»Jedes einzelne von Baumans Büchern in der letzten Dekade kann als Meisterwerk gelesen werden.«
Ulrich Beck
»Make America great again«, lautet der Leitspruch des amtierenden US-Präsidenten. Nicht »vorwärts« soll es gehen, wie Barack Obama noch im Wahlkampf von 2012 versprochen hatte, sondern zurück zu alter Größe. Die Menschen scheinen die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Zukunft aufgegeben zu haben und wenden sich stattdessen einer angeblich guten alten Zeit zu.
In seinem letzten zu Lebzeiten vollendeten Buch untersucht der große Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman die Gründe für diese globale Epidemie der Nostalgie. Gut fünfhundert Jahre nach der Veröffentlichung von Thomas Morus' Utopia, so seine These, haben die Nationalstaaten die Fähigkeit eingebüßt, ihre Versprechen auf Wohlstand und Sicherheit einzulösen. Wer in einer globalisierten Welt nach Orientierung sucht, der richtet seinen Blick daher nicht länger auf einen als Ideal verklärten Ort - einen topos -, sondern in eine untote Vergangenheit.
Ulrich Beck
»Make America great again«, lautet der Leitspruch des amtierenden US-Präsidenten. Nicht »vorwärts« soll es gehen, wie Barack Obama noch im Wahlkampf von 2012 versprochen hatte, sondern zurück zu alter Größe. Die Menschen scheinen die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Zukunft aufgegeben zu haben und wenden sich stattdessen einer angeblich guten alten Zeit zu.
In seinem letzten zu Lebzeiten vollendeten Buch untersucht der große Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman die Gründe für diese globale Epidemie der Nostalgie. Gut fünfhundert Jahre nach der Veröffentlichung von Thomas Morus' Utopia, so seine These, haben die Nationalstaaten die Fähigkeit eingebüßt, ihre Versprechen auf Wohlstand und Sicherheit einzulösen. Wer in einer globalisierten Welt nach Orientierung sucht, der richtet seinen Blick daher nicht länger auf einen als Ideal verklärten Ort - einen topos -, sondern in eine untote Vergangenheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2018Geht alles den Bach runter
Zwei letzte Bücher von Zygmunt Bauman
Blickt man auf die Daten seines Lebens, dürfte der Titel Jahrhundertzeuge Zygmunt Bauman vielleicht gerade so gerecht werden. Der 1925 in Posen Geborene hat dieses Jahrhundert buchstäblich in seinen Extremen erlebt, erlitten und immer wieder - in einem weitläufigen soziologischen Werk - bezeugt und überprüft. Kurz vor seinem Tod im vergangenen Jahr erschien Baumans letztes Werk "Retrotopia", das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Auch der Respekt vor dem großen Namen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass "Retrotopia" ein schwaches Buch ist.
Nicht, weil es keine starken Worte der Empörung fände, sondern weil es eigentlich aus nichts anderem als solchen besteht. Baumans Klage über den Verlust der Utopien, die die Hoffnungen seines Jahrhunderts waren, macht "Retrotopia" zu einer bedrückenden Lektüre. Atemlos rafft er darin die Liste seiner Anklagen zusammen: Das zwanzigste Jahrhundert habe mit futuristischen Utopien begonnen, und es endete in Nostalgie.
Doch für Bauman sind die Kapitel seines Buches - Zurück zu Hobbes, Zurück ans Stammesfeuer, Zurück zur sozialen Ungleichheit und Zurück in den Mutterleib - keine Chiffren für nostalgische Sehnsüchte. Wir seien vielmehr schon in diesem Zurück, dazu verdammt, in diesen bereits als überwunden gedachten Verhältnissen zu verharren. Das einst Undenkbare, dass sich der Staat von seiner Pflicht der Sicherheitsgarantie innerhalb seiner territorialen Grenzen zurückgezogen hat, habe uns wieder in Hobbes' Krieg aller gegen alle zurückgeschleudert. Infolge der Globalisierung seien die Nationalstaaten auf nicht mehr als große Nachbarschaften zusammengeschrumpft, eingezwängt in vage umrissene, kaum noch zu sichernde Grenzen.
Terrorismus und ein neuer weltweiter Tribalismus hätten den Staat, Hobbes' einstmals so mächtigen Leviathan, in die Insolvenz getrieben. Die westlichen Gesellschaften zerfielen in Habende und Habenichtse, das ungebremste Wüten von Globalisierung und Neoliberalismus habe die Mittelschichten zum Schrumpfen gebracht, Solidarität gebe es nicht mehr. Die "Straße nach Morgen" sei zum düsteren Pfad des Niedergangs und Verfalls geworden. Wir würden derzeit zurück ins frühe neunzehnte Jahrhundert gestoßen, so das Fazit.
Wer nach Differenzierung und Diskursivität verlangt, nach Argumenten und wenigstens ein paar empirischen Belegen, geht leer aus. Raum für Einwände, für Zweifel an der Hoffnungslosigkeit seiner Diagnosen lässt Bauman nicht. Man kann dieses Buch als eine Polemik lesen oder als eine Bußpredigt. Ein soziologisches Werk ist es nicht. Man könnte ihm zugutehalten, dass sein prophetisches "Kehret um!" aus dem Munde eines Autors kommt, der miterlebt hat, welche Opfer im vergangenen Jahrhundert für linke wie rechte Utopien gebracht wurden.
Von diesem Respekt vor Baumans Erfahrungen zeugt auch der unvollendet gebliebene Gesprächsband über die Jugend des 21. Jahrhunderts, an dem der italienische Journalist Thomas Leoncini mit Bauman noch bis zu dessen Tod gearbeitet hat. Der deutsche Titel "Die Entwurzelten" wird dem italienischen Original "Nati Liquidi" allerdings nicht ganz gerecht. Es geht Bauman hier eher um das in seinen Augen Flüssige, Unstete und Flüchtige des zeitgenössischen Menschen. Aller Hoffnungen, die sich auf das Internet gerichtet hatten, seien mittlerweile enttäuscht, es stehe heute für Isolation, Ausgrenzung und Diffamierung.
Warum Bauman darauf einging, sich von Leoncini über Tattoos, plastische Chirurgie, Hipster, Mobbing und Sex ausfragen zu lassen, bleibt allerdings etwas rätselhaft. Befanden wir uns nicht gerade noch mit Hobbes im Krieg alle gegen alle? Es ehrt den über Achtzigjährigen, mit welcher Ernsthaftigkeit und Neugierde er sich hier den hippen Themen seines sechzig Jahre jüngeren Gesprächspartners stellt. Die Erwartung beider, dass ihre Unterhaltungen über den Horizont und die Interessen Zwanzigjähriger hinausweisen, bleibt allerdings unbelegt. "Retrotopia" endet mit Baumans Warnung, wir müssten uns auf eine lange Zeit einstellen, in der es mehr Fragen als Antworten und mehr Probleme als Lösungen gebe. Da könnte man wohl zu bedenken geben, dass das vermutlich immer schon so war.
GERALD WAGNER.
Zygmunt Bauman: "Retrotopia."
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 220 S., br., 16.- [Euro].
Zygmunt Bauman und Thomas Leoncini: "Die Entwurzelten".
Was uns bewegt im 21. Jahrhundert - ein Gespräch. Eichborn Verlag, Köln 2017. 112 S. , geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei letzte Bücher von Zygmunt Bauman
Blickt man auf die Daten seines Lebens, dürfte der Titel Jahrhundertzeuge Zygmunt Bauman vielleicht gerade so gerecht werden. Der 1925 in Posen Geborene hat dieses Jahrhundert buchstäblich in seinen Extremen erlebt, erlitten und immer wieder - in einem weitläufigen soziologischen Werk - bezeugt und überprüft. Kurz vor seinem Tod im vergangenen Jahr erschien Baumans letztes Werk "Retrotopia", das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Auch der Respekt vor dem großen Namen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass "Retrotopia" ein schwaches Buch ist.
Nicht, weil es keine starken Worte der Empörung fände, sondern weil es eigentlich aus nichts anderem als solchen besteht. Baumans Klage über den Verlust der Utopien, die die Hoffnungen seines Jahrhunderts waren, macht "Retrotopia" zu einer bedrückenden Lektüre. Atemlos rafft er darin die Liste seiner Anklagen zusammen: Das zwanzigste Jahrhundert habe mit futuristischen Utopien begonnen, und es endete in Nostalgie.
Doch für Bauman sind die Kapitel seines Buches - Zurück zu Hobbes, Zurück ans Stammesfeuer, Zurück zur sozialen Ungleichheit und Zurück in den Mutterleib - keine Chiffren für nostalgische Sehnsüchte. Wir seien vielmehr schon in diesem Zurück, dazu verdammt, in diesen bereits als überwunden gedachten Verhältnissen zu verharren. Das einst Undenkbare, dass sich der Staat von seiner Pflicht der Sicherheitsgarantie innerhalb seiner territorialen Grenzen zurückgezogen hat, habe uns wieder in Hobbes' Krieg aller gegen alle zurückgeschleudert. Infolge der Globalisierung seien die Nationalstaaten auf nicht mehr als große Nachbarschaften zusammengeschrumpft, eingezwängt in vage umrissene, kaum noch zu sichernde Grenzen.
Terrorismus und ein neuer weltweiter Tribalismus hätten den Staat, Hobbes' einstmals so mächtigen Leviathan, in die Insolvenz getrieben. Die westlichen Gesellschaften zerfielen in Habende und Habenichtse, das ungebremste Wüten von Globalisierung und Neoliberalismus habe die Mittelschichten zum Schrumpfen gebracht, Solidarität gebe es nicht mehr. Die "Straße nach Morgen" sei zum düsteren Pfad des Niedergangs und Verfalls geworden. Wir würden derzeit zurück ins frühe neunzehnte Jahrhundert gestoßen, so das Fazit.
Wer nach Differenzierung und Diskursivität verlangt, nach Argumenten und wenigstens ein paar empirischen Belegen, geht leer aus. Raum für Einwände, für Zweifel an der Hoffnungslosigkeit seiner Diagnosen lässt Bauman nicht. Man kann dieses Buch als eine Polemik lesen oder als eine Bußpredigt. Ein soziologisches Werk ist es nicht. Man könnte ihm zugutehalten, dass sein prophetisches "Kehret um!" aus dem Munde eines Autors kommt, der miterlebt hat, welche Opfer im vergangenen Jahrhundert für linke wie rechte Utopien gebracht wurden.
Von diesem Respekt vor Baumans Erfahrungen zeugt auch der unvollendet gebliebene Gesprächsband über die Jugend des 21. Jahrhunderts, an dem der italienische Journalist Thomas Leoncini mit Bauman noch bis zu dessen Tod gearbeitet hat. Der deutsche Titel "Die Entwurzelten" wird dem italienischen Original "Nati Liquidi" allerdings nicht ganz gerecht. Es geht Bauman hier eher um das in seinen Augen Flüssige, Unstete und Flüchtige des zeitgenössischen Menschen. Aller Hoffnungen, die sich auf das Internet gerichtet hatten, seien mittlerweile enttäuscht, es stehe heute für Isolation, Ausgrenzung und Diffamierung.
Warum Bauman darauf einging, sich von Leoncini über Tattoos, plastische Chirurgie, Hipster, Mobbing und Sex ausfragen zu lassen, bleibt allerdings etwas rätselhaft. Befanden wir uns nicht gerade noch mit Hobbes im Krieg alle gegen alle? Es ehrt den über Achtzigjährigen, mit welcher Ernsthaftigkeit und Neugierde er sich hier den hippen Themen seines sechzig Jahre jüngeren Gesprächspartners stellt. Die Erwartung beider, dass ihre Unterhaltungen über den Horizont und die Interessen Zwanzigjähriger hinausweisen, bleibt allerdings unbelegt. "Retrotopia" endet mit Baumans Warnung, wir müssten uns auf eine lange Zeit einstellen, in der es mehr Fragen als Antworten und mehr Probleme als Lösungen gebe. Da könnte man wohl zu bedenken geben, dass das vermutlich immer schon so war.
GERALD WAGNER.
Zygmunt Bauman: "Retrotopia."
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 220 S., br., 16.- [Euro].
Zygmunt Bauman und Thomas Leoncini: "Die Entwurzelten".
Was uns bewegt im 21. Jahrhundert - ein Gespräch. Eichborn Verlag, Köln 2017. 112 S. , geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Dass die Gegenwart nicht gerade positiv wahrgenommen wird, lernt Rezensent Thomas Speckmann im letzten Buch des jüngst verstorbenen Soziologen Zygmunt Bauman. Einen sehnsüchtigen Blick zurück in gute alte Zeiten angesichts mangelnder Hoffnung auf ein besseres Leben diagnostiziere er der Menschheit, liest der Kritiker, der Baumans Erklärungen durchaus schlüssig findet: Geplatzte Versprechungen der Nationalstaaten auf Wohlstand und Sicherheit und zunehmende Orientierungslosigkeit in einer globalisierten Welt sind die großen Herausforderungen unserer Zeit, erfährt der Rezensent, der Bauman das Fehlen eines Lösungsansatzes nicht übel nimmt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Bauman bereitet die Essenz geisteswissenschaftlicher Klassiker catchy für ein großes Publikum auf und verbindet sie mit Texten aus unserem Jahrtausend. All dies setzt er in Bezug zu unseren digitalen Gadjets, dem Internet als Insel der narzisstischen Selbstbezüglichkeit und zur Flüchtlingsfeindlichkeit.« Stefan Hochgesand taz. die tageszeitung 20180219