Der Band "Reportagen von den Rändern der Moderne" versammelt Feuilletons und Reportagen der Wiener Journalistin Alice Schalek (1874-1956), die in den 1920er- und 1930er Jahren in Zeitungen erschienen. Diese wurden noch nie in Buchform veröffentlicht, sondern sind heute mehr oder weniger vergessen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2023Wenn aus Religion Selbstquälerei wird
Auf der letzten Seite dieses Buches wird dem Leser Alice Schalek in persona vorgestellt. Das Foto in bescheidener Passbildgröße zeigt eine attraktive, etwas kühl wirkende Frau, der anzusehen ist, dass sie vor nichts Angst hat. Und so musste es auch sein, denn der Weg, den sie einschlug, war mehr als steinig und höchst ungewöhnlich für eine Epoche, in der "höhere Töchter" nur dazu berufen waren, möglichst gut - und standesgemäß - verheiratet zu werden. Alice Schalek jedoch sprengte die Fesseln und begann, mit Stift und Kamera bewehrt, die Welt zu erkunden. Das machte sie berühmt: nicht unumstritten wegen ihrer zeitweise kompromisslosen kriegsverherrlichenden Position, erfolgreich mit Romanen und Novellen, bekannt durch ihre stets gut besuchten Lichtbildervorträge und hochgeschätzt für ihre Reportagen in allen damals führenden österreichischen Zeitungen. Typisch war dabei, dass Alice Schalek vor nichts zurückschreckte - weder vor strapaziösen, physisch bis in den Grenzbereich vordringenden Abenteuern noch vor "großen Tieren" wie etwa Mahatma Ghandi, dem sie durchaus unbequeme Fragen stellte. Für diese außergewöhnliche Kühnheit sind die hier vorgestellten Reiseberichte aus Afrika, Indien sowie Nord- und Südamerika - geschrieben in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts - ein eindrucksvoller Beweis. Sie sind aus heutiger Sicht recht umständlich und weitschweifig, aber typisch für eine Epoche, in der eine große Leserschaft Nachrichten aus "exotischen" Gegenden begierig verschlang. Niemand würde jetzt noch bei der Schilderung eines Hochzeitsrituals Sätze schreiben wie "Diese Religion der Selbstquälerei macht vieles im Charakter der Inder verständlich", und manchmal wirkt eine deutlich eurozentristische Position der Berichterstattung ziemlich altmodisch. Als Zeitzeugnis jedoch ist diese Reportage-Sammlung, versehen mit einer umfangreichen Beschreibung des familiären Hintergrunds der Autorin, fesselnd und bedeutsam. tg
"Reportagen von den Rändern der
Moderne" von Alice Schalek. Herausgegeben von Gabriele Habinger. Promedia Verlag, Wien 2022. 266 Seiten. Gebunden, 27 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der letzten Seite dieses Buches wird dem Leser Alice Schalek in persona vorgestellt. Das Foto in bescheidener Passbildgröße zeigt eine attraktive, etwas kühl wirkende Frau, der anzusehen ist, dass sie vor nichts Angst hat. Und so musste es auch sein, denn der Weg, den sie einschlug, war mehr als steinig und höchst ungewöhnlich für eine Epoche, in der "höhere Töchter" nur dazu berufen waren, möglichst gut - und standesgemäß - verheiratet zu werden. Alice Schalek jedoch sprengte die Fesseln und begann, mit Stift und Kamera bewehrt, die Welt zu erkunden. Das machte sie berühmt: nicht unumstritten wegen ihrer zeitweise kompromisslosen kriegsverherrlichenden Position, erfolgreich mit Romanen und Novellen, bekannt durch ihre stets gut besuchten Lichtbildervorträge und hochgeschätzt für ihre Reportagen in allen damals führenden österreichischen Zeitungen. Typisch war dabei, dass Alice Schalek vor nichts zurückschreckte - weder vor strapaziösen, physisch bis in den Grenzbereich vordringenden Abenteuern noch vor "großen Tieren" wie etwa Mahatma Ghandi, dem sie durchaus unbequeme Fragen stellte. Für diese außergewöhnliche Kühnheit sind die hier vorgestellten Reiseberichte aus Afrika, Indien sowie Nord- und Südamerika - geschrieben in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts - ein eindrucksvoller Beweis. Sie sind aus heutiger Sicht recht umständlich und weitschweifig, aber typisch für eine Epoche, in der eine große Leserschaft Nachrichten aus "exotischen" Gegenden begierig verschlang. Niemand würde jetzt noch bei der Schilderung eines Hochzeitsrituals Sätze schreiben wie "Diese Religion der Selbstquälerei macht vieles im Charakter der Inder verständlich", und manchmal wirkt eine deutlich eurozentristische Position der Berichterstattung ziemlich altmodisch. Als Zeitzeugnis jedoch ist diese Reportage-Sammlung, versehen mit einer umfangreichen Beschreibung des familiären Hintergrunds der Autorin, fesselnd und bedeutsam. tg
"Reportagen von den Rändern der
Moderne" von Alice Schalek. Herausgegeben von Gabriele Habinger. Promedia Verlag, Wien 2022. 266 Seiten. Gebunden, 27 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Leo Lensing freut sich über die Wiederentdeckung der Autorin und Reisejournalistin Alice Schalek, wenn auch nicht unbedingt dank dieser Ausgabe. Enthalten sind hier ihre Reportagen aus den Jahren 1925 bis 1935, die Schalek nach Afrika, Indien und Amerika führten, klärt der Kritiker auf. Mit Interesse liest er, wie die Autorin ihren Blick vor allem wieder auf die Schicksale von Frauen in den bereisten Ländern richtet, zu manch rassistischer Auslassung hätte er sich aber unbedingt einen Kommentar der Herausgeberin gewünscht. Überhaupt erscheint ihm das Glossar zu knapp, noch enttäuschender aber findet Lensing die Bebilderung des Textes: Aus 7.500 Reisefotos gerade mal neun Abbildungen auszuwählen, ist ein bisschen "dürftig", meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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