Um 1900 tritt der Anspruch, Projekte für nicht weniger als die Welt zu schmieden, fast inflationär in Erscheinung. Markus Krajewski geht der Frage nach, wie es zu diesen Weltprojekten kommen konnte, und schildert vor diesem Hintergrund drei Projektemacher und ihre Pläne: Wilhelm Ostwalds Weltstandards, Franz M. Feldhaus und seine 'Weltgeschichte der Technik', Walther Rathenau und die Kriegswirtschaft nach 1914.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2006Weltformat für alle Gipfel: Markus Krajewski zeigt, wie man in der Höhe seiner fixen Ideen zur Härte reift
Dieses atemberaubende Buch darf im Bücherfrühling 2006 nicht untergehen. Es trägt den kryptischen Titel "Restlosigkeit" und beschreibt, so der Untertitel, "Weltprojekte um 1900". Damals gab es eine ganze Reihe von Denkern, die die Welt als Ganzes in den Blick nahmen und sie von einem Punkt, von einer fixen Idee her standardisierten. Monismus ist das geflügelte Wort für diese Denkungsart, und der Chemiker Wilhelm Ostwald (1853 bis 1932), eine der zentralen Figuren im Werk des Autors Markus Krajewski, war in der Tat seit 1910 eine der führenden Figuren der Weltanschauungsgemeinschaft "Deutscher Monistenbund", einer Gemeinschaft von Rauschebärten, der etwa auch der Darwin-Jünger Ernst Haeckel angehörte, Autor der berühmten Bibel für alle Denker in Uniform: "Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie".
Sicher, man kann all diese Rauschebärte mit ihren einheitlichen Weltbeglückungsformaten (der Währung, der Sprache oder des Papiers) für nicht satisfaktionsfähig halten, also mit dem Dichter Christian Morgenstern gönnerhaft das Lob der Verstiegenheit singen ("Jedem Tierchen sein Plaisierchen") oder dasselbe Lob mit dem Dichter Botho Strauß noch eine Spur jüngerhafter anstimmen: "Einige aber müssen in der Höhe sich härter ausbilden" (unsere Abbildung zeigt die ganze Härte einer Höhenlandschaft zum Verrennen und Versteigen).
Doch Markus Krajewski geht anders vor. Er legt die fixen Ideen von Wilhelm Ostwald & Co. nicht in den Schreibtischen zur Ruhe, in denen sie geboren wurden, sondern läßt sie in ihren bürokratisch-kafkaesken Zügen für uns Nachgeborene höchst intensiv lebendig werden. Mit dem Thema der weltbeglückenden bürokratischen Planungsphantasie hat sich Krajewski schon in zwei anderen Büchern befaßt. Hört man deren sprechende Titel, so wird ihr Charakter als Vorstudien zur "Restlosigkeit" sofort klar. Der eine Titel heißt "Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek" (2002), der andere "Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns" (2004). Zusammen mit dem vorliegenden Buch liegt jetzt also, wenn man so will, eine Trilogie des jeweils auf die Spitze getriebenen, weil als Weltanschauung betriebenen Begradigungsdenkens vor. Es ist gewissermaßen richtiges Denken in Reinkultur - in Monokultur.
Halten wir den Atem an und hören Krajewskis Erzählung zu, hier etwa aus Kapitel 2.4.1. "Restlose Normierung der Gedanken". Ostwalds Monismus war energetischer Natur, das heißt, kurz gesagt: Alles, wirklich alles drehte sich bei ihm um Energie und darum, sie zu sparen. Ja, man kann sagen: Wilhelm Ostwald lebte sein Leben als Energiesparprojekt und entwarf die Kultur der Welt als Energiesparprojekt. Als zentrales Werk dieser Lehre von der Einheit des Lebens, so erzählt Krajewski, erscheinen 1909 die "Energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft", worin Ostwald die dringend zu berücksichtigende Möglichkeit, "allerorten und zu jeder Gelegenheit Energie zu sparen, auf die ehernen Kategorien Raum und Zeit gleichermaßen anwendet wie auf die Sprache, das Recht, den Staat und ganz allgemein auf Lebewesen sowie soziale Vorgänge. Ausgehend von seinem Credo, daß man ,wirklich alle Dinge dieser Welt energetisch ausdrücken kann', schreibt Ostwald dabei der Wissenschaft die zentrale Rolle zu, die ganze Welt organisieren und mithin verbessern zu können." Das Projekt einer energetischen Buchhaltung der Welt drängt gleichsam aus eigener Energie ins Detail, zu der unvermeidlichen Folgefrage: "Wie kann eine energetische Buchhaltung in der Welt Ordnung schaffen, wenn die Bücher selbst bereits von ihrem Format her nicht in Ordnung sind?" Sehr, sehr verkürzt gesagt: Das war die Geburtsstunde von DIN A4.
Ostwalds Gedanke, die Welt in all ihren Facetten im Formular zu bearbeiten, zeitigte, nachdem er einmal in der Welt war, auch institutionelle Konsequenzen. Zwei Ostwald-Schüler, Karl-Wilhelm Bührer und Adolf Saager, entwarfen "Die Brücke", ein "Institut zur Organisierung der geistigen Arbeit", mit dem Ziel, Geistiges in materialisierter Form rubrizierbar zu machen. Vor allem Bührers Vorstellung, das normierte Papierblatt zur "Grundform aller Kultur" zu erheben, greift Ostwald auf. Denn, so Krajewski, Bührers unwillkürlich willkürliche Festlegung der "Weltformat"-Abmessungen fordert den Energetiker dazu heraus, die "Organisation des Merkzettels" und mit ihr die gesamte geistige Arbeit in gewohnter methodischer Gründlichkeit anzugehen.
Die Welt vom Zipfel des Merkzettels aus zu reformieren, sie im Modus von Übereinstimmung und Abweichung zu protokollieren - für Ostwald eine bezirzende Projektidee: "Dies ist der Gedanke Bührers, welchen ich als neu und unabsehbar folgenreich empfand und der für mich eine unwiderstehliche Ursache wurde, ihm alle Hilfe zu leisten, die ich ihm bringen konnte." Das Programm der "Brücke" (ihre Büroräume existierten von 1913 bis 1916, dann kam der Konkursverwalter) brachte das unberechenbare Dasein unter eine allumfassende Verwaltungsvorstellung, unter das Phantasma eines durchadressierten, überschaubaren und uneingeschränkt erreichbaren Datenraums. Eine Epistemologie des Randständigen, die nichts dem Zufall überläßt. Die Organisation von Totalität versprach eine unbegrenzte Anschlußfähigkeit, stiftete Zusammenhänge auch des Entlegensten. Der entscheidende Kunstgriff der "Brücke" bestand laut Markus Krajewski darin, Restlosigkeit nicht auf die Verwaltungswissenschaft zu begrenzen, sondern als Lebensform zu etablieren. In der Höhe hart erdacht, schien die "Brücke" für einen historischen Augenblick lang eine faszinierende Form von "Simplify your life" zu sein.
CHRISTIAN GEYER
Markus Krajewski: "Restlosigkeit". Weltprojekte um 1900. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 366 S., br., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieses atemberaubende Buch darf im Bücherfrühling 2006 nicht untergehen. Es trägt den kryptischen Titel "Restlosigkeit" und beschreibt, so der Untertitel, "Weltprojekte um 1900". Damals gab es eine ganze Reihe von Denkern, die die Welt als Ganzes in den Blick nahmen und sie von einem Punkt, von einer fixen Idee her standardisierten. Monismus ist das geflügelte Wort für diese Denkungsart, und der Chemiker Wilhelm Ostwald (1853 bis 1932), eine der zentralen Figuren im Werk des Autors Markus Krajewski, war in der Tat seit 1910 eine der führenden Figuren der Weltanschauungsgemeinschaft "Deutscher Monistenbund", einer Gemeinschaft von Rauschebärten, der etwa auch der Darwin-Jünger Ernst Haeckel angehörte, Autor der berühmten Bibel für alle Denker in Uniform: "Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie".
Sicher, man kann all diese Rauschebärte mit ihren einheitlichen Weltbeglückungsformaten (der Währung, der Sprache oder des Papiers) für nicht satisfaktionsfähig halten, also mit dem Dichter Christian Morgenstern gönnerhaft das Lob der Verstiegenheit singen ("Jedem Tierchen sein Plaisierchen") oder dasselbe Lob mit dem Dichter Botho Strauß noch eine Spur jüngerhafter anstimmen: "Einige aber müssen in der Höhe sich härter ausbilden" (unsere Abbildung zeigt die ganze Härte einer Höhenlandschaft zum Verrennen und Versteigen).
Doch Markus Krajewski geht anders vor. Er legt die fixen Ideen von Wilhelm Ostwald & Co. nicht in den Schreibtischen zur Ruhe, in denen sie geboren wurden, sondern läßt sie in ihren bürokratisch-kafkaesken Zügen für uns Nachgeborene höchst intensiv lebendig werden. Mit dem Thema der weltbeglückenden bürokratischen Planungsphantasie hat sich Krajewski schon in zwei anderen Büchern befaßt. Hört man deren sprechende Titel, so wird ihr Charakter als Vorstudien zur "Restlosigkeit" sofort klar. Der eine Titel heißt "Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek" (2002), der andere "Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns" (2004). Zusammen mit dem vorliegenden Buch liegt jetzt also, wenn man so will, eine Trilogie des jeweils auf die Spitze getriebenen, weil als Weltanschauung betriebenen Begradigungsdenkens vor. Es ist gewissermaßen richtiges Denken in Reinkultur - in Monokultur.
Halten wir den Atem an und hören Krajewskis Erzählung zu, hier etwa aus Kapitel 2.4.1. "Restlose Normierung der Gedanken". Ostwalds Monismus war energetischer Natur, das heißt, kurz gesagt: Alles, wirklich alles drehte sich bei ihm um Energie und darum, sie zu sparen. Ja, man kann sagen: Wilhelm Ostwald lebte sein Leben als Energiesparprojekt und entwarf die Kultur der Welt als Energiesparprojekt. Als zentrales Werk dieser Lehre von der Einheit des Lebens, so erzählt Krajewski, erscheinen 1909 die "Energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft", worin Ostwald die dringend zu berücksichtigende Möglichkeit, "allerorten und zu jeder Gelegenheit Energie zu sparen, auf die ehernen Kategorien Raum und Zeit gleichermaßen anwendet wie auf die Sprache, das Recht, den Staat und ganz allgemein auf Lebewesen sowie soziale Vorgänge. Ausgehend von seinem Credo, daß man ,wirklich alle Dinge dieser Welt energetisch ausdrücken kann', schreibt Ostwald dabei der Wissenschaft die zentrale Rolle zu, die ganze Welt organisieren und mithin verbessern zu können." Das Projekt einer energetischen Buchhaltung der Welt drängt gleichsam aus eigener Energie ins Detail, zu der unvermeidlichen Folgefrage: "Wie kann eine energetische Buchhaltung in der Welt Ordnung schaffen, wenn die Bücher selbst bereits von ihrem Format her nicht in Ordnung sind?" Sehr, sehr verkürzt gesagt: Das war die Geburtsstunde von DIN A4.
Ostwalds Gedanke, die Welt in all ihren Facetten im Formular zu bearbeiten, zeitigte, nachdem er einmal in der Welt war, auch institutionelle Konsequenzen. Zwei Ostwald-Schüler, Karl-Wilhelm Bührer und Adolf Saager, entwarfen "Die Brücke", ein "Institut zur Organisierung der geistigen Arbeit", mit dem Ziel, Geistiges in materialisierter Form rubrizierbar zu machen. Vor allem Bührers Vorstellung, das normierte Papierblatt zur "Grundform aller Kultur" zu erheben, greift Ostwald auf. Denn, so Krajewski, Bührers unwillkürlich willkürliche Festlegung der "Weltformat"-Abmessungen fordert den Energetiker dazu heraus, die "Organisation des Merkzettels" und mit ihr die gesamte geistige Arbeit in gewohnter methodischer Gründlichkeit anzugehen.
Die Welt vom Zipfel des Merkzettels aus zu reformieren, sie im Modus von Übereinstimmung und Abweichung zu protokollieren - für Ostwald eine bezirzende Projektidee: "Dies ist der Gedanke Bührers, welchen ich als neu und unabsehbar folgenreich empfand und der für mich eine unwiderstehliche Ursache wurde, ihm alle Hilfe zu leisten, die ich ihm bringen konnte." Das Programm der "Brücke" (ihre Büroräume existierten von 1913 bis 1916, dann kam der Konkursverwalter) brachte das unberechenbare Dasein unter eine allumfassende Verwaltungsvorstellung, unter das Phantasma eines durchadressierten, überschaubaren und uneingeschränkt erreichbaren Datenraums. Eine Epistemologie des Randständigen, die nichts dem Zufall überläßt. Die Organisation von Totalität versprach eine unbegrenzte Anschlußfähigkeit, stiftete Zusammenhänge auch des Entlegensten. Der entscheidende Kunstgriff der "Brücke" bestand laut Markus Krajewski darin, Restlosigkeit nicht auf die Verwaltungswissenschaft zu begrenzen, sondern als Lebensform zu etablieren. In der Höhe hart erdacht, schien die "Brücke" für einen historischen Augenblick lang eine faszinierende Form von "Simplify your life" zu sein.
CHRISTIAN GEYER
Markus Krajewski: "Restlosigkeit". Weltprojekte um 1900. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 366 S., br., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Eine lohnende Lektüre sieht Niels Weber in Markus Krajewskis Studie über die zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfolgten Weltprojekte Wilhelm Ostwalds, Franz M. Feldhaus' und Walter Rathenaus. Besonders angetan ist er von Krajewskis Ausführungen über die globale Dimension der von Ostwald propagierten Standardisierungen etwa im Blick auf eine Weltwährung. Die herrschende Meinung damals, jeder noch so verwegene globale Entwurf solle und könne realisiert werden, findet Weber auch in der Gegenwart wieder. Das Muster bleibe bis heute dasselbe. Übersehen wird dabei seines Erachtens, dass die Einführung von globalen Normen, Standards und Regeln immer - damals wie heute - erbitterte Kämpfe der Nationalökonomien, Kulturen und Weltmächte nach sich ziehen. Alles in allem scheint Weber Krajewskis Blick auf die erste Phase der Globalisierung höchst aufschlussreich - auch hinsichtlich aktueller Beschreibungen der Globalisierung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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