Reserveleben ist eine mitreisende Geschichte über das Schicksal zweier am Kopf miteinander verwachsener siamesischer Zwillinge mit vielsagenden Namen: Zlata (die Goldene) und Srebra (die Silberne). Im Fokus steht ihr Kampf um Individualität, Privatsphäre und ein voneinander getrenntes Leben. Ihr Drama spielt in der Zeit von 1984 bis 2012 zwischen Skopje und London, umfasst aber auch Geschehnisse, die nicht nur Teil ihrer persönlichen, sondern auch der kollektiven Erinnerung und Geschichte sind. Der von Zlata erzählte Roman beginnt an einem Nachmittag im Juni 1984 in einer Vorstadt von Skopje, wo er im August 2012 auch endet. Die zwei Hauptfiguren spielen mit einer Freundin Wahrsagen: wen sie wo und wann heiraten und wie viele Kinder sie bekommen werden, ob ihr Ehemann arm, reich oder gar ein Milliardär sein wird. Zu Beginn spielen Srebra und Zlata, am Ende Zlatas Töchter Marta und Marija. Der Kreis schließt sich - 28 Jahre Leben, Heranwachsen, Leiden, Lieben und Hassen. Die Trennung der siamesischen Zwillinge fällt mit der Trennung der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken zusammen. "Reserveleben" ist nicht nur ein Liebes-, sondern auch ein politischer und Geschichtsroman sowohl über die Zeit, in der wir leben, als auch über Menschen, in denen wir uns wiedererkennen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2022Fast ein balkanisches Märchen
Lidija Dimkovskas Roman "Reserveleben"
Skopje ist zwar die Hauptstadt des heutigen Nordmazedoniens, aber sicher kein Ort der Weltliteratur. Daran ändert auch der umfangreiche Roman "Reserveleben" von Lidija Dimkovska nichts, denn der Radius ihrer beiden Hauptfiguren ist äußerst eingeschränkt: Zlata und Srebra sind ein siamesisches Zwillingspaar. An den Schläfen zusammengewachsen, ist Fortbewegung für sie eine wackelige Angelegenheit. Außerdem sind sie auf der Straße den Blicken der anderen Bewohner Skopjes ausgesetzt, die sie, sofern sie sie nicht schon kennen, anschauen, als wären sie Monster oder seltsame Tiere. Ständig müssen sie die absurdesten Fragen beantworten, unter anderem die, ob sie schon von Geburt an zusammengewachsen gewesen wären.
Aber auch die elterliche Wohnung ist kein Ort des Behagens, im Gegenteil. Der Vater wurde von der eigenen Familie verstoßen, weil er solch unnatürliche Kinder in die Welt gesetzt hat. Unablässig lässt er die beiden und auch seine Frau wissen, dass sie ein einziges Unglück für ihn seien. Die Mutter dagegen macht nicht viele Worte, ihre Lieblosigkeit spricht aus jeder Handlung. Nicht ein einziges Spielzeug etwa besitzen Zlata und Srebra; sie haben nur sich selbst. So ist es kein Wunder, dass sie sich am liebsten gegenseitig los wären, denn schließlich ist die jeweils andere für die Misere mitverantwortlich.
Dabei ist es eher Srebra, die Aufbrausendere der beiden, die davon träumt, dass sie irgendwann getrennt werden. Zlata, die Erzählerin der Geschichte, ist vor allem das: Erzählerin und Beobachterin. Eine, die mitläuft, was im Fall von siamesischen Zwillingen wörtlich zu nehmen ist. Trotz ihrer literarischen und theologischen Interessen schreibt sie sich, als sie die Schule hinter sich haben, mit ihrer Schwester in der juristischen Fakultät ein.
Aber bis dahin ist es ein weiter Weg, bis dahin stirbt die einzige Freundin, und bis dahin werden aus den beiden Mädchen, als sie in den Achtzigerjahren aufwachsen und Skopje noch Hauptstadt der jugoslawischen Teilrepublik Mazedonien ist, junge Frauen. Sie bekommen Pickel und ihre erste Regelblutung, und nicht genug, dass sie immer gemeinsam zur Toilette gehen müssen, sie müssen auch abwechselnd dieselben aus Lumpen gefertigten Binden tragen, weil ihre Mutter ihnen nicht zwei Paar zugesteht: "Ich nahm die Hände von der Brille und schaute in den Topf, und dort saugte eine fette, schwarze Kakerlake das Blut aus Srebras Binden, die sie am Morgen hineingeworfen hatte. Mir wurde von dem Anblick übel, ich begann zu weinen. Unsere Mutter kam ins Bad, und als sie sah, was los war, sagte sie: 'Halb so wild, eine Kakerlake.'"
Die Kunst von "Reserveleben" - bereits 2012 im Original erschienen und von Alexander Sitzmann sauber übersetzt - liegt darin, dass die Geschichte ganz kunstlos erzählt wird: Sie handelt vom Aufwachsen zweier Mädchen in Mazedonien, die zufällig siamesische Zwillinge sind. Ein schwieriger Zustand, aber einer, an den sie von Geburt an gewöhnt sind und der sich auch nicht ändern lässt, zumindest nicht in diesem Winkel des Balkans. So flüchten die Kinder immer wieder zu Tante und Großmutter, wo man sie mehr liebt als zu Hause. Srebra verliebt sich irgendwann sogar in einen Jungen und er sich auch in sie, und an dieser Stelle - die jugoslawischen Teilungskriege laufen im Hintergrund mit - wird aus dem realistischen und sehr geradlinig erzählten Roman fast ein balkanisches Märchen.
Dann aber kommt es tatsächlich in einem Londoner Krankenhaus zur Trennung von Srebra und Zlata, und an dieser Stelle, nach gut dreihundert souverän erzählten Seiten, auf denen die Kakerlaken-Binden den grellsten Moment markieren, kippt die Erzählung ins Farcenhafte, als würde mit der Trennung die eigentliche Erzählgrundlage wegfallen und der Roman seine Richtung verlieren. Das ist zwar schade, aber als Debüt ist "Reserveleben" durchaus eine beachtliche Leistung. TOBIAS LEHMKUHL
Lidija Dimkovska: "Reserveleben".
Roman.
Aus dem
Mazedonischen von Alexander Sitzmann. Drava Verlag,
Klagenfurt 2022.
508 S., br., 21,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lidija Dimkovskas Roman "Reserveleben"
Skopje ist zwar die Hauptstadt des heutigen Nordmazedoniens, aber sicher kein Ort der Weltliteratur. Daran ändert auch der umfangreiche Roman "Reserveleben" von Lidija Dimkovska nichts, denn der Radius ihrer beiden Hauptfiguren ist äußerst eingeschränkt: Zlata und Srebra sind ein siamesisches Zwillingspaar. An den Schläfen zusammengewachsen, ist Fortbewegung für sie eine wackelige Angelegenheit. Außerdem sind sie auf der Straße den Blicken der anderen Bewohner Skopjes ausgesetzt, die sie, sofern sie sie nicht schon kennen, anschauen, als wären sie Monster oder seltsame Tiere. Ständig müssen sie die absurdesten Fragen beantworten, unter anderem die, ob sie schon von Geburt an zusammengewachsen gewesen wären.
Aber auch die elterliche Wohnung ist kein Ort des Behagens, im Gegenteil. Der Vater wurde von der eigenen Familie verstoßen, weil er solch unnatürliche Kinder in die Welt gesetzt hat. Unablässig lässt er die beiden und auch seine Frau wissen, dass sie ein einziges Unglück für ihn seien. Die Mutter dagegen macht nicht viele Worte, ihre Lieblosigkeit spricht aus jeder Handlung. Nicht ein einziges Spielzeug etwa besitzen Zlata und Srebra; sie haben nur sich selbst. So ist es kein Wunder, dass sie sich am liebsten gegenseitig los wären, denn schließlich ist die jeweils andere für die Misere mitverantwortlich.
Dabei ist es eher Srebra, die Aufbrausendere der beiden, die davon träumt, dass sie irgendwann getrennt werden. Zlata, die Erzählerin der Geschichte, ist vor allem das: Erzählerin und Beobachterin. Eine, die mitläuft, was im Fall von siamesischen Zwillingen wörtlich zu nehmen ist. Trotz ihrer literarischen und theologischen Interessen schreibt sie sich, als sie die Schule hinter sich haben, mit ihrer Schwester in der juristischen Fakultät ein.
Aber bis dahin ist es ein weiter Weg, bis dahin stirbt die einzige Freundin, und bis dahin werden aus den beiden Mädchen, als sie in den Achtzigerjahren aufwachsen und Skopje noch Hauptstadt der jugoslawischen Teilrepublik Mazedonien ist, junge Frauen. Sie bekommen Pickel und ihre erste Regelblutung, und nicht genug, dass sie immer gemeinsam zur Toilette gehen müssen, sie müssen auch abwechselnd dieselben aus Lumpen gefertigten Binden tragen, weil ihre Mutter ihnen nicht zwei Paar zugesteht: "Ich nahm die Hände von der Brille und schaute in den Topf, und dort saugte eine fette, schwarze Kakerlake das Blut aus Srebras Binden, die sie am Morgen hineingeworfen hatte. Mir wurde von dem Anblick übel, ich begann zu weinen. Unsere Mutter kam ins Bad, und als sie sah, was los war, sagte sie: 'Halb so wild, eine Kakerlake.'"
Die Kunst von "Reserveleben" - bereits 2012 im Original erschienen und von Alexander Sitzmann sauber übersetzt - liegt darin, dass die Geschichte ganz kunstlos erzählt wird: Sie handelt vom Aufwachsen zweier Mädchen in Mazedonien, die zufällig siamesische Zwillinge sind. Ein schwieriger Zustand, aber einer, an den sie von Geburt an gewöhnt sind und der sich auch nicht ändern lässt, zumindest nicht in diesem Winkel des Balkans. So flüchten die Kinder immer wieder zu Tante und Großmutter, wo man sie mehr liebt als zu Hause. Srebra verliebt sich irgendwann sogar in einen Jungen und er sich auch in sie, und an dieser Stelle - die jugoslawischen Teilungskriege laufen im Hintergrund mit - wird aus dem realistischen und sehr geradlinig erzählten Roman fast ein balkanisches Märchen.
Dann aber kommt es tatsächlich in einem Londoner Krankenhaus zur Trennung von Srebra und Zlata, und an dieser Stelle, nach gut dreihundert souverän erzählten Seiten, auf denen die Kakerlaken-Binden den grellsten Moment markieren, kippt die Erzählung ins Farcenhafte, als würde mit der Trennung die eigentliche Erzählgrundlage wegfallen und der Roman seine Richtung verlieren. Das ist zwar schade, aber als Debüt ist "Reserveleben" durchaus eine beachtliche Leistung. TOBIAS LEHMKUHL
Lidija Dimkovska: "Reserveleben".
Roman.
Aus dem
Mazedonischen von Alexander Sitzmann. Drava Verlag,
Klagenfurt 2022.
508 S., br., 21,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tobias Lehmkuhl annonciert ein eigenwilliges Debüt mit diesem im Original bereits 2012 erschienenen Roman der nordmazedonischen Schriftstellerin Lidija Dimkovska. Erzählt wird die Geschichte des siamesischen Zwillingspaares Zlata und Sebra, die im Skopje der Achtziger aufwachsen und von den anderen Bewohner als "Monster" angesehen werden. Der Kritiker erlebt, wie die beiden sich - aneinander gebunden - in verschiedene Richtungen entwickeln, liest skurrile Episoden, etwa wenn fette Kakerlaken auf schwarzen Binden sitzen und staunt, wie nüchtern Dimkovska doch von all dem erzählt. Und doch gibt es Momente, in denen die Geschichte wie ein "balkanisches Märchen" scheint, meint er. Dass der Schluss, wenn die Zwillinge getrennt werden, ein wenig abfällt, kann Lehmkuhl verzeihen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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