Über Menschlichkeit in finsteren Zeiten - die weltweit gefeierte Parabel des Ukrainers Ilya Kaminsky. "Es ist ein Buch des sehr alten Wissens über etwas, das gerade erst geschieht." Marie Schmidt, SZ online
"Wir lebten glücklich während des Krieges", schreibt prophetisch der Ukrainer Ilya Kaminsky in seiner weltweit gefeierten Parabel. Als ein tauber Junge, der einem Puppenspiel zusieht, von Soldaten erschossen wird, leisten die Bewohner der okkupierten Stadt Vasenka Widerstand: Sie stellen sich taub und koordinieren ihren Protest in der Gebärdensprache. Unter den Oppositionellen sind auch Alfonso und Sonya, die ein Kind erwarten. Vasenka ist ein Kriegsschauplatz, aber auch ein Ort, an dem geliebt wird, wo Menschen einander Zeichen der Solidarität geben. Kaminskys Buch konfrontiert uns mit Kriegsbildern von unheimlicher Kraft: Es ist zugleich Liebesgeschichte, eine Elegie und ein dringendes Plädoyer gegen das Schweigen.
"Wir lebten glücklich während des Krieges", schreibt prophetisch der Ukrainer Ilya Kaminsky in seiner weltweit gefeierten Parabel. Als ein tauber Junge, der einem Puppenspiel zusieht, von Soldaten erschossen wird, leisten die Bewohner der okkupierten Stadt Vasenka Widerstand: Sie stellen sich taub und koordinieren ihren Protest in der Gebärdensprache. Unter den Oppositionellen sind auch Alfonso und Sonya, die ein Kind erwarten. Vasenka ist ein Kriegsschauplatz, aber auch ein Ort, an dem geliebt wird, wo Menschen einander Zeichen der Solidarität geben. Kaminskys Buch konfrontiert uns mit Kriegsbildern von unheimlicher Kraft: Es ist zugleich Liebesgeschichte, eine Elegie und ein dringendes Plädoyer gegen das Schweigen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Marie Schmidt liest den Gedichtband des in den USA lebenden, in Odessa geborenen Dichters Ilya Kaminsky mit Spannung. Wie durch die Zeit gefallen kommen die Verse über tote Kinder in den Straßen zu ihr und erinnern sie an die Gewalt in der Ukraine gerade jetzt, obwohl der Autor über Jahre an dem Text gearbeitet hat, wie sie weiß. Die "fragile Klarheit" und emotionale Direktheit der Verse verblüfft die Rezensentin noch in der Übersetzung von Anja Kampmann. Kaminskys Symbolik für den Krieg, dessen Auswirkungen im Text das Schicksal eines Puppenspielers, seiner Geliebten und seiner Arbeitgeberin bestimmen, findet Schmidt stark. Mit einer solchen Bildsprache werden Erinnerungen an den Krieg erst möglich, ahnt Schmidt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2022Nur noch Türrahmen
Ilya Kaminskys Lyrikband "Republik der Taubheit"
Ilya Kaminsky, 1977 in Odessa in eine jüdische Familie geboren, ist ein shooting star der neuen amerikanischen Lyrik. Die Eltern, die 1993 mit ihm in die USA emigriert waren, hatten Ilya die Neue Welt und die neue Sprache nahegebracht, in der er schon bald dichtete und übersetzte. Er veröffentlichte zwei Gedichtbände, "Dancing in Odessa" (2004) und "Deaf Republic"(2019); beide wurden mehrfach als Bücher des Jahres gerühmt und in zwanzig Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschien bislang aber nur das Odessa-Buch in einem Kleinverlag. Jetzt bringt Hanser "Deaf Republic" als einsprachige Ausgabe in der Übersetzung der Lyrikerin Anja Kampmann. Sie ersetzte des Dichters schlichten Titel durch das deutlich ambitioniertere "Republik der Taubheit".
Apropos Taubheit: Auch bei Kaminsky - wie so oft bei Dichtern - ist ein Ereignis der Kindheit von besonderer Bedeutung. Mit vier Jahren wurde Ilya durch Mumps taub. Das wird im Buch nicht eigens erwähnt, doch nicht bloß im Titel, auch im Text ist mehrfach von Taubheit die Rede, etwa: "Taube haben etwas zu sagen, / was nicht einmal sie selbst hören können." Aber was sagt das Buch, und wie sagt es, was es sagt?
"Republik der Taubheit" ist zwar in freien Versen geschrieben, doch kein eigentliches Gedichtbuch. Es gibt vor, ein Theaterstück zu sein, und nennt zu Beginn die "Dramatis personae". Darauf folgen zwei Akte, die in einer besetzten Stadt spielen: "1. Die Einwohner der Stadt erzählen die Geschichte von Sonya und Alfonso, 2. Die Einwohner der Stadt erzählen die Geschichte von Momma Galya."
Der erste Teil ist eine ergreifende Liebesgeschichte: Der Puppenspieler Alfonso Barabinski macht der Kollegin Sonya ein Kind. Sie kommt durch die Soldateska zu Tode, und Alfonso ersticht einen der Soldaten, um schließlich erhängt zu werden. Mehr noch berührt die Passage, in der ein Offizier der Besatzungsarmee den tauben Jungen Petya erschießt: "Ich sah, wie der Offizier zielte, wie der taube Junge Eisen und Feuer schluckte mit seinem Mund - / sein Gesicht auf dem Asphalt, / diese Karte aus Knochen und offenen Adern."
Die zweite Geschichte handelt von Momma Galya Armolinskaya. Sie, die Besitzerin der Puppenbühne, wirkt wie eine Figur aus einer ins Bittere gewendeten Commedia dell'Arte. Sie ist es, die den Protest gegen die Besatzer beginnt. "Sie zieht an einem Zigarettenstummel und brüllt einen Soldaten an: 'Geh heim! Du hast deine Frau nicht geküsst, seit Noah in See stach!'" Momma Galya bewegt sich in der zerstörten Stadt wie in einer komisch-ruinösen Szene: "Das Kind wie einen gebrochenen Arm tragend, schleicht Galya über den Marktplatz. Von den gesprengten Gebäuden in der Tetnastraße stehen nur noch Türrahmen. Türen und Puppen, die von den Klinken baumeln, eine für jeden erschossenen Bürger."
Es gibt viele Momente in Kaminskys Poem, die uns an die Zerstörungs- und Entsetzensbilder aus dem gegenwärtigen Krieg in der Ukraine erinnern. Dabei dürfte "Deaf Republic" womöglich auf Berichte und Eindrücke aus der Zeit der Krim- Okkupation zurückgehen. Wie auch immer, das Poem des Jahres 2019 wirkt wie Prophetie. Doch Kaminsky ist weder Prophet noch Aktualitätenreporter. Er meidet den puren Horror, er begnügt sich mit Andeutungen, Schnappschüssen, Verzögerungen: "Etwas rennt die Straße hinunter, stürzt, kommt nicht wieder hoch." Oder: "Schnee fällt, und die Hunde laufen durch die Straße wie Sanitäter." Kaminskys Aussparungen dienen einem konzentrierten Blick auf das Ganze der Welt. Die okkupierte Stadt ist die Bühne für die Akteure einer tieferen Wirklichkeit. "Unser Land ist die Bühne: wenn Patrouillen marschieren, sitzen wir auf unseren Händen."
Die Welt des Puppenspiels transzendiert den Mechanismus eines wirklichen Krieges. Der Dichter lässt uns nicht vergessen, dass auch wir Leser Zuschauer sind, nämlich solche, die im Frieden leben. Es kann durchaus ein Land sein, in dem ein Polizist einen Mann durchs Autofenster erschießt, weil er nicht sofort den Führerschein ausgehändigt bekommt. Also etwa Amerika, "das Land des Geldes". Auch hier kann die Sache mit dem toten Jungen passieren. "Unser Land ist eines, in dem ein Junge, der von der Polizei erschossen wurde, stundenlang / auf dem Gehsteig liegt."
Kaminsky ist durchaus ein Kritiker des Kapitalismus, des "großartigen Lands des Geldes". So reiht sich der Dichter aus Odessa in die amerikanische Tradition seit Walt Whitman und Ezra Pound ein. Mehr noch, er schreibt an alle, die noch in den Ländern des Friedens leben: "Ich setze mich hin, um dir zu schreiben und zu sagen, was ich weiß." Wir lesen sein Buch von der Taubheit mit Rührung und Bewunderung. HARALD HARTUNG
Ilya Kaminsky: "Republik der Taubheit".
Aus dem Englischen von Anja Kampmann. Carl Hanser Verlag, München 2022. 112 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ilya Kaminskys Lyrikband "Republik der Taubheit"
Ilya Kaminsky, 1977 in Odessa in eine jüdische Familie geboren, ist ein shooting star der neuen amerikanischen Lyrik. Die Eltern, die 1993 mit ihm in die USA emigriert waren, hatten Ilya die Neue Welt und die neue Sprache nahegebracht, in der er schon bald dichtete und übersetzte. Er veröffentlichte zwei Gedichtbände, "Dancing in Odessa" (2004) und "Deaf Republic"(2019); beide wurden mehrfach als Bücher des Jahres gerühmt und in zwanzig Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschien bislang aber nur das Odessa-Buch in einem Kleinverlag. Jetzt bringt Hanser "Deaf Republic" als einsprachige Ausgabe in der Übersetzung der Lyrikerin Anja Kampmann. Sie ersetzte des Dichters schlichten Titel durch das deutlich ambitioniertere "Republik der Taubheit".
Apropos Taubheit: Auch bei Kaminsky - wie so oft bei Dichtern - ist ein Ereignis der Kindheit von besonderer Bedeutung. Mit vier Jahren wurde Ilya durch Mumps taub. Das wird im Buch nicht eigens erwähnt, doch nicht bloß im Titel, auch im Text ist mehrfach von Taubheit die Rede, etwa: "Taube haben etwas zu sagen, / was nicht einmal sie selbst hören können." Aber was sagt das Buch, und wie sagt es, was es sagt?
"Republik der Taubheit" ist zwar in freien Versen geschrieben, doch kein eigentliches Gedichtbuch. Es gibt vor, ein Theaterstück zu sein, und nennt zu Beginn die "Dramatis personae". Darauf folgen zwei Akte, die in einer besetzten Stadt spielen: "1. Die Einwohner der Stadt erzählen die Geschichte von Sonya und Alfonso, 2. Die Einwohner der Stadt erzählen die Geschichte von Momma Galya."
Der erste Teil ist eine ergreifende Liebesgeschichte: Der Puppenspieler Alfonso Barabinski macht der Kollegin Sonya ein Kind. Sie kommt durch die Soldateska zu Tode, und Alfonso ersticht einen der Soldaten, um schließlich erhängt zu werden. Mehr noch berührt die Passage, in der ein Offizier der Besatzungsarmee den tauben Jungen Petya erschießt: "Ich sah, wie der Offizier zielte, wie der taube Junge Eisen und Feuer schluckte mit seinem Mund - / sein Gesicht auf dem Asphalt, / diese Karte aus Knochen und offenen Adern."
Die zweite Geschichte handelt von Momma Galya Armolinskaya. Sie, die Besitzerin der Puppenbühne, wirkt wie eine Figur aus einer ins Bittere gewendeten Commedia dell'Arte. Sie ist es, die den Protest gegen die Besatzer beginnt. "Sie zieht an einem Zigarettenstummel und brüllt einen Soldaten an: 'Geh heim! Du hast deine Frau nicht geküsst, seit Noah in See stach!'" Momma Galya bewegt sich in der zerstörten Stadt wie in einer komisch-ruinösen Szene: "Das Kind wie einen gebrochenen Arm tragend, schleicht Galya über den Marktplatz. Von den gesprengten Gebäuden in der Tetnastraße stehen nur noch Türrahmen. Türen und Puppen, die von den Klinken baumeln, eine für jeden erschossenen Bürger."
Es gibt viele Momente in Kaminskys Poem, die uns an die Zerstörungs- und Entsetzensbilder aus dem gegenwärtigen Krieg in der Ukraine erinnern. Dabei dürfte "Deaf Republic" womöglich auf Berichte und Eindrücke aus der Zeit der Krim- Okkupation zurückgehen. Wie auch immer, das Poem des Jahres 2019 wirkt wie Prophetie. Doch Kaminsky ist weder Prophet noch Aktualitätenreporter. Er meidet den puren Horror, er begnügt sich mit Andeutungen, Schnappschüssen, Verzögerungen: "Etwas rennt die Straße hinunter, stürzt, kommt nicht wieder hoch." Oder: "Schnee fällt, und die Hunde laufen durch die Straße wie Sanitäter." Kaminskys Aussparungen dienen einem konzentrierten Blick auf das Ganze der Welt. Die okkupierte Stadt ist die Bühne für die Akteure einer tieferen Wirklichkeit. "Unser Land ist die Bühne: wenn Patrouillen marschieren, sitzen wir auf unseren Händen."
Die Welt des Puppenspiels transzendiert den Mechanismus eines wirklichen Krieges. Der Dichter lässt uns nicht vergessen, dass auch wir Leser Zuschauer sind, nämlich solche, die im Frieden leben. Es kann durchaus ein Land sein, in dem ein Polizist einen Mann durchs Autofenster erschießt, weil er nicht sofort den Führerschein ausgehändigt bekommt. Also etwa Amerika, "das Land des Geldes". Auch hier kann die Sache mit dem toten Jungen passieren. "Unser Land ist eines, in dem ein Junge, der von der Polizei erschossen wurde, stundenlang / auf dem Gehsteig liegt."
Kaminsky ist durchaus ein Kritiker des Kapitalismus, des "großartigen Lands des Geldes". So reiht sich der Dichter aus Odessa in die amerikanische Tradition seit Walt Whitman und Ezra Pound ein. Mehr noch, er schreibt an alle, die noch in den Ländern des Friedens leben: "Ich setze mich hin, um dir zu schreiben und zu sagen, was ich weiß." Wir lesen sein Buch von der Taubheit mit Rührung und Bewunderung. HARALD HARTUNG
Ilya Kaminsky: "Republik der Taubheit".
Aus dem Englischen von Anja Kampmann. Carl Hanser Verlag, München 2022. 112 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Fulminant bringt Ilya Kaminsky Hoffnung, Auflehnung und Ohnmacht in Sprachbilder, die man nicht mehr vergisst." Hansruedi Kugler, St. Galler Tagblatt, 13.06.2022
"Wenn man 'Republik der Taubheit' liest, am besten laut, wird man hineingezogen in einen Klangraum, in dem das Staunen, die Wut und die Trauer sich mehrdimensional entfalten [...] 'Republik der Taubheit' gilt einer universellen Menschlichkeit." Cornelia Geißler, Berliner Zeitung, 30.05.2022
"Ein derart wirkungsmächtiges politisches Gedicht ist schon lange nicht mehr geschrieben worden. [...] Es scheint, als sei plötzlich die poetische Zentralchiffre für die Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine gefunden." Michael Braun, Tagesspiegel, 24.05.2022
"Ilya Kaminsky findet starke Bilder für unaussprechliche Grausamkeit wie auch für kleines Glück. Seine Sprache mäandert zwischen kritischer Distanz und schuldbehafteter Ambivalenz, mit der er als Ausgewanderter auf seine Heimat im Krieg blickt." Miriam Zeh, Deutschlandfunk Kultur Lesart, 23.05.2022
"Doch was ist ein Mann, eine Frau, ein Kind, was ist Leben im Krieg? 'Die Stille zwischen zwei Bombardements.' Der Krieg vernichtet die Menschen, er vernichtet das Menschliche: Das - und das im Grunde Unbegreifliche daran - macht Kaminskys lyrisches Erzählen einem bis ins Mark spürbar." Anne-Catherine Simon, Die Presse, 21.05.2022
"Wenn man 'Republik der Taubheit' liest, am besten laut, wird man hineingezogen in einen Klangraum, in dem das Staunen, die Wut und die Trauer sich mehrdimensional entfalten [...] 'Republik der Taubheit' gilt einer universellen Menschlichkeit." Cornelia Geißler, Berliner Zeitung, 30.05.2022
"Ein derart wirkungsmächtiges politisches Gedicht ist schon lange nicht mehr geschrieben worden. [...] Es scheint, als sei plötzlich die poetische Zentralchiffre für die Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine gefunden." Michael Braun, Tagesspiegel, 24.05.2022
"Ilya Kaminsky findet starke Bilder für unaussprechliche Grausamkeit wie auch für kleines Glück. Seine Sprache mäandert zwischen kritischer Distanz und schuldbehafteter Ambivalenz, mit der er als Ausgewanderter auf seine Heimat im Krieg blickt." Miriam Zeh, Deutschlandfunk Kultur Lesart, 23.05.2022
"Doch was ist ein Mann, eine Frau, ein Kind, was ist Leben im Krieg? 'Die Stille zwischen zwei Bombardements.' Der Krieg vernichtet die Menschen, er vernichtet das Menschliche: Das - und das im Grunde Unbegreifliche daran - macht Kaminskys lyrisches Erzählen einem bis ins Mark spürbar." Anne-Catherine Simon, Die Presse, 21.05.2022