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Ein postum edierter Band versammelt Aufsätze von Reinhard Rürup zur deutschen Revolution von 1918/19
Wer nach Historikern sucht, deren Namen untrennbar mit der Revolution von 1918/19 verbunden sind, wird Reinhard Rürup ganz vorne nennen. Zwischenzeitlich war von ihm in der Zunft sogar als "Revolutions-Rürup" anerkennend die Rede. Die ganze Sache besaß nur einen kleinen Schönheitsfehler: Der 2018 verstorbene Historiker, der an der TU Berlin gelehrt und wesentlich zur hohen Reputation der dortigen Geschichtswissenschaften beigetragen hat, legte keine größere Monographie zur Novemberrevolution vor, die man sich gerade von ihm so sehr gewünscht hätte.
Für Kompensation sorgt nun eine lesenswerte Anthologie, die seine wichtigsten Aufsätze zur Thematik bündelt und geschickt aufeinander abgestimmt präsentiert. Rürup setzt darin bei der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges ein, schreitet Etappen der Revolutionsforschung ab, sucht nach dem historischen Ort der Novemberrevolution zwischen revolutionären Massenbewegungen und Verfassungsgebung und schließt mit einem Parforceritt durch eine blockiert erscheinende Revolutionsgeschichte in Deutschland seit den Bauernkriegen ab.
Vorneweg steht ein "Rückblick und Ausblick", den der Autor 2017 noch selbst formuliert hat, ohne dabei die Würdigungen angesichts des Hundertjahresjubiläums der Novemberrevolution einbeziehen zu können. Im Epilog blicken daher die Herausgeber, selbst ausgewiesene Kenner der Revolutionsmaterie, auf neuere Publikationen und würdigen diese "im Lichte der Schriften von Reinhard Rürup". Ob direkt oder indirekt, affirmativ oder kritisch lassen sich zahlreiche Spuren seiner Studien in den Neuerscheinungen finden. Einerseits sind Peter Brandt und Detlef Lehnert glücklich darüber, lässt sich daran doch die Ausstrahlungskraft von Rürups Werk ablesen. Andererseits zeigen sie sich enttäuscht, weil das Zentenarium zwar manch respektable Gesamtdarstellung hervorgebracht habe, aber keinen großen Wurf mit überzeugender Neuinterpretation.
Das dürfte weniger an der Antriebs- und Einfallslosigkeit der Zeithistoriker liegen als am Untersuchungsgegenstand selbst: eine lädierte Revolution, die sich kaum für Meistererzählungen eignet und seit jeher wenig traditionsbildende Kraft entfaltet. Ihre Leistungsbilanz, wie sie aus Rürups Texten seit 1968 abzulesen ist, war stets eine gemischte. In seinen älteren Beiträgen treten die Defizite deutlicher hervor als in den jüngeren. Die Tendenz einer positiven Würdigung der Revolution, heißt es einleitend, habe sich mit den Jahren "deutlich verstärkt". Beleg dafür ist Rürups Lob aus dem Jahr 2013 für Scheidemanns Republikausrufung, die er zu den Sternstunden der SPD-Parteigeschichte wie der deutschen Demokratiegeschichte überhaupt zählt.
Die meisten Texte durchzieht dagegen Kritik am Agieren der führenden Sozialdemokraten in der Revolution. Friedrich Ebert stellt Rürup kein gutes Zeugnis aus. Er habe nach Ordnung gestrebt, sei ein "souveräner Sitzungsleiter" und Krisenmanager gewesen. Angesichts der Abwicklung der Kriegsniederlage und der Abwehr eines - zumal in der Anfangsphase der Revolution - überbewerteten Linksradikalismus habe Ebert jedoch politische Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume ausgelassen und so Chancen einer vertieften gesellschaftlichen "Demokratisierung" vergeben. Diese "Politik der Nicht-Revolution" sei "für die Sicherung eines tragfähigen und stabilen Fundaments der parlamentarischen Demokratie in Deutschland zu wenig" gewesen. Das ist ein hartes Verdikt, über das viel gestritten wurde und das weiterhin das Potential zur Debatte enthält. So skeptisch und nüchtern Rürup seinem Naturell gemäß Thesen formuliert, scheut er doch keineswegs das klare (Wert-)Urteil.
Es trifft die damals tonangebenden Sozialdemokraten, aber auch gegenüber radikalen Positionen innerhalb der USPD und der KPD spart Rürup nicht mit Kritik. Statt nach extremen Entweder-oder-Optionen fragt er nach Alternativen dazwischen, ohne dem Begriff eines "dritten Weges" etwas abgewinnen zu können. Am Herzen liegt ihm insbesondere das Wirken der frühen Arbeiter- und Soldatenräte, die in seinen Augen pragmatisch eingestellt waren und statt eines sozialistisches Rätesystems die Demokratie durch weitere grundlegende Reformen stärken wollten.
Mit solchen Überlegungen führt uns Rürup häufig an historische Ausgangspunkte zurück, um über offene Entscheidungssituationen und optionale Geschichtsverläufe nachzudenken. Das ist ein ebenso herausforderndes wie lohnenswertes Unterfangen. Gut, dass sich mit diesem Band nun endlich im Bücherregal nach dem Revolutions-Rürup greifen lässt.
ALEXANDER GALLUS
Reinhard Rürup:
"Revolution und
Demokratiegründung".
Studien zur deutschen
Geschichte 1918/1919.
Hrsg. von Peter Brandt und Detlef Lehnert. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 247 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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