Die Anatomie der deutschen Angst.
Frank Biess erzählt die Geschichte der Bundesrepublik als eine Geschichte kollektiver Ängste. Die Furcht vor Vergeltung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Angst vor einem Atomkrieg und kommunistischer Infiltration in den fünfziger Jahren und dann vor Arbeitslosigkeit durch Automatisierung und vor autoritären politischen Tendenzen, schließlich die apokalyptischen Ängste der achtziger Jahre: Immer waren die politischen Debatten und die deutsche Politik von Angst geprägt, nicht zuletzt von der Angst vor der vermeintlichen Allgegenwart des Faschismus.
Biess geht es nicht darum, im Rückblick die Berechtigung dieser Ängste zu bewerten. Er beschreibt vielmehr ihre prägende Rolle für die Entwicklung des Landes. Die Erfahrung von Krieg und Gewalt, lautet seine These, begleitete die Demokratisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik; die Angst stellte die soziale und politische Ordnung in Frage - und stabilisierte sie zur gleichen Zeit.
Schließlich diskutiert der Autor die Auswirkungen dieser Angstgeschichte auf die politische Kultur der Berliner Republik. Sind die aktuellen Ängste vor Krieg, Einwanderung und Terrorismus noch spezifisch deutsch, also auf die deutsche Vergangenheit bezogen? Oder spiegeln sie allgemeinere «transnationale» Befürchtungen, die sich in anderen westlichen Nationen auch finden lassen? Er geht damit der spannenden Frage nach, ob die Geschichte der «deutschen Angst» heute an ihr Ende gelangt ist.
Frank Biess erzählt die Geschichte der Bundesrepublik als eine Geschichte kollektiver Ängste. Die Furcht vor Vergeltung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Angst vor einem Atomkrieg und kommunistischer Infiltration in den fünfziger Jahren und dann vor Arbeitslosigkeit durch Automatisierung und vor autoritären politischen Tendenzen, schließlich die apokalyptischen Ängste der achtziger Jahre: Immer waren die politischen Debatten und die deutsche Politik von Angst geprägt, nicht zuletzt von der Angst vor der vermeintlichen Allgegenwart des Faschismus.
Biess geht es nicht darum, im Rückblick die Berechtigung dieser Ängste zu bewerten. Er beschreibt vielmehr ihre prägende Rolle für die Entwicklung des Landes. Die Erfahrung von Krieg und Gewalt, lautet seine These, begleitete die Demokratisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik; die Angst stellte die soziale und politische Ordnung in Frage - und stabilisierte sie zur gleichen Zeit.
Schließlich diskutiert der Autor die Auswirkungen dieser Angstgeschichte auf die politische Kultur der Berliner Republik. Sind die aktuellen Ängste vor Krieg, Einwanderung und Terrorismus noch spezifisch deutsch, also auf die deutsche Vergangenheit bezogen? Oder spiegeln sie allgemeinere «transnationale» Befürchtungen, die sich in anderen westlichen Nationen auch finden lassen? Er geht damit der spannenden Frage nach, ob die Geschichte der «deutschen Angst» heute an ihr Ende gelangt ist.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.02.2019Aufbau
und Abgründe
Frank Biess erzählt die Geschichte der Bundesrepublik
in Zyklen der Angst. Ein gelungenes Wagnis
VON TILMAN ALLERT
Es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist. Und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Fluss der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt.“ Auf dieses Diktum Max Webers könnte sich Frank Biess berufen, der eine bundesrepublikanische Gefühlsgeschichte vorlegt, eine historische Analyse, deren perspektivischer Fokus am Beispiel der Angst auf der Handlungswirkung von Emotionen liegt. Wie von der Arbeit eines Historikers nicht anders zu erwarten steht, werden Ereignisse, die sich ins Kollektivgedächtnis eingeschrieben haben, einer raffinierten Lektüre unterzogen. Als die durchgängig motivierende Kraft bestimmt sie die Urteilsbildung in allen politischen Debatten der Nachkriegszeit und liefert die Grundlage einer „anderen Geschichte der Bundesrepublik“. Das Buch ist für den Sachbuchpreis der Buchmesse Leipzig nominiert.
Nicht um Abschnitte, Zäsuren oder gar Epochen, auch nicht um Subsumtion unter einen Begriff geht es – nivellierte Mittelstandsgesellschaft, Risikogesellschaft oder Gesellschaft der Selbständigen – vielmehr um die Empfindung der Angst, die sich zyklisch reproduziert, an wechselnden Objekten mit wechselnden Akteuren. Der Leser staunt nicht schlecht: Dreißig Jahre nach dem Mauerfall schreibt jemand eine Geschichte des ehemaligen westdeutschen Teilstaats, ein Lebenskosmos, der nun schon eine Generation zurückliegt; Objekt der nostalgischen Verklärung für die einen, jahrzehntelang Sehnsuchtsort und nach der Wiedervereinigung Menetekel für die anderen. Ein großer Wurf, ein gelungenes Wagnis, methodologisch kühn und dabei gut erzählt.
Frank Biess, der an der University of California in San Diego Europäische Geschichte lehrt, zeichnet in einer Reihe von Fallstudien die affektive Binnenseite der politischen und ökonomischen Erfolgsgeschichte nach und findet wiederkehrende Kristallisationspunkte für das Selbstverständnis der halbierten Nation. Worum die Leute sich sorgen, wie sie sich die Zukunft vorstellen und wie sich die „Präsenz einer katastrophalen und gewaltsamen Vergangenheit“ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Vorstellungen von der eigenen Zukunft legt. Umfangreich recherchiert, mit einem Anmerkungsapparat von mehr als einhundert Seiten, lässt der Autor die Ereignisgeschichte des Landes noch einmal lebendig werden – die Spiegel-Affäre, die Debatten über die Wiederbewaffnung, die Notstandsgesetze, das Waldsterben und die Bewegung der 68er – „revolutionäre Angst“, all das taucht auf, Erinnerungen an die formative Zeit der Republik, in der die Bevölkerung Angstzyklen erlebt, die Lebensgefühl und Zukunftserwartung bestimmen. Auch dass „emotionale Regime“ als Ressourcen für die öffentliche Erregung strategisch eingesetzt werden, zählt nach Biess zum Erfahrungsbestand des Nachkriegsdeutschland.
Wer wir sind – die Antwort auf diese Frage steht den Historikern zu, eine Disziplin, die den Ereignisstrom zu bündeln versteht und daraus eine Erzählung macht, die eine Gegenwartsorientierung darin ermöglicht, dass sie Vergangenes erinnert und auf eine mögliche Zukünftigkeit zu beziehen vermag. Was der Historiker Biess unternimmt, der die autobiografische Initialerinnerung seines Zugriffs – die Friedensbewegung der 80er-Jahre – nicht verschweigt, ist beeindruckend wie kühn. Gestützt von üblich gewordenen Sonderforschungsbereichen sucht die Geschichtswissenschaft Anschluss an die vermeintlich seriösen Wissenschaften: Angst geht immer um, und mit der Angst als Kategorie zu arbeiten, wähnt sich der Autor methodologisch auf der sicheren Seite – ein Selbstmissverständnis, das Biess, der vorsichtig genug von „Zyklen“ spricht, zu gelegentlich abenteuerlichen Zurechnungen führt, unbekümmert und im Elan desjenigen, der eine große Erzählung vorlegen will.
Sorgen um den Verlust des Arbeitsplatzes, die im Prozess der Arbeitsteilung freigesetzt und politisch von Gewerkschaften artikuliert werden, werden kurzerhand „moderne Angst“ genannt. Dass Leute ungeduldig und gegenüber den Institutionen der parlamentarischen Demokratie skeptisch geworden sind, wird „demokratische Angst“ genannt. Auch wenn es darum geht, die Konstellation von Akteuren, Milieus und Arenen herauszuarbeiten, melden sich Zweifel.
Wie sind die empirischen Evidenzen – Umfragen, Liedtexte, Tagebucheintragungen, Studien von Versicherungsunternehmen werden kühn kombiniert – für die These von den Zyklen der Angst, die das Land erfassen, zu sichern? Wer hat im Einzelnen vor wem Angst? Welche Akteure lösen Angst aus und welche wiederum sind Träger der Angst? Und schließlich die Problematik, dass den einen der starke Staat Angst macht, anderen wiederum der Staat als zu schwach erlebt wird.
Im Taumel der vielen Ängste, deren Wirkungsmacht von Kapitel zu Kapitel ausgebreitet wird, und mit Angstszenarien, die den Terrorismus und die Zerstörung der Natur als „allgegenwärtig“ beschreiben, ließe sich gegen das alarmistische Szenario der Einwand wagen: Warum eigentlich nicht ein bundesrepublikanischer Freudezyklus? Also ein Auf und Ab der Daseinsakzeptanz, landsmannschaftlich gefärbt, beginnend mit den Albernheiten eines Adolf Tegtmeier, bis hin zu sublimierten Formen von Selbstironie, die das Land seinen Humoristen Loriot, Gerhard Polt oder Harald Schmidt und den philosophischen Einlassungen Odo Marquards verdankt. Warum nicht just hierin das für das gebeutelte Europa möglicherweise avantgardistische Gesicht der zweiten Republik herausstellen, nicht deren Autos, sondern das institutionelle Format eines Staates, zu dessen Anpassungsfähigkeit es ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende gehören wird, die ungeheure Anstrengung einer Gesellschaftstransformation zustandezubringen und auf hoher See ein Leck zu reparieren, das die Stürme der Weltgeschichte ins deutsche Boot gerissen hatte? Doch spätestens wenn einem bei dem Gedanken an die unvergesslichen Vertreter der zweiten Frankfurter Schule einfällt, dass deren Erfolgsgeschichte in einem Magazin namens Titanic begonnen hatte, erweist sich die Suggestivität dieses ungewöhnlichen Ansatzes.
Geschichte ist eine Selbstvergewisserung in Anerkennung des Geschicks, das einem widerfahren ist, so möchte man mit dem Philosophen Hans Blumenberg in Erinnerung rufen, dass es sich um geistige Vorgänge handelt, um Kulturbedeutsamkeiten eines historischen Geschehens, die Urteilsbildung ermöglichen und den vielfältigen Partizipationsangeboten moderner Demokratien Intensität und Richtung verleihen. Die Kategorie der Angst verstellt den Blick auf die Weichenstellungen, die der Nationalgeschichte ihr einzigartiges Gepräge geben und zu denen im Generationenaustausch stets Einstellungen und politische Präferenzen entstehen, die konfliktiv und damit unabgeschlossen sind, stets strittig und Material sowohl für den politischen Prozess als auch für die zivilgesellschaftliche Moral. Im analytischen Zugriff diese geistigen Dimensionen zu vernachlässigen, und auf eine Geschichte der Angst zu setzen, suggeriert Solidität und läuft Gefahr, der Psychologisierung Vorschub zu leisten und der im Ganzen beeindruckenden Erzählung ihre Spannung zu nehmen.
Kinder brauchen Märchen, und damit am Ende alles gut wird, kommen die Geschichten ohne Hexen und Drachen als die Instanzen des Bösen nicht aus. Die Urteilsbildung in Systemen mit durchgesetzter Volkssouveränität setzt nicht Märchen, sondern Staatserzählungen voraus, in denen ein Volk sich wiedererkennen kann. So liest man das Werk des Historikers und entnimmt ihm einen Subtext, vom Autor contre coeur ausgebreitet: Selbst wenn der Autor im Ausblick auf das, was nach dem Jahr 1989 kommt, seiner Perspektive noch einmal zuspitzt und suggeriert, für die Gegenwärtigen gehe es mit Klimawandel und Migrationen mit der Angst erst so richtig los: Hier schreibt jemand eine eigentümlich stimmige Hommage an das komplexe Institutionengefüge des modernen Verfassungsstaates Deutschland, der die kollektive Erfahrung eines selbsterzeugten Rückfalls in die Barbarei, einen von Melancholie statt Trauer unterlegtem asketischen Aufbauwillen, eine zivilisatorische Regression, eine weltpolitische Eckensteherexistenz sowie eine bis zum Bersten gebrachte ökonomische Produktivität zu bewältigen vermochte.
Nicht „Angst essen Seele auf“, sondern im Rücken der Angst gelangt ein erstaunliches Gebilde zur Blüte, dessen Vertreter in den Regierungen, Gerichten und Parlamenten eine wohltuende Nüchternheit, aber gepaart mit einem Gestaltungswillen an den Tag gelegt haben, der in Europa seinesgleichen sucht und dessen Grundlagen in dem zu finden sind, das seit den Tagen Max Webers die Klugheit von Politik, das Bohren dicker Bretter ausmacht: im Streit und Interessenkampf Leidenschaft, Augenmaß und Sachorientierung zur Geltung zu bringen, kompromissorientiert in den Ängsten die Sorge erkennen. Dass diese Leistung mit für die Länder Europas exemplarischem Wert der Wirkungskraft der Angst geschuldet sei, ist bei aller eigenwilligen Zurechnungsakrobatik der Autors die überraschende Pointe des Buchs und ein lesenswerter Befund, der im Streit um die Staatserzählungen eine gewichtige Rolle spielen wird.
Es ist wie mit dem Schrecken selbst: erst wenn man ihn verstanden und in diesem geistigen Verständnis überwunden hat, sind die Abgründe erkennbar, die ihn einst ausgelöst hatten.
Tilman Allert ist Professor für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt und schreibt u. a. über Mikrophänomene des deutschen Alltagslebens. Zuletzt erschien von ihm „Gruß aus der Küche. Soziologie der kleinen Dinge“ (S. Fischer 2017)
Die Methodik führt den Autor zu
abenteuerlichen Zurechnungen.
Doch das kümmert ihn wenig
Im Streit um die
Staatserzählungen wird das Buch
eine wichtige Rolle spielen
Frank Biess:
Republik der Angst.
Eine andere Geschichte der Bundesrepublik.
Rowohlt, Reinbek 2019. 624 Seiten, 22 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
Sorgenvoller Blick: Abbruchhaus in Berlin-Mitte, von Künstlern verziert, 2013.
Foto: Regina Schmeken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und Abgründe
Frank Biess erzählt die Geschichte der Bundesrepublik
in Zyklen der Angst. Ein gelungenes Wagnis
VON TILMAN ALLERT
Es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist. Und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Fluss der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt.“ Auf dieses Diktum Max Webers könnte sich Frank Biess berufen, der eine bundesrepublikanische Gefühlsgeschichte vorlegt, eine historische Analyse, deren perspektivischer Fokus am Beispiel der Angst auf der Handlungswirkung von Emotionen liegt. Wie von der Arbeit eines Historikers nicht anders zu erwarten steht, werden Ereignisse, die sich ins Kollektivgedächtnis eingeschrieben haben, einer raffinierten Lektüre unterzogen. Als die durchgängig motivierende Kraft bestimmt sie die Urteilsbildung in allen politischen Debatten der Nachkriegszeit und liefert die Grundlage einer „anderen Geschichte der Bundesrepublik“. Das Buch ist für den Sachbuchpreis der Buchmesse Leipzig nominiert.
Nicht um Abschnitte, Zäsuren oder gar Epochen, auch nicht um Subsumtion unter einen Begriff geht es – nivellierte Mittelstandsgesellschaft, Risikogesellschaft oder Gesellschaft der Selbständigen – vielmehr um die Empfindung der Angst, die sich zyklisch reproduziert, an wechselnden Objekten mit wechselnden Akteuren. Der Leser staunt nicht schlecht: Dreißig Jahre nach dem Mauerfall schreibt jemand eine Geschichte des ehemaligen westdeutschen Teilstaats, ein Lebenskosmos, der nun schon eine Generation zurückliegt; Objekt der nostalgischen Verklärung für die einen, jahrzehntelang Sehnsuchtsort und nach der Wiedervereinigung Menetekel für die anderen. Ein großer Wurf, ein gelungenes Wagnis, methodologisch kühn und dabei gut erzählt.
Frank Biess, der an der University of California in San Diego Europäische Geschichte lehrt, zeichnet in einer Reihe von Fallstudien die affektive Binnenseite der politischen und ökonomischen Erfolgsgeschichte nach und findet wiederkehrende Kristallisationspunkte für das Selbstverständnis der halbierten Nation. Worum die Leute sich sorgen, wie sie sich die Zukunft vorstellen und wie sich die „Präsenz einer katastrophalen und gewaltsamen Vergangenheit“ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Vorstellungen von der eigenen Zukunft legt. Umfangreich recherchiert, mit einem Anmerkungsapparat von mehr als einhundert Seiten, lässt der Autor die Ereignisgeschichte des Landes noch einmal lebendig werden – die Spiegel-Affäre, die Debatten über die Wiederbewaffnung, die Notstandsgesetze, das Waldsterben und die Bewegung der 68er – „revolutionäre Angst“, all das taucht auf, Erinnerungen an die formative Zeit der Republik, in der die Bevölkerung Angstzyklen erlebt, die Lebensgefühl und Zukunftserwartung bestimmen. Auch dass „emotionale Regime“ als Ressourcen für die öffentliche Erregung strategisch eingesetzt werden, zählt nach Biess zum Erfahrungsbestand des Nachkriegsdeutschland.
Wer wir sind – die Antwort auf diese Frage steht den Historikern zu, eine Disziplin, die den Ereignisstrom zu bündeln versteht und daraus eine Erzählung macht, die eine Gegenwartsorientierung darin ermöglicht, dass sie Vergangenes erinnert und auf eine mögliche Zukünftigkeit zu beziehen vermag. Was der Historiker Biess unternimmt, der die autobiografische Initialerinnerung seines Zugriffs – die Friedensbewegung der 80er-Jahre – nicht verschweigt, ist beeindruckend wie kühn. Gestützt von üblich gewordenen Sonderforschungsbereichen sucht die Geschichtswissenschaft Anschluss an die vermeintlich seriösen Wissenschaften: Angst geht immer um, und mit der Angst als Kategorie zu arbeiten, wähnt sich der Autor methodologisch auf der sicheren Seite – ein Selbstmissverständnis, das Biess, der vorsichtig genug von „Zyklen“ spricht, zu gelegentlich abenteuerlichen Zurechnungen führt, unbekümmert und im Elan desjenigen, der eine große Erzählung vorlegen will.
Sorgen um den Verlust des Arbeitsplatzes, die im Prozess der Arbeitsteilung freigesetzt und politisch von Gewerkschaften artikuliert werden, werden kurzerhand „moderne Angst“ genannt. Dass Leute ungeduldig und gegenüber den Institutionen der parlamentarischen Demokratie skeptisch geworden sind, wird „demokratische Angst“ genannt. Auch wenn es darum geht, die Konstellation von Akteuren, Milieus und Arenen herauszuarbeiten, melden sich Zweifel.
Wie sind die empirischen Evidenzen – Umfragen, Liedtexte, Tagebucheintragungen, Studien von Versicherungsunternehmen werden kühn kombiniert – für die These von den Zyklen der Angst, die das Land erfassen, zu sichern? Wer hat im Einzelnen vor wem Angst? Welche Akteure lösen Angst aus und welche wiederum sind Träger der Angst? Und schließlich die Problematik, dass den einen der starke Staat Angst macht, anderen wiederum der Staat als zu schwach erlebt wird.
Im Taumel der vielen Ängste, deren Wirkungsmacht von Kapitel zu Kapitel ausgebreitet wird, und mit Angstszenarien, die den Terrorismus und die Zerstörung der Natur als „allgegenwärtig“ beschreiben, ließe sich gegen das alarmistische Szenario der Einwand wagen: Warum eigentlich nicht ein bundesrepublikanischer Freudezyklus? Also ein Auf und Ab der Daseinsakzeptanz, landsmannschaftlich gefärbt, beginnend mit den Albernheiten eines Adolf Tegtmeier, bis hin zu sublimierten Formen von Selbstironie, die das Land seinen Humoristen Loriot, Gerhard Polt oder Harald Schmidt und den philosophischen Einlassungen Odo Marquards verdankt. Warum nicht just hierin das für das gebeutelte Europa möglicherweise avantgardistische Gesicht der zweiten Republik herausstellen, nicht deren Autos, sondern das institutionelle Format eines Staates, zu dessen Anpassungsfähigkeit es ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende gehören wird, die ungeheure Anstrengung einer Gesellschaftstransformation zustandezubringen und auf hoher See ein Leck zu reparieren, das die Stürme der Weltgeschichte ins deutsche Boot gerissen hatte? Doch spätestens wenn einem bei dem Gedanken an die unvergesslichen Vertreter der zweiten Frankfurter Schule einfällt, dass deren Erfolgsgeschichte in einem Magazin namens Titanic begonnen hatte, erweist sich die Suggestivität dieses ungewöhnlichen Ansatzes.
Geschichte ist eine Selbstvergewisserung in Anerkennung des Geschicks, das einem widerfahren ist, so möchte man mit dem Philosophen Hans Blumenberg in Erinnerung rufen, dass es sich um geistige Vorgänge handelt, um Kulturbedeutsamkeiten eines historischen Geschehens, die Urteilsbildung ermöglichen und den vielfältigen Partizipationsangeboten moderner Demokratien Intensität und Richtung verleihen. Die Kategorie der Angst verstellt den Blick auf die Weichenstellungen, die der Nationalgeschichte ihr einzigartiges Gepräge geben und zu denen im Generationenaustausch stets Einstellungen und politische Präferenzen entstehen, die konfliktiv und damit unabgeschlossen sind, stets strittig und Material sowohl für den politischen Prozess als auch für die zivilgesellschaftliche Moral. Im analytischen Zugriff diese geistigen Dimensionen zu vernachlässigen, und auf eine Geschichte der Angst zu setzen, suggeriert Solidität und läuft Gefahr, der Psychologisierung Vorschub zu leisten und der im Ganzen beeindruckenden Erzählung ihre Spannung zu nehmen.
Kinder brauchen Märchen, und damit am Ende alles gut wird, kommen die Geschichten ohne Hexen und Drachen als die Instanzen des Bösen nicht aus. Die Urteilsbildung in Systemen mit durchgesetzter Volkssouveränität setzt nicht Märchen, sondern Staatserzählungen voraus, in denen ein Volk sich wiedererkennen kann. So liest man das Werk des Historikers und entnimmt ihm einen Subtext, vom Autor contre coeur ausgebreitet: Selbst wenn der Autor im Ausblick auf das, was nach dem Jahr 1989 kommt, seiner Perspektive noch einmal zuspitzt und suggeriert, für die Gegenwärtigen gehe es mit Klimawandel und Migrationen mit der Angst erst so richtig los: Hier schreibt jemand eine eigentümlich stimmige Hommage an das komplexe Institutionengefüge des modernen Verfassungsstaates Deutschland, der die kollektive Erfahrung eines selbsterzeugten Rückfalls in die Barbarei, einen von Melancholie statt Trauer unterlegtem asketischen Aufbauwillen, eine zivilisatorische Regression, eine weltpolitische Eckensteherexistenz sowie eine bis zum Bersten gebrachte ökonomische Produktivität zu bewältigen vermochte.
Nicht „Angst essen Seele auf“, sondern im Rücken der Angst gelangt ein erstaunliches Gebilde zur Blüte, dessen Vertreter in den Regierungen, Gerichten und Parlamenten eine wohltuende Nüchternheit, aber gepaart mit einem Gestaltungswillen an den Tag gelegt haben, der in Europa seinesgleichen sucht und dessen Grundlagen in dem zu finden sind, das seit den Tagen Max Webers die Klugheit von Politik, das Bohren dicker Bretter ausmacht: im Streit und Interessenkampf Leidenschaft, Augenmaß und Sachorientierung zur Geltung zu bringen, kompromissorientiert in den Ängsten die Sorge erkennen. Dass diese Leistung mit für die Länder Europas exemplarischem Wert der Wirkungskraft der Angst geschuldet sei, ist bei aller eigenwilligen Zurechnungsakrobatik der Autors die überraschende Pointe des Buchs und ein lesenswerter Befund, der im Streit um die Staatserzählungen eine gewichtige Rolle spielen wird.
Es ist wie mit dem Schrecken selbst: erst wenn man ihn verstanden und in diesem geistigen Verständnis überwunden hat, sind die Abgründe erkennbar, die ihn einst ausgelöst hatten.
Tilman Allert ist Professor für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt und schreibt u. a. über Mikrophänomene des deutschen Alltagslebens. Zuletzt erschien von ihm „Gruß aus der Küche. Soziologie der kleinen Dinge“ (S. Fischer 2017)
Die Methodik führt den Autor zu
abenteuerlichen Zurechnungen.
Doch das kümmert ihn wenig
Im Streit um die
Staatserzählungen wird das Buch
eine wichtige Rolle spielen
Frank Biess:
Republik der Angst.
Eine andere Geschichte der Bundesrepublik.
Rowohlt, Reinbek 2019. 624 Seiten, 22 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
Sorgenvoller Blick: Abbruchhaus in Berlin-Mitte, von Künstlern verziert, 2013.
Foto: Regina Schmeken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2019Im Spiegel kollektiver Befürchtungen
Frank Biess schreibt eine Geschichte der Bundesrepublik am Leitfaden kollektiver Ängste. Aber Arbeit am Begriff ist dabei nicht seine Sache.
Von Patrick Bahners
Am 25. September 2008 gab der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück im Bundestag eine Regierungserklärung ab. Der erste Satz lautete: "Immer mehr Unsicherheiten, ja Ängste machen sich bei den Menschen breit, nicht nur in unserem Land, sondern fast weltweit." Steinbrück sah sich veranlasst, gleich am Anfang eine "wichtige Feststellung" zu treffen: "Die Bürgerinnen und Bürger müssen keine Angst um ihr Erspartes haben." Er wiederholte sie am Ende. Diese Worte des Ministers waren nicht genug. Am 5. Oktober traten Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister gemeinsam vor die Kameras, um den Bürgern das Versprechen zu geben, dass die Bundesregierung für alle Spareinlagen von Privatleuten in voller Höhe einstehe. Die Titelgeschichte der am Tag darauf erscheinenden Ausgabe des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" hatte die Schlagzeile: "Angst vor der Apokalypse". "Handelsblatt" und "Frankfurter Rundschau" brachten Artikel mit den Überschriften "Kampf gegen die Angst" und "Im Bann der Angst".
In "Republik der Angst", dem Buch des Historikers Frank Biess, das die Geschichte der Bundesrepublik im Spiegel übermächtiger kollektiver Befürchtungen erzählen will, kommt diese Episode nicht vor. Die Finanzkrise von 2008 wird im Epilog über die Ängste der Gegenwart ganz am Rande erwähnt. Frank Biess, der an der University of California in San Diego lehrt, gliedert die westdeutsche Nachkriegsgeschichte als Abfolge von "Angstzyklen", von der "Vergeltungsangst" der Besatzungszeit über die "Kriegsangst" der heißen Phase des Kalten Krieges bis zu deren Wiederkehr und Steigerung in der "apokalyptischen Angst" der Friedensbewegung. Der Angst vor dem Zusammenbruch der Volkswirtschaft und dem Verlust des Volksvermögens widmet Biess kein Kapitel.
Das ist aus mehreren Gründen befremdlich. Hauptthema des Buches ist die nachhaltige Prägung der Zukunftserwartungen der Westdeutschen durch die Erinnerung an die deutsche Katastrophe von Diktatur, Niederlage und Völkermord. Dass die Inflation des Jahres 1923 in der Wirtschaftsgesinnung der Deutschen und insbesondere der bürgerlichen Schichten Spuren hinterlassen habe, die man in der Alltagssprache der Gebildeten traumatisch nennt, ist eine gängige Annahme. Hält Biess sie für unbelegt?
Es zeichnet den Autor aus, dass er nicht spekulieren will. In Abgrenzung von älterer nationalpsychologischer Literatur rechnet er nicht mit nachweisbaren mentalen Ablagerungen vermeintlicher Urtatsachen der deutschen Geschichte wie Vielstaaterei und Reformation. Der politischen Geschichte der Weimarer Republik schreibt Biess allerdings durchaus eine mahnende Präsenz im Gefühlshaushalt der zweiten Demokratie zu. "Demokratische Angst" nennt er reichlich künstlich die von professionellen Beobachtern der Politik artikulierte Befürchtung, Bonn könne am Ende doch Weimar werden. Die Vermutung, die Zustimmung der Bevölkerung zur Verfassung sei durch die positive Wirtschaftsentwicklung bedingt, die Bundesrepublik lebe insofern auf Kredit, erörtert Biess in diesem Zusammenhang nicht.
Wenn er die Inflationsangst für überschätzt hält, hätte er das zum Thema machen können - um seinen Ansatz durch eine Gegenprobe abzusichern. Er möchte nämlich, der buchhandelsüblichen Übertreibung von Titel und Untertitel zum Trotz, gar nicht behaupten, dass die Bundesdeutschen pausenlos angstgetrieben agiert hätten. Aber auch das zyklische Modell suggeriert eine Totalgeschichte. Die Angstzyklen sind offenkundig den Konjunkturzyklen nachgebildet. Biess vernachlässigt die Wirtschaft - und damit zugleich die Feinarbeit am Begriff.
Eines der acht Kapitel hat ein ökonomisches Sujet: eine "moderne Angst", die sich gerade wegen des wundersamen Ausbleibens von Wirtschaftskrisen habe ausbreiten können. Wie heute die Digitalisierung habe in den sechziger Jahren die Automatisierung eine allgemeine Beunruhigung ausgelöst. Belege dafür sind Traktate, Leitartikel, Arbeitsaufträge für Arbeitsgruppen. Aber genügt es denn, dass eine Besorgnis von vielen Leuten geteilt wird, weil sie sich auf einen Vorgang richtet, der den Alltag von sehr vielen Leuten verändern wird, um sie mit dem Elementarbegriff der Angst zu klassifizieren? Auch wo in den Quellen der vorweggenommene Ärger über insgeheim als unaufhaltsam eingestufte Änderungen Angst genannt wird, müsste der Historiker diese pathetische Stilisierung nicht übernehmen. Der Begriff der Angst dient Biess einfach als Passepartout für diskursive Unruhe.
Ein Beispiel dafür, dass etwa eine Fabrik besetzt worden wäre, weil die Arbeiter ihre Ersetzung durch Rechenmaschinen hätten verhindern wollen, kann Biess nicht nennen. An frühere Schübe der Rationalisierung, wie die Verdrängung der Handweberei, knüpft sich im kollektiven Gedächtnis aber sehr wohl die Erinnerung an vorauseilende hilflose Widerstandshandlungen: Angstreaktionen. Und solche einfachen Handlungen, die in der Summe das System hätten zerstören können, wollte Steinbrück 2008 mit seinen beschwörenden Worten verhindern: Er wollte die Leute davon abhalten, zur Bank zu gehen und ihr Geld abzuheben.
In der Einleitung beruft sich Biess auf den Wissensstand der "interdisziplinären Emotionsforschung", um das kognitive Moment der Angst zu betonen, die Funktion eines Frühwarnsystems. Er will die Annahme physiologischer Universalien vermeiden, die einer Geschichte der Emotionen keinen Spielraum ließen, und spielt deshalb wohl doch zu sehr herunter, was der Emotionshistoriker aus der Gattungsgeschichte lernen kann. Eine eingrenzende Definition von Angst wäre das Gefühl eines Lebewesens für eine Bedrohung, auf die es entweder mit Angriff reagieren kann oder mit Flucht.
Warum wirkt es schief, wenn Biess die skeptischen Einschätzungen der Überlebenschancen der Bonner Republik, die liberale Wissenschaftler wie Karl Dietrich Bracher oder Wilhelm Hennis unter dem Eindruck der Notstandsgesetze oder des Protests gegen die Notstandsgesetze vortrugen, unter Angst subsumiert? Die Perspektive ist hoffnungslos pathologisch: Das Interesse an der politischen Erziehung des Herzens bleibt im Schulmeisterlichen stecken, wenn eine übers Ziel hinausschießende Polemik als Notwehrexzess verbucht werden muss. Es gibt ungute Gefühle, die einen guten Dienst für die Schärfung der Aufmerksamkeit leisten, ohne zur Wahl zwischen Angriff und Flucht zu nötigen. Golo Mann rühmte Konrad Adenauer in dieser Zeitung als "Staatsmann der Sorge". Frank Biess hätte sein Buch über ein Land im Frühwarnmodus auch "Republik der Sorge" nennen können, "Republik des Unbehagens" oder "Republik der Kritik". Aber dann hätte es wohl sein Verlag mit der Angst zu tun bekommen.
Frank Biess: "Republik der Angst". Eine andere Geschichte der Bundesrepublik.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 624 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frank Biess schreibt eine Geschichte der Bundesrepublik am Leitfaden kollektiver Ängste. Aber Arbeit am Begriff ist dabei nicht seine Sache.
Von Patrick Bahners
Am 25. September 2008 gab der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück im Bundestag eine Regierungserklärung ab. Der erste Satz lautete: "Immer mehr Unsicherheiten, ja Ängste machen sich bei den Menschen breit, nicht nur in unserem Land, sondern fast weltweit." Steinbrück sah sich veranlasst, gleich am Anfang eine "wichtige Feststellung" zu treffen: "Die Bürgerinnen und Bürger müssen keine Angst um ihr Erspartes haben." Er wiederholte sie am Ende. Diese Worte des Ministers waren nicht genug. Am 5. Oktober traten Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister gemeinsam vor die Kameras, um den Bürgern das Versprechen zu geben, dass die Bundesregierung für alle Spareinlagen von Privatleuten in voller Höhe einstehe. Die Titelgeschichte der am Tag darauf erscheinenden Ausgabe des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" hatte die Schlagzeile: "Angst vor der Apokalypse". "Handelsblatt" und "Frankfurter Rundschau" brachten Artikel mit den Überschriften "Kampf gegen die Angst" und "Im Bann der Angst".
In "Republik der Angst", dem Buch des Historikers Frank Biess, das die Geschichte der Bundesrepublik im Spiegel übermächtiger kollektiver Befürchtungen erzählen will, kommt diese Episode nicht vor. Die Finanzkrise von 2008 wird im Epilog über die Ängste der Gegenwart ganz am Rande erwähnt. Frank Biess, der an der University of California in San Diego lehrt, gliedert die westdeutsche Nachkriegsgeschichte als Abfolge von "Angstzyklen", von der "Vergeltungsangst" der Besatzungszeit über die "Kriegsangst" der heißen Phase des Kalten Krieges bis zu deren Wiederkehr und Steigerung in der "apokalyptischen Angst" der Friedensbewegung. Der Angst vor dem Zusammenbruch der Volkswirtschaft und dem Verlust des Volksvermögens widmet Biess kein Kapitel.
Das ist aus mehreren Gründen befremdlich. Hauptthema des Buches ist die nachhaltige Prägung der Zukunftserwartungen der Westdeutschen durch die Erinnerung an die deutsche Katastrophe von Diktatur, Niederlage und Völkermord. Dass die Inflation des Jahres 1923 in der Wirtschaftsgesinnung der Deutschen und insbesondere der bürgerlichen Schichten Spuren hinterlassen habe, die man in der Alltagssprache der Gebildeten traumatisch nennt, ist eine gängige Annahme. Hält Biess sie für unbelegt?
Es zeichnet den Autor aus, dass er nicht spekulieren will. In Abgrenzung von älterer nationalpsychologischer Literatur rechnet er nicht mit nachweisbaren mentalen Ablagerungen vermeintlicher Urtatsachen der deutschen Geschichte wie Vielstaaterei und Reformation. Der politischen Geschichte der Weimarer Republik schreibt Biess allerdings durchaus eine mahnende Präsenz im Gefühlshaushalt der zweiten Demokratie zu. "Demokratische Angst" nennt er reichlich künstlich die von professionellen Beobachtern der Politik artikulierte Befürchtung, Bonn könne am Ende doch Weimar werden. Die Vermutung, die Zustimmung der Bevölkerung zur Verfassung sei durch die positive Wirtschaftsentwicklung bedingt, die Bundesrepublik lebe insofern auf Kredit, erörtert Biess in diesem Zusammenhang nicht.
Wenn er die Inflationsangst für überschätzt hält, hätte er das zum Thema machen können - um seinen Ansatz durch eine Gegenprobe abzusichern. Er möchte nämlich, der buchhandelsüblichen Übertreibung von Titel und Untertitel zum Trotz, gar nicht behaupten, dass die Bundesdeutschen pausenlos angstgetrieben agiert hätten. Aber auch das zyklische Modell suggeriert eine Totalgeschichte. Die Angstzyklen sind offenkundig den Konjunkturzyklen nachgebildet. Biess vernachlässigt die Wirtschaft - und damit zugleich die Feinarbeit am Begriff.
Eines der acht Kapitel hat ein ökonomisches Sujet: eine "moderne Angst", die sich gerade wegen des wundersamen Ausbleibens von Wirtschaftskrisen habe ausbreiten können. Wie heute die Digitalisierung habe in den sechziger Jahren die Automatisierung eine allgemeine Beunruhigung ausgelöst. Belege dafür sind Traktate, Leitartikel, Arbeitsaufträge für Arbeitsgruppen. Aber genügt es denn, dass eine Besorgnis von vielen Leuten geteilt wird, weil sie sich auf einen Vorgang richtet, der den Alltag von sehr vielen Leuten verändern wird, um sie mit dem Elementarbegriff der Angst zu klassifizieren? Auch wo in den Quellen der vorweggenommene Ärger über insgeheim als unaufhaltsam eingestufte Änderungen Angst genannt wird, müsste der Historiker diese pathetische Stilisierung nicht übernehmen. Der Begriff der Angst dient Biess einfach als Passepartout für diskursive Unruhe.
Ein Beispiel dafür, dass etwa eine Fabrik besetzt worden wäre, weil die Arbeiter ihre Ersetzung durch Rechenmaschinen hätten verhindern wollen, kann Biess nicht nennen. An frühere Schübe der Rationalisierung, wie die Verdrängung der Handweberei, knüpft sich im kollektiven Gedächtnis aber sehr wohl die Erinnerung an vorauseilende hilflose Widerstandshandlungen: Angstreaktionen. Und solche einfachen Handlungen, die in der Summe das System hätten zerstören können, wollte Steinbrück 2008 mit seinen beschwörenden Worten verhindern: Er wollte die Leute davon abhalten, zur Bank zu gehen und ihr Geld abzuheben.
In der Einleitung beruft sich Biess auf den Wissensstand der "interdisziplinären Emotionsforschung", um das kognitive Moment der Angst zu betonen, die Funktion eines Frühwarnsystems. Er will die Annahme physiologischer Universalien vermeiden, die einer Geschichte der Emotionen keinen Spielraum ließen, und spielt deshalb wohl doch zu sehr herunter, was der Emotionshistoriker aus der Gattungsgeschichte lernen kann. Eine eingrenzende Definition von Angst wäre das Gefühl eines Lebewesens für eine Bedrohung, auf die es entweder mit Angriff reagieren kann oder mit Flucht.
Warum wirkt es schief, wenn Biess die skeptischen Einschätzungen der Überlebenschancen der Bonner Republik, die liberale Wissenschaftler wie Karl Dietrich Bracher oder Wilhelm Hennis unter dem Eindruck der Notstandsgesetze oder des Protests gegen die Notstandsgesetze vortrugen, unter Angst subsumiert? Die Perspektive ist hoffnungslos pathologisch: Das Interesse an der politischen Erziehung des Herzens bleibt im Schulmeisterlichen stecken, wenn eine übers Ziel hinausschießende Polemik als Notwehrexzess verbucht werden muss. Es gibt ungute Gefühle, die einen guten Dienst für die Schärfung der Aufmerksamkeit leisten, ohne zur Wahl zwischen Angriff und Flucht zu nötigen. Golo Mann rühmte Konrad Adenauer in dieser Zeitung als "Staatsmann der Sorge". Frank Biess hätte sein Buch über ein Land im Frühwarnmodus auch "Republik der Sorge" nennen können, "Republik des Unbehagens" oder "Republik der Kritik". Aber dann hätte es wohl sein Verlag mit der Angst zu tun bekommen.
Frank Biess: "Republik der Angst". Eine andere Geschichte der Bundesrepublik.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 624 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Martin Hubert lernt beim Historiker Frank Biess unterschiedliche Perspektiven auf das Thema "Deutsche Angst" kennen. Dass Angst ein politisches und soziales Gefühl ist, das auf reale Ereignisse zurückgeht und sie gleichfalls beeinflusst, vermittelt ihm der Autor anhand von Tagebüchern,Theorien und Umfragen. Subjektive Angstäußerungen werden so auf Historisches bezogen, erklärt der Rezensent. Etappen, Angstzyklen, von der Angst vor einem Rückfall in den Militarismus in den fünfziger Jahren bis zur Angst vor Arbeitslosigkeit und der Funktionalisierung von Angst durch Pegida und AfD schreitet der Rezensent gemeinsam mit dem Autor ab. Ein Buch mit hohem Erkenntnisgewinn, versichert er, auch wenn der Leser nicht allen Thesen des Autors zustimmen wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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'Republik der Angst' ist ein historisches Buch, das den Nerv unserer Gegenwart trifft ... Bei Biess bekommt jene gute alte Bundesrepublik wieder die emotionale Dramatik, von der sie spätere Deuter ausnüchtern wollen. Alexander Cammann Die Zeit 20190314