenzeichenhaft der Website seines Autors näher, ohne dass der Roman viel davon hätte.
LOTHAR MÜLLER
Benjamin Stein: Replay. Roman. C. H. Beck Verlag, München 2012. 174 Seiten, 17,95 Euro.
Am Ende wissen die Leute in
diesem Roman nicht mal mehr,
ob sie online oder offline sind
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ohne Feuer
Benjamin Stein marschiert mit
Bocksfuß in die Zukunft
Eine kalifornische Firma mit dem schönen Namen „Proteus“ hat, so war kürzlich zu lesen, „Mindfulness Pills“ auf den Markt gebracht, die man nicht gegen eine bestimmte Krankheit schluckt, sondern als stets wache Gehilfen bei der allgemeinen Überwachung der Gesundheit. Sie haben einen integrierten Chip in sich, mit dessen Hilfe ein am Körper angebrachter Sensor den Puls, den Schlafrhythmus, das Gewicht etc. misst und die erhobenen Daten per Smartphone an den „Proteus“-Server übermittelt (SZ vom 28. Juli).
Schon in der alten Proteus-Welt war der Körper, wie die Narbe des Odysseus belegt, ein Archiv. Aber nun nimmt er nicht nur die Zeichen von Verletzungen und die Spuren des Alters in sich auf, sondern ganze Aufzeichnungssysteme der fortlaufenden Selbstbeobachtung, Implantate, die ihn an die allgemeinen Datennetze anschließen.
Der Schriftsteller Benjamin Stein, geboren 1970 in Ost-Berlin, hat sich schon in seinem Roman „Die Leinwand“ (2010) als ausgefuchster Konstrukteur doppelbödiger Handlungsgerüste erwiesen. In seinem jüngsten Buch „Replay“ lässt er seinen Helden wie in einem Computerspiel von Level zu Level des Wechselspiels von Selbstaufzeichnung und Netzanschluss voranschreiten. UniCom heißt das Implantat, mit dem der Ich-Erzähler Ed Rosen zunächst nur den Seh-Defekt ausgleichen will, durch den die von Geburt an gelähmten, von noch so vielen Operationen nicht zu erweckenden Muskeln seines rechten Auges sein Leben von Kindheit an überschattet haben.
Das Implantat ist nicht das isolierte Produkt eines eigenbrötlerischen Erfinders, sondern die Einstiegsdroge in die schöne neue Welt des kalifornischen Start-up-Unternehmens United Communications Corporation, in dem Ed Rosen als Softwareexperte Karriere macht – als Prototyp der Löschung des Unterschieds zwischen Erinnerung und Erfahrung. Durch in das Implantat eingespeiste Neuro-Impulse entsteht der Eindruck, „man sähe und hörte mit eigenen Augen und Ohren, was tatsächlich eine Aufzeichnung war“. Das ist nur die eine Seite. Die andere ist die vollkommene Transparenz der angeschlossenen User: Big Brother wirkt wie ein Halbblinder gegenüber der hier in Szene gesetzten Totalerfassung aller Lebensäußerungen.
In einer ironischen Volte stellt Benjamin Stein diesem System lückenloser Transparenz, die nicht von einem totalitären Staat, sondern von einem Privatunternehmen unter dem Beifall seiner zufriedenen Kunden hergestellt wird, eine zum Untergang verurteilte Opposition gegenüber, deren Wortführer niemand anderes als Julien Assange ist, der ehemalige Prophet der Transparenz, der hier in der Hölle seiner verwirklichten Utopie büßen muss, in einer Welt, in der die Leute am Ende nicht mal mehr wissen können, ob sie offline oder online sind, weil das Implantat, das mit ihrem Nervengewebe verwachsen ist, es ihnen nicht verrät.
Das mechanische Zeitalter hat in der Ära seiner Elektrifizierung im Film wie in der Literatur gültige Bilder der Einfügung der Körper in Maschinenwelten hervorgebracht, man denke nur an Chaplins „Modern Times“. Dieser Roman zeigt, dass es sehr viel leichter ist, für die Darstellung des neuen Typus der in den Körper selbst implantierten Technologien einen plausiblen Plot zu erfinden als eine Sprache, die auf der Höhe der behaupteten suggestiven Verschmelzung von Illusion und Erlebnis und der damit einhergehenden Entgrenzung von Auge und Ohr, Tastsinn und Gefühl wäre.
In seiner Not hat sich Benjamin Stein an den chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und an den antiken Hirtengott Pan gewandt. Maturana liefert ihm die Figur des genialen Kognitionsforschers Matana, und das funktioniert ganz gut. In Pan, dem Herren der Lust und des Schreckens, soll das Dämonische der „Replay“-Technologie Gestalt gewinnen, die Perfidie, mit der sie den Sex für sich einspannt. Das aber klappt weniger gut. Die „Replay“-Technologie verspricht die ungeheure Intensivierung sexueller Erfahrung durch Rückkoppelungs- und Verdoppelungseffekte, aber was Ed Rosen über die Sexspiele mit seiner Freundin (und Physio-Trainerin) Katelyn und zu dritt mit einer Asiatin berichtet, bleibt vollkommen innerhalb der sprachlichen Konvention eines gängigen realistischen Softpornos.
Nicht nur in der Darstellung der Herrschaft Pans bleibt die Rollenprosa des Ich-Erzählers hinter seinen technologischen Innovationen beträchtlich zurück. Man begreift rasch, dass er jedes neue Level des „Replay“ so gleichmütig-affirmativ betritt, damit der Leser an seiner Stelle zum Kritiker der totalitären Gefahr wird – aber für den ästhetischen Reiz des Romans wäre einiges gewonnen gewesen, wenn Benjamin Stein ihm mehr euphorisch-diabolische Sprachkraft gegeben hätte. Dass dieser Ed Rosen übrigens gelegentlich seine jüdische Herkunft und Identität hervorkehrt, bleibt ein müßiges Spiel. Es bringt den Helden etwas markenzeichenhaft der Website seines Autors näher, ohne dass der Roman viel davon hätte.
LOTHAR MÜLLER
Benjamin Stein: Replay. Roman. C. H. Beck Verlag, München 2012. 174 Seiten, 17,95 Euro.
Am Ende wissen die Leute in
diesem Roman nicht mal mehr,
ob sie online oder offline sind
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