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Yasmina Reza, die mit "Der Gott des Gemetzels" in der Verfilmung von Roman Polanski internationale Triumphe feiert, ist nicht nur die meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin, sondern auch eine Meisterin der kleinen Form. In "Hammerklavier", ihrem ersten Prosabuch, notierte die in Frankreich lebende Autorin bereits kurze fiktive und autobiographische Szenen, Geschichten über Familie und Freunde, ein Selbstporträt in Vignetten. In "Nirgendwo", acht Jahre später, hat sie ähnliche Momentaufnahmen festgehalten in anekdotisch-philosophischen Erzählungen über ihre beiden Kinder und ihre eigene…mehr

Produktbeschreibung
Yasmina Reza, die mit "Der Gott des Gemetzels" in der Verfilmung von Roman Polanski internationale Triumphe feiert, ist nicht nur die meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin, sondern auch eine Meisterin der kleinen Form. In "Hammerklavier", ihrem ersten Prosabuch, notierte die in Frankreich lebende Autorin bereits kurze fiktive und autobiographische Szenen, Geschichten über Familie und Freunde, ein Selbstporträt in Vignetten. In "Nirgendwo", acht Jahre später, hat sie ähnliche Momentaufnahmen festgehalten in anekdotisch-philosophischen Erzählungen über ihre beiden Kinder und ihre eigene wurzellose Kindheit. Momente zärtlicher Aufmerksamkeit, heiter und melancholisch zugleich.
Autorenporträt
Reza, Yasmina§Yasmina Reza, 1959 geboren, ist Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin und die meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin. Bei Hanser erschienen u.a. Glücklich die Glücklichen (Roman, 2014), Babylon (Roman, 2017), für den sie mit dem Prix Renaudot 2016 ausgezeichnet wurde, Kunst (Schauspiel, 2018), Der Gott des Gemetzels (Schauspiel, 2018), Bella Figura (Schauspiel, 2019), Drei Mal Leben (Schauspiel, 2019) und Anne-Marie die Schönheit (2019). Für ihr Werk wurde sie zuletzt mit dem Jonathan-Swift-Preis 2020 ausgezeichnet. Das Theaterstück Der Gott des Gemetzels wurde 2011 sehr erfolgreich von Roman Polanski verfilmt, hochkarätig besetzt mit Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly.

Schmidt-Henkel, Hinrich§Hinrich Schmidt-Henkel, 1959 geboren, arbeitet seit 1988 als Übersetzer für norwegische, französische und italienische Literatur. 2000 erhielt er den Jane-Scatcherd-Preis der Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Stiftung und 2004 den Paul-Celan-Preis des Deutschen Literaturfonds.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wie in ihrem neuesten Buch "Heureux les heureux", das bisher nur im französischen Original vorliegt, lässt Yasmina Reza in "Nirgendwo" eine ganze "Parade der Unseligen" aufmarschieren, berichtet Lena Bopp. In teils autobiografischen, teils fiktiven Skizzen inszeniert sie einen furchtbar normalen Alltag, der dem Bürgertum "schonungslos und humorvoll den Spiegel" vorhält. Die einzelnen Episoden liegen zwar zum Großteil schon in einer älteren Übersetzung vor, einige wenige erscheinen aber nun zum ersten Mal auf Deutsch und entlohnen so auch langjährige Wegbegleiter Rezas, freut sich die Rezensentin. Denjenigen, die mit der Autorin noch nicht in Kontakt gekommen sind, empfiehlt Bopp das Buch umso mehr.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2012

In der Karibik
der Lebensart
Yasmina Rezas autobiografische Skizzen zeugen
von der Suche nach verlorenen bürgerlichen Werten
VON TILL BRIEGLEB
Es fällt ziemlich schwer zu beschreiben, was „das Bürgerliche“ heute eigentlich noch ist. Sind es die Wilmersdorfer Witwen mit ihrem Abonnement in der Berliner Schaubühne, Eppendorfer, die zwischen Bücherregalen leben und zu Veranstaltungen über Aby Warburg gehen, Zeit -Leser aus Düsseldorf oder Münchner Professoren? Die typischen Attribute der Bourgeoisie wie Kunstdrucke, Herrenschneider, halbe Lesebrille oder Goethe-Zitate sterben aus oder haben jedenfalls so weit jeden Klassencharakter verloren, dass kaum jemand sich noch die Mühe macht, sie als Zeichen für irgendeine Gesinnung zu kritisieren. Tatsächlich genießt in der zeitgenössischen Kunstproduktion die „satte Bürgerlichkeit“ nur noch selten genug Gegenwartsinteresse, um ein Thema zu sein. Bürgerliche Werte, so das friedliche Resultat eines Jahrhunderte dauernden Druckausgleichs, erreichen in Mitteleuropa offensichtlich gerade noch den Rang von Geschmacksfragen.
  Doch ab und zu begegnet man noch Kulturschaffenden, die dem Traum von einer intakten bürgerlichen Welt nachhängen – während sie diese kritisieren. Die aktuell vielleicht berühmteste Wertewahrerin ist die französische Autorin Yasmina Reza. In ihren Theaterstücken und Romanen lebt die Sehnsucht nach einer Lebensart fort, die bedeutet, dass die Kinder Klavierunterricht nehmen und die Eltern zu Salons über Roland Barthes eingeladen sind, wo die schönen Dinge des Lebens irgendwie noch den Geist des 19. Jahrhunderts atmen und ein richtiger Beruf noch ein richtiges Ansehen hat.
  Yasmina Rezas vermeintlich moderne Menschen, die sich über den Wert eines weißen Bildes beinahe überwerfen (wie in ihrem Theater-Dauerbrenner „Kunst“), über ihre rechtschaffene Fassade in Streit geraten („Gott des Gemetzels“) oder am mangelnden Ehrgeiz des Sohnes verzagen („Eine Verzweiflung“), entstammen nicht nur einem vermögenden Milieu mit dem schön eingerichteten Wohnzimmer als Mentalitäts-Agora. Die Konflikte, die Yasmina Reza stets auf elegante Weise eskalieren lässt, sind auch immer moralisch im Sinne einer Mittelschicht, die sich eigentlich für etwas Besseres hält.
  Wie es kommt, dass Yasmina Reza die heile Welt des Pariser Wohlstands für die Karibik der Lebensart hält, das lässt sich in ihren autobiografischen Notizen nachempfinden, die jetzt unter dem Titel „Nirgendwo“ erschienen sind (was genau genommen die Wiederherausgabe des 1998 bereits auf Deutsch erschienen Bandes „Hammerklavier“ plus dreißig Seiten „Nirgendwo“ aus dem Jahr 2005 ist). In fast schwärmerischen Tönen beschreibt die angeblich erfolgreichste Theaterautorin der Gegenwart die Zuneigung innerhalb ihrer Familie, besonders zu ihrem sterbenden Vater, berichtet von Freundschaften, die immer gebildet und besonders sind, und sammelt kokett Anekdoten, die sich um ihre eigene Schönheit und den richtigen Umgang mit „richtigen“ Frauen drehen. Die schweigende Geige ihrer Mutter im Regal oder alte Fotos rühren die Autorin zu Tränen oder entfesseln in ihr die „wildesten Sehnsüchte“ nach fernen Zeiten und Gegenden. Und immer wieder suchen die Selbsterzählungen ihren Sinn in Begriffen wie Anmut, Geheimnis, Überlegenheit oder sprühende Intelligenz. Wenn das keine romantische Suche nach den verlorenen bürgerlichen Werten ist.
  Leider ist der elegante Stil, wenn Yasmina Reza ihn statt auf andere, auf sich selbst anwendet, nicht wirklich frei von Selbststilisierung und Eitelkeit. Sowohl die schluchzenden Bekenntnisse zu Rührung und Emotionalität als auch die schnippischen Betrachtungen der Marotten ihrer Mitmenschen machen es nicht leicht, die Autorin als wirklich sympathische Person wahrzunehmen. Etwa in der Episode, in der sie die Beziehung zu einem langjährigen Freund abrupt beendet, weil sie ihn so lange genötigt hat, ihr die Wahrheit über einen neu erworbenen Schmuck zu sagen, bis dieser es endlich widerstrebend tut. Oder mit der Anekdote über eine Kaffeeeinladung von Roger Blin, die von der jungen Schauspielanwärterin Yasmina Reza ausgeschlagen wird, was ihr viele Jahre später die etwas gekünstelt naive Einsicht beschert, dass sie dem großen französischen Schauspieler und Regisseur „wohl Kummer bereitet habe“.
  Vielleicht mildert die Offenheit, mit der Yasmina Reza gelegentlich die eigene Überheblichkeit darstellt, den Eindruck, dass in ihren blasierten Theaterfiguren vielleicht doch mehr Persönliches steckt, als man galanterweise annehmen möchte. Andererseits gewinnt gerade diese Ehrlichkeit in der Beschreibung ihrer weniger einnehmenden Charakterzüge gelegentlich das Odeur von Selbstgerechtigkeit. Wenn sie berichtet, wie vehement ihre Kinder sich gegen die Veröffentlichung der intimen Familienbetrachtungen in „Hammerklavier“ gewehrt hätten, führt das nur dazu, dass sie auch in „Nirgendwo“ ausführlich schildert, wie ihr Sohn sich dafür schämt, dass seine Mutter ihm vom Balkon aus ewig zuwinkt, wenn er auf dem Weg zur Schule ist. Und das schnappende Messer bürgerlicher Stilkritik bekommt eine Frau, die im Jerusalemer Orthodoxenviertel Mea Scharim ihren Mantel nicht ordentlich geschlossen hat, ebenso zu spüren wie die eigene Tochter, deren langatmige Puppenaufführungen die Eltern gar mit Neros Zwangsvorführungen am römischen Kaiserhof vergleichen.
  Vermutlich ist Yasmina Rezas Bemühen, ihr öffentliches Privatleben als zufriedene bürgerliche Gesinnung auszuschmücken, der Hauptgrund, weshalb diese Notizensammlung so befremdlich zuckrig daherkommt. In dieser Welt existieren einfach keine schmerzlichen Widersprüche und glaubhaften Selbstzweifel, denn in Rezas Leben ist alles vor allem literarisch. Im Umschleichen von echten Abgründen findet diese Selbstdarstellung so einen Ton der Genügsamkeit, mit dem alle erzählten Konflikte und Kümmernisse so schmuck erscheinen wie ein französischer Hauptstadtboulevard. Und das ist eine Kulisse, die einen dann doch wieder daran erinnert, dass bürgerliche Werte eventuell mehr sind als eine Geschmacksfrage.
Mal schluchzend, mal schnippisch
ergeht sich die Autorin in
etwas eitlen Familienanekdoten
 
     
Yasmina Reza: Nirgendwo. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé („Hammerklavier“) sowie Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel („Nirgendwo“). Carl Hanser Verlag, München 2012.
260 Seiten, 17,90 Euro.
Der verhangene Blick gehört wohl dazu bei einer Autorin, die weiß, was eine richtige Frau ist.
FOTO: PASCAL VICTOR/ARTCOMART
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2013

Glücklich sind die Glücklichen

Kann man sich Yasmina Reza als eine einsame Frau vorstellen? Eigentlich nicht. Doch nun sind zwei Bücher erschienen, eines auf Deutsch, eines auf Französisch, die ein anderes Bild von der großen Schriftstellerin vermitteln.

Irgendwann in diesem wunderbaren Buch kommt Marguerite Blot zu Wort. Sie erzählt von ihrem Kollegen, einem gewissen Jean-Gabriel Vigarello, dessen Wege sie seit Jahren im Lehrerzimmer des Gymnasiums kreuzt, an dem sie Spanisch unterrichtet. Er ist ihr nie aufgefallen. Eines Tages aber entdeckt sie, dass sich unter seiner unmöglichen Frisur - die Ponyfransen hängen ihm tief ins Gesicht - ganz bemerkenswerte Augen verbergen. Bei einer Klassenfahrt nach Madrid geschieht, was geschehen muss. Zurück in Rouen, aber ist alles, wie es immer war. Der Kollege reagiert nicht auf ihre kleinen Botschaften, und so kommt Marguerite Blot ein Gedicht von Borges in den Sinn, in dem es heißt: "Ya no es mágico el mundo. Te han dejado." Und die Welt ist nicht mehr magisch. Man hat dich zurückgelassen. "Jeder", sagt Marguerite Blot, "kann uns zurücklassen, selbst ein Jean-Gabriel Vigarello mit seiner Beatles-Frisur fünfzig Jahre nach der Zeit."

Das ist das Grundgefühl all der neunzehn Figuren, die uns in dem neuen Buch von Yasmina Reza begegnen. Ganz gleich, ob sie Lehrerin sind wie Marguerite oder überwiegend Ehefrau wie Hélène Barnèche oder ob sie, wie Rémi Grobe, als gutbezahlter Consultant arbeiten - sie alle werden in ihrem Alltag von dem Wissen begleitet, dass schon ein Augenblick, eine einzige richtig gestellte Frage genügt, um jene prekäre Sicherheit zum Einsturz zu bringen, auf der ihr Leben fußt. Das Grundgefühl ihrer Existenz zeigt sich unabhängig von der Gesellschaft, in der sie sich befinden, es ist für alle gleich und hat doch keine verbindenden Kräfte: Es ist eine elementare Einsamkeit.

Nicht, dass das für Yasmina Reza neu wäre. Wenn irgendjemand sich in den Verlorenheiten des bürgerlichen Alltags auskennt, in den abgelegten Illusionen, den Zugeständnissen, Fluchten, kleineren und größeren Lügen, dann ist sie es. Es gibt fast niemanden, der uns Angehörigen des Bürgertums, als die wir Leser von anspruchsvoller Literatur ja gerne gelten, so schonungslos und humorvoll den Spiegel vorhält wie die in Paris lebende, 53 Jahre alte Schriftstellerin. Das hat sie oft bewiesen, und in ihrem Roman "Heureux les heureux" tut sie es wieder. Das Buch ist dieser Tage in Frankreich erschienen, eine deutsche Übersetzung liegt also leider noch nicht vor. Aber weil sich Yasmina Reza hier absolut auf der Höhe ihrer Kunst zeigt und weil ihr Französisch auch für Leser verständlich ist, die der Sprache nur halbwegs mächtig sind, soll von ihm hier schon heute die Rede sein.

"Heureux les heureux" bedeutet so viel wie "Glücklich sind die Glücklichen", was wieder ein Borges-Zitat ist und außerdem eine Tautologie, die man ironisch verstehen soll. Menschen wie du und ich tauchen in diesem Buch auf, in kurzen, mit ihren jeweiligen Namen überschriebenen Kapiteln erzählen sie von sich - nicht in Form von großangelegten Geschichten, sondern in Momentaufnahmen und Szenen des Alltags wie jener, in der das Ehepaar Robert und Odile Toscano im Supermarkt in einen grotesken Streit gerät, weil er angeblich den falschen Käse gekauft hat und sie zu viele Süßigkeiten für die Kinder. Oder der, die sich in einem kleinen Dorf im Norden Frankreichs ereignet, wo sich Rémi Grobe tatsächlich für ein paar Stunden in Odile Toscano verliebt, die er sonst nur zu gelegentlichen Abenteuern trifft.

Erzählt sind diese Geschichten in Form von inneren Monologen, peu à peu stellt man dabei fest, dass sich die Figuren kennen, mal sind sie befreundet, mal verbinden sie heimliche Affären, mal die Leidenschaft fürs Glücksspiel. So lernen wir jeden Einzelnen aus unterschiedlichen Perspektiven kennen, so spiegelt in einem Verfahren des fortlaufenden mise en abyme eine Existenz die andere, und so entsteht, wie in einem Puzzlespiel, allmählich das Bild einer comédie humaine der Neuzeit. In ihr sind alle Figuren ständig darum bemüht, vor den anderen im besten Licht zu erscheinen, manche wissen, wie brüchig die Fassade ist, hinter der sie sich verbergen, andere haben es erfolgreich verdrängt. Hier ist die Welt eine Bühne und das Leben eine Rolle, die man spielt. Die Mitspieler sind gleichzeitig die Gegner, Ehepartner, Freunde, Kinder und Kollegen. Gewonnen hat, wer möglichst selten den Vorhang lüften muss.

Dabei sind es gerade die Momente des Verstoßes gegen die ungeschriebenen Regeln des Miteinanders, in denen gleichermaßen der größte Witz liegt und die größte Freiheit. Großartig in diesem Sinn ist jene Szene in der Küche der Toscanos, in der Robert mit seinen besten Freunden Luc und Lionel Spaghetti isst. Die drei Männer sind unter sich, ohne ihre Frauen, sie fühlen sich wohl. Man trinkt und redet, und schließlich erzählt Lionel vom Drama um seinen Sohn Jacob, der angeblich bei einem Praktikum in London weilt, in Wahrheit aber in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde, weil er ernsthaft glaubt, Céline Dion zu sein. Luc, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt ist, kann kaum an sich halten. Er weiß, er darf seinen Freund Robert jetzt nicht anschauen, sonst bricht er in schallendes Gelächter aus. Aber dann sieht er ihn an - und die beiden lachen sich schlapp. Du weißt, sagt Robert, wir machen uns nicht über dich lustig. "Lionel war großartig, er lächelte liebenswürdig und sagte, ich weiß, ich weiß."

In Szenen wie dieser zeigt sich die ganze Meisterschaft von Yasmina Reza. Mit kurzen, stilistisch einfachsten Sätzen schafft sie auf engstem Raum eine Atmosphäre, die von jenem heiklen Gleichgewicht geprägt ist, das die Möglichkeit des Tragischen ebenso in sich trägt wie die des Komischen. Verrat und Verbrüderung vollziehen sich auf nicht einmal zwei Buchseiten. Lionel verliert sein Gesicht ausgerechnet in der tröstenden Umarmung seiner Freunde. Und wie ihm geschieht es nahezu allen anderen in diesem Buch. In der Parade der Unseligen, die Reza vor uns aufmarschieren lässt, fällt jeder irgendwann aus der Rolle und findet sich in diesen Momenten höchster Not - allein.

Von diesem existentiellen Alleinsein hat Reza immer wieder erzählt. Auch in dem Buch, das zuletzt auf Deutsch von ihr erschienen ist, den halb autobiographischen, halb fiktiven Skizzen mit dem Titel "Nirgendwo". Den weitaus größten Teil dieser Prosaminiaturen kennen Reza-Leser zwar schon aus einer vor Jahren veröffentlichten Übersetzung. Aber der kleinere Teil erscheint hierzulande nun zum ersten Mal. In ihm erzählt Yasmina Reza Anekdoten aus der Zeit, in der ihre Kinder klein waren. Sie erzählt von der Freundin Moïra, der sie viele ihrer Bücher gewidmet hat, und sie erinnert sich an ihre Eltern. Dieser Erinnerung folgt ein längerer Essay über die Suche nach einer eigenen Identität: Als Tochter einer aus Ungarn stammenden Mutter und eines Vaters, der jüdische, iranische und russische Wurzeln hatte, ließ sich die Frage nach der Herkunft für Reza nie leicht beantworten. "Welcher Unterschied besteht zwischen den Menschen, die einen eigenen Winkel haben, und denen, die keinen haben? Was nutzt ein Ort, eine Gegend, Wurzeln, weil man doch sowieso - ?"

Das Unsagbare, das sich in dem Gedankenstrich ausdrückt, meint den Tod, also die unaufhaltsam verstreichende Zeit. Sie ist der Anfangs- und der Endpunkt des Rezaschen Schreibens, die ihr zu verdankenden Abnutzungserscheinungen bilden dabei aber nicht nur die Grundlage der köstlichen Szenen des furchtbar normalen Alltags, an denen wir Leser uns immer wieder erfreuen. Sie sind auch der Kern der auf sie selbst bezogenen Reflexionen. Über "Eugénie Grandet", den Roman Balzacs, der ihr "am nächsten war und ist", schreibt sie: "Von Eugénie Grandet bleibt das unerreichbare Leben, und auch wenn ich lustig und fröhlich und ,das Leben selbst' bin, spiele ich, wohin ich auch gehe, was auch immer mein Los ist, in der einsamen Ebene und beweine, was die Vergessenen beweinen." Yasmina Reza, eine Vergessene? Klingt wie Koketterie. Aber wenn es das nicht ist, und diese Möglichkeit muss man fairerweise in Betracht ziehen, dann wäre uns diese großartige Schriftstellerin am Ende vielleicht doch noch näher, als wir dachten.

LENA BOPP

Yasmina Reza: "Heureux les heureux". Roman.

Flammarion, Paris 2013. 187 S., br., 18,- [Euro].

Yasmina Reza: "Nirgendwo".

Edition Hanser Akzente, München 2012. 150 S., br., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Diese Miniaturen der Melancholie berühren den Leser; ein schmerzlich schönes Buch." Wolfgang Schneider, Deutschlandradio Kultur, 27.11.12

"Dieses kleine Bändchen ist etwas ganz Besonderes. Aus vielen Momentaufnahmen ergibt sich der Roman ihres Lebens. Man versteht, wo Yasmina Reza herkommt." Iris Radisch, Die Zeit, 31.10.12

"Eindringlich, diskret, radikal und poetisch." Die Zeit, 04.10.12