Die strukturellen Bedingungen, die Akteure und die Verlaufsgeschichte der internationalen Beziehungen in der großen Umbruchzeit vor und nach 1800 sind das Thema dieses Bandes. Er beginnt in den mittachtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, als das europäische Gleichgewicht und mit ihm die politische Weltordnung noch festgefügt schienen, und endet im Revolutionsjahr 1830. Jeweils 18 Karten und Abbildungen illustrieren den Text. Ein großes Buch über eine bewegte Zeit.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungAbriß ohne Janusgesicht
Michael Erbe zwischen Erschütterung und Gleichgewicht
Das "Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen" ist mit zwei Monographien aus der Feder von Heinz Duchhardt "Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1785" und von Winfried Baumgart "Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830-1878" eröffnet worden, die als ausgesprochen gelungen gelten können (siehe F.A.Z. vom 27. Juli 1998 und 16. November 1999). Der jetzt von Michael Erbe vorgelegte dritte Band, der unter dem Titel "Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht" die Jahrzehnte zwischen 1785 und 1830 darstellt und die chronologische Brücke zwischen den bislang publizierten Beiträgen schlägt, fällt dagegen eher enttäuschend aus.
Das hat in erster Linie nicht mit der Darbietung der historischen Tatsachen an sich zu tun, sondern vielmehr mit einem Mangel an gedanklicher Durchdringung des Stoffes. Unter den geradezu überreich ausgebreiteten Fakten verschwinden die Grundfragen und Grundmuster einer Epoche, in der sich Europa, zumindest bis zum Ende der napoleonischen Ära, "in einer Weise" verändert hat, das stellt der Autor einleitend fest, "wie es seit der Zeit der Karolinger nicht mehr geschehen war".
Der Disposition der Handbuch-Reihe gemäß geht es im ersten Teil des Buches um die "Strukturen", im zweiten Teil um die "Ereignisse". Unter dem Begriff der "Rahmenbedingungen" äußert sich der Verfasser über "Mächtegleichgewicht" und "Mächtekonzert", über "Das Völkerrecht" und über "Politische Ideen und öffentliche Meinung" sowie über "Die Mittel der Außenpolitik", von den jeweiligen Ministerien des Äußeren bis hin zu "Staatsfinanzen und Wirtschaftspolitik". Darauf werden "Die Akteure" der Staatenwelt porträtiert, von den Großmächten des Zeitalters bis hin zu den mittleren und kleineren Potenzen, vom europäischen "Monde" bis nach Übersee, nach Süd- und Ostasien und nach Nord-, Mittel- und Südamerika. Dem schließt sich die Abhandlung der "Ereignisse" an - von den französischen Revolutionskriegen über die "Napoleonische Hegemonialpolitik", von der "Neuordnung Europas" auf dem Wiener Kongreß über die Geschichte der "Heiligen Allianz als Wächterin über die ,Legitimität' in Europa" bis hin zu den Problemen der "Orientalischen Frage" als einem Element der europäischen Staatenkonkurrenz und der Entwicklung der "Neuen Welt auf dem Weg zur Emanzipation".
Das alles wird, Wichtiges und weniger Wichtiges in vorwiegend referierender Art und Weise unterbreitet. Darüber kommen die in den Tatsachen aufgehobenen Zusammenhänge generell zu kurz, werden zwar hin und wieder beiläufig erwähnt, aber nicht zureichend erörtert. Dies zu bemängeln gilt beispielsweise für das Grundproblem der Epoche: Das in der aufkommenden Moderne zutage tretende Janusgesicht von Krieg und Revolution und die damit einhergehende Frage nach dem Zusammenhang von Zivilisationsniveau und Kriegsprophylaxe hätten intensivere Beachtung finden müssen, als das im vorliegenden Buch geschieht. Warum schließlich, um ein weiteres Beispiel für das anzuführen, was man in Michael Erbes Band vermißt, ungeachtet aller Spannungen zwischen den Mächten der Pentarchie die "Kunst des Friedensschlusses" in Wien gelungen ist, hätte eingehender, als der Autor es tut, erklärt werden können: Es war die Erfahrung mit der zwillinghaften Existenz von Gewalt und Chaos, welche die versammelten Repräsentanten Europas immer wieder zur Einigung finden ließ - eine generationsgebundene Erfahrung im übrigen, die das Scheitern, weil die Zeit voranschreitet und Geschichte die Feindin der Dauer ist, in sich trug und kaum bleibenden Bestand zu wahren vermochte.
Und schließlich sei noch auf einen Gesichtspunkt verwiesen, über den man gleichfalls gerne mehr erfahren hätte: Das zeitenthobene, gerade gegenwärtig so aktuelle Problem von weltanschaulich gespeister Interventionsneigung und damit verbundener Kriegsgefahr angemessen zu thematisieren hätte sich im Rahmen des Untersuchungsgegenstandes im allgemeinen und der politischen Philosophie Edmund Burkes im besonderen geradezu aufgedrängt.
Die exemplarisch angeführte Kritik mag genügen, um das eigentliche Defizit des Buches zu illustrieren: Michael Erbes Darstellung bietet zwar, denkt man an den ersten Teil im Motto eines bekannten Nachrichtenmagazins, "Fakten, Fakten, Fakten", verfehlt darüber jedoch insgesamt den Focus: Über die gebündelten Tatsachen gründlicher nachzudenken hätte der Publikation sicherlich gutgetan.
KLAUS HILDEBRAND
Michael Erbe: "Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht". Internationale Beziehungen 1785-1830. Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen in 9 Bänden, Band 5. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2004. 441 S., geb., 88,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Erbe zwischen Erschütterung und Gleichgewicht
Das "Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen" ist mit zwei Monographien aus der Feder von Heinz Duchhardt "Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1785" und von Winfried Baumgart "Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830-1878" eröffnet worden, die als ausgesprochen gelungen gelten können (siehe F.A.Z. vom 27. Juli 1998 und 16. November 1999). Der jetzt von Michael Erbe vorgelegte dritte Band, der unter dem Titel "Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht" die Jahrzehnte zwischen 1785 und 1830 darstellt und die chronologische Brücke zwischen den bislang publizierten Beiträgen schlägt, fällt dagegen eher enttäuschend aus.
Das hat in erster Linie nicht mit der Darbietung der historischen Tatsachen an sich zu tun, sondern vielmehr mit einem Mangel an gedanklicher Durchdringung des Stoffes. Unter den geradezu überreich ausgebreiteten Fakten verschwinden die Grundfragen und Grundmuster einer Epoche, in der sich Europa, zumindest bis zum Ende der napoleonischen Ära, "in einer Weise" verändert hat, das stellt der Autor einleitend fest, "wie es seit der Zeit der Karolinger nicht mehr geschehen war".
Der Disposition der Handbuch-Reihe gemäß geht es im ersten Teil des Buches um die "Strukturen", im zweiten Teil um die "Ereignisse". Unter dem Begriff der "Rahmenbedingungen" äußert sich der Verfasser über "Mächtegleichgewicht" und "Mächtekonzert", über "Das Völkerrecht" und über "Politische Ideen und öffentliche Meinung" sowie über "Die Mittel der Außenpolitik", von den jeweiligen Ministerien des Äußeren bis hin zu "Staatsfinanzen und Wirtschaftspolitik". Darauf werden "Die Akteure" der Staatenwelt porträtiert, von den Großmächten des Zeitalters bis hin zu den mittleren und kleineren Potenzen, vom europäischen "Monde" bis nach Übersee, nach Süd- und Ostasien und nach Nord-, Mittel- und Südamerika. Dem schließt sich die Abhandlung der "Ereignisse" an - von den französischen Revolutionskriegen über die "Napoleonische Hegemonialpolitik", von der "Neuordnung Europas" auf dem Wiener Kongreß über die Geschichte der "Heiligen Allianz als Wächterin über die ,Legitimität' in Europa" bis hin zu den Problemen der "Orientalischen Frage" als einem Element der europäischen Staatenkonkurrenz und der Entwicklung der "Neuen Welt auf dem Weg zur Emanzipation".
Das alles wird, Wichtiges und weniger Wichtiges in vorwiegend referierender Art und Weise unterbreitet. Darüber kommen die in den Tatsachen aufgehobenen Zusammenhänge generell zu kurz, werden zwar hin und wieder beiläufig erwähnt, aber nicht zureichend erörtert. Dies zu bemängeln gilt beispielsweise für das Grundproblem der Epoche: Das in der aufkommenden Moderne zutage tretende Janusgesicht von Krieg und Revolution und die damit einhergehende Frage nach dem Zusammenhang von Zivilisationsniveau und Kriegsprophylaxe hätten intensivere Beachtung finden müssen, als das im vorliegenden Buch geschieht. Warum schließlich, um ein weiteres Beispiel für das anzuführen, was man in Michael Erbes Band vermißt, ungeachtet aller Spannungen zwischen den Mächten der Pentarchie die "Kunst des Friedensschlusses" in Wien gelungen ist, hätte eingehender, als der Autor es tut, erklärt werden können: Es war die Erfahrung mit der zwillinghaften Existenz von Gewalt und Chaos, welche die versammelten Repräsentanten Europas immer wieder zur Einigung finden ließ - eine generationsgebundene Erfahrung im übrigen, die das Scheitern, weil die Zeit voranschreitet und Geschichte die Feindin der Dauer ist, in sich trug und kaum bleibenden Bestand zu wahren vermochte.
Und schließlich sei noch auf einen Gesichtspunkt verwiesen, über den man gleichfalls gerne mehr erfahren hätte: Das zeitenthobene, gerade gegenwärtig so aktuelle Problem von weltanschaulich gespeister Interventionsneigung und damit verbundener Kriegsgefahr angemessen zu thematisieren hätte sich im Rahmen des Untersuchungsgegenstandes im allgemeinen und der politischen Philosophie Edmund Burkes im besonderen geradezu aufgedrängt.
Die exemplarisch angeführte Kritik mag genügen, um das eigentliche Defizit des Buches zu illustrieren: Michael Erbes Darstellung bietet zwar, denkt man an den ersten Teil im Motto eines bekannten Nachrichtenmagazins, "Fakten, Fakten, Fakten", verfehlt darüber jedoch insgesamt den Focus: Über die gebündelten Tatsachen gründlicher nachzudenken hätte der Publikation sicherlich gutgetan.
KLAUS HILDEBRAND
Michael Erbe: "Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht". Internationale Beziehungen 1785-1830. Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen in 9 Bänden, Band 5. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2004. 441 S., geb., 88,- [Euro].
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Süddeutsche ZeitungEin bisschen Ordnung auf dieser Erde
Nur Staaten als Akteure? Michael Erbes Darstellung der internationalen Beziehungen zwischen 1785 und 1830
Seit dem Ende des Kalten Kriegs hat das Interesse an Fragen der internationalen Politik in der deutschen Öffentlichkeit spürbar zugenommen. Auch die Geschichte der internationalen Beziehungen, die innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft seit den späten 60er Jahren zwar kein Schattendasein fristete, aber einem permanenten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt war, ist in den Mainstream des Faches zurückgekehrt. Ein großes, auf insgesamt zehn Bände angelegtes Handbuchprojekt spiegelt den Bedeutungsgewinn der Thematik wider. Der von dem Mannheimer Historiker Michael Erbe verfasste fünfte Band dieses Handbuchs beschäftigt sich mit den internationalen Beziehungen vom Vorabend der Französischen Revolution bis zur Juli-Revolution 1830.
Erbes Thema verdient nicht zuletzt deshalb Beachtung, weil im Zentrum des von ihm behandelten Zeitraums zunächst die fundamentale Erschütterung des europäischen Mächtesystems durch die Dynamik der Französischen Revolution und der napoleonischen Hegemonie steht, dann aber - und fast noch wichtiger - der Versuch der europäischen Mächte, nach dem Fall Napoleons und nach 25 Jahren Krieg auf dem Wiener Kongress eine stabile und friedliche internationale Ordnung zu begründen.
In einer Zeit, in der sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die internationalen Beziehungen in einer Phase der Transformation und Instabilität befinden, verspricht der Blick auf Ordnungs- und Stabilisierungsanstrengungen der Vergangenheit durchaus aktuelle Reflexionsimpulse. Vor allem amerikanische Historiker und Politikwissenschaftler haben das nach 1990 rasch so gesehen und Studien vorgelegt, die die Wiener Ordnung des frühen 19. Jahrhunderts unter Gesichtspunkten wie „kollektive Sicherheit” oder „Stabilisierung einer multipolaren Ordnung” analysieren.
Damit stehen sie freilich in einer Tradition politischer und gegenwartsbezogener Geschichtsschreibung, die in Umbruchphasen der internationalen Ordnung im 20. Jahrhundert immer wieder den Blick zurückwandte in die Zeit des Wiener Kongresses. Das gilt für die großen Studien des britischen Historikers Charles Webster und des österreichischen Historikers Heinrich von Srbik nach 1918, es gilt für die wichtige Abhandlung des englischen Historikers und Diplomaten Harold Nicolson am Ende des Zweiten Weltkriegs, und es gilt für das auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs 1957 erschienene Werk des deutsch-amerikanischen Historikers Henry Kissinger.
Revolution und Repression
Es liegt nicht nur an ihrem Handbuchcharakter, wenn es schwerfällt, die Darstellung von Erbe in diese Traditionslinie zu stellen. Was dem Buch, von knappen Passagen in der Einleitung und der Schlussbetrachtung abgesehen, fehlt, ist eine Gesamtperspektive auf die Entwicklung des internationalen Systems zwischen 1785 und 1830, welche die grundsätzlichen Problemlagen, die dominierenden Kräfte und die bestimmenden Entwicklungslinien der internationalen Beziehungen in dieser Zeitspanne hervortreten lässt. Das reicht vom Aufstieg und der Dynamik des nationalen Gedankens über das Spannungsverhältnis von monarchischer Hoheit und Volkssouveränität bis hin zur Bedeutung des Gleichgewichtsdenkens.
All dies wird zwar behandelt, aber nur in Ansätzen zurückbezogen auf die Entwicklung internationaler Beziehungen - präziser müsste man eigentlich sagen: die Entwicklung internationaler Politik - und des internationalen Systems. Insbesondere die Verbindung von Außen- und Innenpolitik, von internationalen und innerstaatlichen sowie gesellschaftlichen Prozessen, die in den Jahren um 1800 und gerade im Zusammenhang mit Französischer Revolution und napoleonischer Herrschaft die internationalen Beziehungen zu charakterisieren beginnt, wird nicht systematisch erörtert.
So war die Heilige Allianz von 1815 eben nicht nur, wenn überhaupt, Instrument internationaler Politik, sondern mindestens ebenso sehr ein innenpolitisches Repressionsinstrument, um überall in Europa die Kräfte von Liberalismus und Nationalismus zu bekämpfen. Diese doppelte Zwecksetzung ist freilich nur vor dem Erfahrungshintergrund der handelnden Politiker von 1815 zu verstehen. Seit 1789 hatte man erlebt, welch mächtige Dynamik die Idee der Nation zu entfesseln vermochte, eine Dynamik, die zu Diktatur, Terror und Bürgerkrieg in Frankreich führte und zu einem Vierteljahrhundert Krieg in ganz Europa.
Dass dem Handbuch die allgemeinen und weit in das 19. und 20. Jahrhundert hineinreichenden Entwicklungsstränge entgleiten, dürfte auch mit der Gliederung zu tun haben, die nur wenig Raum lässt für generalisierende Ausführungen. Stattdessen werden im ersten Teil vor allem die Akteure, für Erbe die Staaten der Welt um 1800, vorgestellt. Dass die Darstellung hier systematisch auch die außereuropäische Welt einbezieht, gehört zu den Vorzügen des Bandes; das ist in der Historiographie der internationalen Beziehungen noch immer alles andere als selbstverständlich.
Im zweiten Teil folgt dann ein „ereignisgeschichtlicher” Überblick. Dieses Gliederungsprinzip ist dem Handbuch vorgegeben, gerade in diesem Band erweist es sich jedoch als problematisch. Denn zum einen werden auf Grund der Einzelstaatsorientierung internationale Beziehungen auf Außenpolitik(en) verengt; der Systemkontext, in dem einzelstaatliche Außenpolitik stattfand, bleibt blass. Zum anderen aber führt die Gliederung zu Wiederholungen und deshalb zu zahllosen Quer- und Rückverweisen vor allem im zweiten Teil des Buchs, die den Lektürefluss doch stören.
Die Schwelle zur Moderne
Solche eher formalen Kritikpunkte sollten vielleicht bei einem Handbuch nicht überbetont werden. Doch verweisen sie auch auf inhaltliche Probleme. Können wir in den Jahren um 1800 nur Staaten als Akteure in den internationalen Beziehungen ansehen? Müssten hier nicht systematisch und quer zu den Staaten und ihren Regierungen andere Akteure identifiziert werden: Bankhäuser, internationale Handelsunternehmen, Wissenschaftler und Intellektuelle, um nur wenige Beispiele zu nennen?
Solche perspektivischen Erweiterungen widersprechen keineswegs dem politikhistorischen Ansatz, dem dieses Handbuch mit durchaus guten Gründen verpflichtet ist. Im Gegenteil: Sie resultieren geradezu zwangsläufig aus dem fundamentalen Gestaltwandel von Politik an der Schwelle zur Moderne, wie ihn für den Bereich der internationalen Politik der amerikanische Historiker Paul Schroeder vor einigen Jahren in einem englischsprachigen Handbuch analysiert hat. Eine solche Gesamtperspektive auf die Transformation der europäischen Politik bietet Erbe nur in Ansätzen, wenn auch sein Buch reich ist an Informationen und Beobachtungen, die ohne weiteres eine noch stärker verallgemeinernde Deutung tragen könnten.
ECKART CONZE
MICHAEL ERBE: Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785-1830. Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen, Bd. 5. Schöningh, Paderborn 2004. 441 Seiten, 88 Euro.
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Nur Staaten als Akteure? Michael Erbes Darstellung der internationalen Beziehungen zwischen 1785 und 1830
Seit dem Ende des Kalten Kriegs hat das Interesse an Fragen der internationalen Politik in der deutschen Öffentlichkeit spürbar zugenommen. Auch die Geschichte der internationalen Beziehungen, die innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft seit den späten 60er Jahren zwar kein Schattendasein fristete, aber einem permanenten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt war, ist in den Mainstream des Faches zurückgekehrt. Ein großes, auf insgesamt zehn Bände angelegtes Handbuchprojekt spiegelt den Bedeutungsgewinn der Thematik wider. Der von dem Mannheimer Historiker Michael Erbe verfasste fünfte Band dieses Handbuchs beschäftigt sich mit den internationalen Beziehungen vom Vorabend der Französischen Revolution bis zur Juli-Revolution 1830.
Erbes Thema verdient nicht zuletzt deshalb Beachtung, weil im Zentrum des von ihm behandelten Zeitraums zunächst die fundamentale Erschütterung des europäischen Mächtesystems durch die Dynamik der Französischen Revolution und der napoleonischen Hegemonie steht, dann aber - und fast noch wichtiger - der Versuch der europäischen Mächte, nach dem Fall Napoleons und nach 25 Jahren Krieg auf dem Wiener Kongress eine stabile und friedliche internationale Ordnung zu begründen.
In einer Zeit, in der sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die internationalen Beziehungen in einer Phase der Transformation und Instabilität befinden, verspricht der Blick auf Ordnungs- und Stabilisierungsanstrengungen der Vergangenheit durchaus aktuelle Reflexionsimpulse. Vor allem amerikanische Historiker und Politikwissenschaftler haben das nach 1990 rasch so gesehen und Studien vorgelegt, die die Wiener Ordnung des frühen 19. Jahrhunderts unter Gesichtspunkten wie „kollektive Sicherheit” oder „Stabilisierung einer multipolaren Ordnung” analysieren.
Damit stehen sie freilich in einer Tradition politischer und gegenwartsbezogener Geschichtsschreibung, die in Umbruchphasen der internationalen Ordnung im 20. Jahrhundert immer wieder den Blick zurückwandte in die Zeit des Wiener Kongresses. Das gilt für die großen Studien des britischen Historikers Charles Webster und des österreichischen Historikers Heinrich von Srbik nach 1918, es gilt für die wichtige Abhandlung des englischen Historikers und Diplomaten Harold Nicolson am Ende des Zweiten Weltkriegs, und es gilt für das auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs 1957 erschienene Werk des deutsch-amerikanischen Historikers Henry Kissinger.
Revolution und Repression
Es liegt nicht nur an ihrem Handbuchcharakter, wenn es schwerfällt, die Darstellung von Erbe in diese Traditionslinie zu stellen. Was dem Buch, von knappen Passagen in der Einleitung und der Schlussbetrachtung abgesehen, fehlt, ist eine Gesamtperspektive auf die Entwicklung des internationalen Systems zwischen 1785 und 1830, welche die grundsätzlichen Problemlagen, die dominierenden Kräfte und die bestimmenden Entwicklungslinien der internationalen Beziehungen in dieser Zeitspanne hervortreten lässt. Das reicht vom Aufstieg und der Dynamik des nationalen Gedankens über das Spannungsverhältnis von monarchischer Hoheit und Volkssouveränität bis hin zur Bedeutung des Gleichgewichtsdenkens.
All dies wird zwar behandelt, aber nur in Ansätzen zurückbezogen auf die Entwicklung internationaler Beziehungen - präziser müsste man eigentlich sagen: die Entwicklung internationaler Politik - und des internationalen Systems. Insbesondere die Verbindung von Außen- und Innenpolitik, von internationalen und innerstaatlichen sowie gesellschaftlichen Prozessen, die in den Jahren um 1800 und gerade im Zusammenhang mit Französischer Revolution und napoleonischer Herrschaft die internationalen Beziehungen zu charakterisieren beginnt, wird nicht systematisch erörtert.
So war die Heilige Allianz von 1815 eben nicht nur, wenn überhaupt, Instrument internationaler Politik, sondern mindestens ebenso sehr ein innenpolitisches Repressionsinstrument, um überall in Europa die Kräfte von Liberalismus und Nationalismus zu bekämpfen. Diese doppelte Zwecksetzung ist freilich nur vor dem Erfahrungshintergrund der handelnden Politiker von 1815 zu verstehen. Seit 1789 hatte man erlebt, welch mächtige Dynamik die Idee der Nation zu entfesseln vermochte, eine Dynamik, die zu Diktatur, Terror und Bürgerkrieg in Frankreich führte und zu einem Vierteljahrhundert Krieg in ganz Europa.
Dass dem Handbuch die allgemeinen und weit in das 19. und 20. Jahrhundert hineinreichenden Entwicklungsstränge entgleiten, dürfte auch mit der Gliederung zu tun haben, die nur wenig Raum lässt für generalisierende Ausführungen. Stattdessen werden im ersten Teil vor allem die Akteure, für Erbe die Staaten der Welt um 1800, vorgestellt. Dass die Darstellung hier systematisch auch die außereuropäische Welt einbezieht, gehört zu den Vorzügen des Bandes; das ist in der Historiographie der internationalen Beziehungen noch immer alles andere als selbstverständlich.
Im zweiten Teil folgt dann ein „ereignisgeschichtlicher” Überblick. Dieses Gliederungsprinzip ist dem Handbuch vorgegeben, gerade in diesem Band erweist es sich jedoch als problematisch. Denn zum einen werden auf Grund der Einzelstaatsorientierung internationale Beziehungen auf Außenpolitik(en) verengt; der Systemkontext, in dem einzelstaatliche Außenpolitik stattfand, bleibt blass. Zum anderen aber führt die Gliederung zu Wiederholungen und deshalb zu zahllosen Quer- und Rückverweisen vor allem im zweiten Teil des Buchs, die den Lektürefluss doch stören.
Die Schwelle zur Moderne
Solche eher formalen Kritikpunkte sollten vielleicht bei einem Handbuch nicht überbetont werden. Doch verweisen sie auch auf inhaltliche Probleme. Können wir in den Jahren um 1800 nur Staaten als Akteure in den internationalen Beziehungen ansehen? Müssten hier nicht systematisch und quer zu den Staaten und ihren Regierungen andere Akteure identifiziert werden: Bankhäuser, internationale Handelsunternehmen, Wissenschaftler und Intellektuelle, um nur wenige Beispiele zu nennen?
Solche perspektivischen Erweiterungen widersprechen keineswegs dem politikhistorischen Ansatz, dem dieses Handbuch mit durchaus guten Gründen verpflichtet ist. Im Gegenteil: Sie resultieren geradezu zwangsläufig aus dem fundamentalen Gestaltwandel von Politik an der Schwelle zur Moderne, wie ihn für den Bereich der internationalen Politik der amerikanische Historiker Paul Schroeder vor einigen Jahren in einem englischsprachigen Handbuch analysiert hat. Eine solche Gesamtperspektive auf die Transformation der europäischen Politik bietet Erbe nur in Ansätzen, wenn auch sein Buch reich ist an Informationen und Beobachtungen, die ohne weiteres eine noch stärker verallgemeinernde Deutung tragen könnten.
ECKART CONZE
MICHAEL ERBE: Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785-1830. Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen, Bd. 5. Schöningh, Paderborn 2004. 441 Seiten, 88 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Während Klaus Hildebrand die ersten beiden Bände des "Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen" als "ausgesprochen gelungen" lobt, findet er den von Michael Erbe jetzt vorgelegten dritten Band "Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht", der die Jahrzehnte zwischen 1785 und 1830 behandelt, "eher enttäuschend". Verantwortlich dafür macht Hildebrand einen "Mangel an gedanklicher Durchdringung des Stoffes". Unter den "geradezu überreich ausgebreiteten Fakten" verschwinden seines Erachtens die Grundfragen und Grundmuster der Epoche. Erbe stelle Ereignisse wie die französischen Revolutionskriege, die "Napoleonische Hegemonialpolitik", die "Neuordnung Europas" auf dem Wiener Kongress und so fort "vorwiegend" in "referierender Art und Weise" dar. Zusammenhänge kämen bei der Anhäufung von Fakten generell zu kurz. "Über die gebündelten Tatsachen gründlicher nachzudenken", resümiert Hildebrand, "hätte der Publikation sicherlich gutgetan".
© Perlentaucher Medien GmbH
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