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Kluge, federleichte Essays über die Faszination des Reisens in die Vergangenheit - denn Geschichtstourismus liegt im Trend. Aber warum eigentlich? Was suchen wir im »Retroland«? Geraniengeschmückte historische Altstädte, Kolonialidyllen auf tropischen Inseln und urtümliche Alpendörfer: Reisen an Orte, an denen die Zeit vermeintlich stehengeblieben ist, sind das Alltagsgeschäft des Fremdenverkehrs. Der bekannte Historiker Valentin Groebner erzählt von den Hotspots des Geschichtstourismus - den es verblüffenderweise schon seit 500 Jahren gibt! Er nimmt seine Leser mit ins Piemont und nach Paris,…mehr

Produktbeschreibung
Kluge, federleichte Essays über die Faszination des Reisens in die Vergangenheit - denn Geschichtstourismus liegt im Trend. Aber warum eigentlich? Was suchen wir im »Retroland«?
Geraniengeschmückte historische Altstädte, Kolonialidyllen auf tropischen Inseln und urtümliche Alpendörfer: Reisen an Orte, an denen die Zeit vermeintlich stehengeblieben ist, sind das Alltagsgeschäft des Fremdenverkehrs. Der bekannte Historiker Valentin Groebner erzählt von den Hotspots des Geschichtstourismus - den es verblüffenderweise schon seit 500 Jahren gibt! Er nimmt seine Leser mit ins Piemont und nach Paris, in die Berge und an malerische Strände, ins romantische Luzern und ins pittoreske Sri Lanka.
Der eigentliche Rohstoff der Tourismusindustrie, so zeigt er, sind nicht Kultur, Sonne und Landschaft. Es ist das Versprechen, das Paradies zu finden, aber auch die eigenen Ursprünge, das Authentische und Unverfälschte. Doch vieles, so zeigt Valentin Groebner, ist nicht, wie es scheint und wie es der Reiseführer behauptet. Denn das sehenswerte Alte muss ständig neu hergestellt und angepasst werden, damit es den Erwartungen entspricht. Willkommen also in der Zeitmaschine, auf dem Jahrmarkt der »historischen Identitäten«: Einsteigen bitte, es geht zurück!
Autorenporträt
Valentin Groebner, geboren 1962 in Wien, lehrt als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Er war u.a. Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg sowie am Europäischen Hochschulinstitut Florenz und Professeur invité an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Er ist der Autor zahlreicher Bücher zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte; seit 2017 ist er Mitglied in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei S. Fischer erschienen von ihm die Bände ¿Ich-Plakate. Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine¿ und ¿Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach den Authentischen¿.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2018

Reicht das Authentische noch für alle?

So schön wie früher wird's nie wieder: Valentin Groebner weiß, warum wir auf Reisen verlorene Paradiese suchen, warum das nie funktionieren kann und was Geranien damit zu tun haben.

Von den Pilgerfahrten über die Badereise, die Grand Tour zur All-inclusive-Reise unserer Tage: Der Tourismus mag klein angefangen haben, als Privileg der Reichen, heute ist er nach Angaben des Autors die drittgrößte Dienstleistungsindustrie des Planeten: Jeder achte Reisende weltweit ist als Tourist unterwegs. Und warum das Ganze? Weil Reisen etwas für Leute ist, wie die amerikanische Autorin Nell Freudenberger notierte, die nicht wissen, wie man glücklich ist?

Für Valentin Groebner ist Reisen noch etwas anderes. Urlaub deutet er als Versprechen "auf wiedergegebene Zeit", eine Reise "in ein Früher, das auf magische Weise konserviert wurde und wieder zugänglich ist". Groebner nennt den Tourismus deshalb eine "Zeitwiederbeschaffungsmaschine". Denn die Frage sei ja schon: Ist vom Authentischen noch genug für alle da? Kann man wirklich wieder auf die griechische Insel fahren, die man als Student mit dem Rucksack besucht hat, oder fläzen sich dort heute pauschale Nachfahren von Thomas Cook? Google hilft weiter.

Zunächst einmal müsse man sich bewusst machen, dass man immer mit einem Paradox im Gepäck reise: Da ist die unwiederbringlich vergangene Zeit, und da ist die Erzählung über diese Zeit, die diese mit jeder neuen Fassung verändert. Wir konstruieren uns unsere Vergangenheit, bevor wir sie zwanghaft wieder und wieder bereisen: Tradition, sagt Groebner, ist eben "kein Möbel, das immer schon da war" und "still von sich selbst kündet. Sie ist keine Dekoration oder Atmosphäre, sondern Arbeit; etwas, was jemand tut." Tradition funktioniert auch ohne Vergangenheit.

Der 1962 in Wien geborene und in Luzern lehrende Historiker verfährt in seinem neuen Buch nicht systematisch, sondern springt durch die Zeiten und Orte im Stil eines eleganten Essayisten, der den Fachmann nie verleugnet, ihn aber da und dort in die Schranken weist - um allzeit sein eigenes Reiseverhalten selbstironisch auf den Prüfstand zu stellen. Groebner ist und will Zeitgenosse sein. Und nicht nur, wenn er zur Ayurveda-Kur nach Sri Lanka fährt und dort nur Menschen mit einem ähnlichen beruflichen Hintergrund trifft, folgt man ihm bei diesen "Lokalaugenscheinen" mit dem Vergnügen der Ernüchterung. Denn auch wenn der Wunsch nach körperlicher Erholung, die Sehnsucht nach dem ursprünglichen Schönen die Reise ausgelöst haben, am Ende trifft man doch nur wieder die konsumierende Klasse, die arbeitende ist am Traumstrand nicht zu sehen.

Den Sacri Monti im Piemont, die mit Repliken der heiligen Stätten und Figuren in Lebensgröße schon im späten fünfzehnten Jahrhundert Pilgerströme anlockten, widmet sich der reisende Gelehrte ohne die Überheblichkeit der Nachgeborenen: "Hier war's!", konnte man eben schon damals nicht behaupten und dennoch "dem Körper des Gekreuzigten so nahe wie möglich kommen". In Varallo etwa lag ein blutüberströmter Christus im begehbaren Grab und signalisierte: "Die Auferstehung hat noch nicht stattgefunden, und du bist dabei."

Schon damals gab es also den Glauben an die "Wiederaufführbarkeit der Vergangenheit", schon damals entstanden in den aus vielen Quellen sich speisenden Schriften des Cyriacus von Ancona "Komopositvergangenheiten", die diesem Autor als Reiseführer in die Historie ein Auskommen sicherten. Dass dies zur gleichen Zeit geschah, in der die Renaissance Weltbilder einriss und Italien zur Geburtsstätte moderner Wissenschaft wurde, ist mehr als ein Zufall. Hier die Humanisten, dort die Erbauer von religiösen Streichelzoos der Passionsgeschichte - immer das eine gegenüber dem anderen.

Seiner Wahlheimat widmet sich der bestens integrierte Autor - "Renovation" statt "Renovierung" - mit Hingabe. An die achtzig Mal findet Luzern Erwähnung. Auf einer wichtigen Alpentransitroute am Vierwaldstättersee gelegen, war die Stadt zwar "weder groß noch schön", wie ein Reisender 1790 notierte, aber die Stadtoberen so clever, durch die Ansiedlung von Grandhotels am Seeufer Gäste anzulocken und sich gleichzeitig als Bewahrer des Alten zu inszenieren. Ganze Straßenzüge seien von den 1880er Jahren an im Stil des frühen sechzehnten Jahrhunderts geschmückt worden. Federführend war der Architekt Emil Vogt, der in Jerusalem sein Lebenswerk mit dem King David Hotel krönte.

Um alt zu wirken, wurde das Alte neu gebaut, besonders die Stadt Basel tat sich bis in die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hervor, auf Mittelalter zu machen. Ob das den heutigen Touristen bewusst ist? Und ob sie wissen, dass die Geranie, erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus Afrika importiert, zur ikonischen Heimat-Blume im Alpenraum wurde, wo es um die Herstellung des Gefühls der guten alten Zeit ging? Mehr als fünfzig Millionen Jungpflanzen werden derzeit zu diesem Zweck jährlich als Stecklinge eingeflogen.

Gedenkfeiern, die Erinnerung an historische Jahrestage, sind ein Konstrukt des neunzehnten Jahrhunderts, erfunden von Nationalstaaten, die eine geschichtliche Erzählung brauchten - auch wenn es religiöse Wurzeln im Katholischen gibt, die auf die Ausrufung des Heiligen Jahres 1300 zurückgehen. Noch heute funktionieren nachgespielte Schlachten, Hochzeiten, Passionsspiele. In Portugal feiern gleich fünf Städte die Schlacht von Ourique im Jahr 1139, von der man nicht viel weiß, und schon gar nicht, wo sie stattfand. Es kommt auf die Bewirtschaftung der Tradition an. "Die Vergangenheit erscheint umso authentischer, je häufiger sie reinszeniert wird."

Ein Thema lässt Groebner weg: den Tourismus, der an die Schauplätze von Krieg, Vertreibung und Massenmord führt. Was nach dem Ersten Weltkrieg in Verdun begann und was Karl Kraus als "Reklamefahrten zur Hölle" geißelte, hat sich in unserem Zeitalter der Gedenkstätten zu einem wichtigen Faktor im Geschäft mit den globalen Touristenströmen entwickelt.

Am meisten über sich selbst lerne man aber ohnehin nicht durch die Überreste der Vergangenheit, sondern durch die Begegnung am Sehnsuchtsort mit den anderen Touristen, über die man sich das Maul zerreißt, obwohl sie genau das Gleiche tun wie man selbst. Wem auch das grundsätzlich zu viel Transferaufwand ist, der halte sich an einen großen Reisenden, der über die Befreiung nachdachte, die vom Reisen ausgehen soll. Die könne man auch auf einer Fahrt in die Vorstadt haben - "und zwar sehr viel intensiver als einer, der von Lissabon nach China reist, denn ist die Befreiung nicht in mir, erlange ich sie nirgendwo", schrieb Fernando Pessoa.

HANNES HINTERMEIER.

Valentin Groebner: "Retroland". Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 219 S., Abb., br., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Angeregt plaudert Rezensent Ronald Düker über diese psycho-ethnologische und essayistische Annäherung an den Tourismus - heute immerhin die drittgröße internationale Dienstleistungsbranche, wie der Rezensent von Groebner lernt. Das eigentliche Motiv der Reisen im Raum sei dabei meist ein Reisen in der Zeit, getrieben von einer Sehnsucht nach heiler Welt und Identität, die es so natürlich nie gegeben habe. Es ist eine Reflexion voller Pointen, versichert Düker, der mit Wohlwollen beobachtet, dass Groebner auch seine eigene Erfahrung als Tourist mit bedenkt.

© Perlentaucher Medien GmbH
In 'Retroland' verändert Valentin Groebner auf luzide Weise die Perspektive auf das, was uns historisch umgibt. Thorsten Jantschek Deutschlandfunk Kultur 20180906