Zwischen 1901 und 1914 publizierte Ernst Troeltsch 150 Rezensionen zu Neuerscheinungen in Theologie, Philosophie, Sozialwissenschaften und Kulturgeschichte. Viele dieser häufig an weit entlegenen Orten publizierten Texte waren bisher nicht bekannt. Sie bieten nicht nur faszinierende Einblicke in Troeltschs Denkwerkstatt, sondern erschließen auch neue Perspektiven auf die im Heidelberger Gelehrtenmilieu geführten Debatten über die Kulturbedeutung von Religion und Christentum. Troeltsch rezensierte Texte von James, Simmel und Rickert, schrieb einen großen Nachruf auf seinen Freund Georg Jellinek, nahm an den Methodendebatten der deutschen Historiker intensiv Anteil und entwickelte in Rezensionen das integrative Konzept einer Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2004Wie will man sich am eigenen Schopf aus dem Zeitgeschichtlichen ziehen, ohne darin unterzugehen?
Aporien des Kulturprotestantismus: Um das Christentum modernitätsverträglich zu machen, schrieb sich Ernst Troeltsch auch in seinen Rezensionen bis an die Grenzen der religiösen Selbstaufgabe heran
Friedrich Meinecke erinnerte sich an ihn und Max Weber als "die zwei mächtigen Menschen in Heidelberg", und Max Scheler sprach bei seinem Tod von einem der "verehrungswürdigsten Geister Deutschlands und der Zeit": Ernst Troeltsch (1865 bis 1923), heute über die Grenzen der protestantischen Theologie hinaus wenig bekannt und beansprucht, war einer der bedeutendsten unter den erstaunlich vielen bedeutenden Gelehrten, die im ausgehenden neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert in Deutschland aufkamen und wirkten. Außerordentlich weit gespannt waren, selbst für damalige Verhältnisse, seine Wissens- und Forschungsgebiete. Sie reichten von der Systematischen Theologie und der Kirchen- und Theologiegeschichte über die allgemeine Kultur- und Ideengeschichte und die Religionssoziologie bis zu mehreren Hauptgebieten der Philosophie. Aber diese Fülle und Vielfalt der Forschungsinteressen verband sich nicht mit einem selbstgenügsamen Rückzug in den berühmten Elfenbeinturm, sondern, ganz im Gegenteil, mit einem starken Bestreben, mit der geballten Kraft solcher Gelehrsamkeit auf das kulturelle und politische Leben einzuwirken. Troeltsch war also gewiß einer der "Mandarine" (Fritz Ringer) auf den Universitätslehrstühlen jener Zeit und ein besonders erfolgreicher dazu, der es nicht nur zu einer wichtigen Rolle in der politischen Publizistik brachte, sondern sogar zu Ämtern in den Vorhöfen der Macht.
Zunächst und vor allem aber war Ernst Troeltsch ein "homo religiosus" und ein Theologe, von der "Selbständigkeit der Religion" (so der Titel einer seiner ersten Publikationen) gegenüber den anderen Formen der Welt- und Selbsterfahrung ebenso überzeugt wie von der Notwendigkeit, mit größter intellektueller Redlichkeit zu prüfen, in welcher Gestalt und in welcher Weise die christliche Religion mit den Einsichten der modernen Wissenschaften und den Funktions- und Entwicklungsbedingungen der modernen Kultur zusammenstimmen könne. Dabei sah er die eigentliche Herausforderung in der unaufhaltsam fortschreitenden Verwissenschaftlichung des geschichtlichen Bewußtseins, in der "grundsätzlichen Historisierung unseres Wissens und Denkens", und zwar einschließlich der "Historisierung der heiligen Geschichte". Einem alles relativierenden, eine "Anarchie der Werte" (Wilhelm Dilthey) erzeugenden Historismus war, so glaubte Troeltsch, nur durch eine selbst geschichtlich vermittelte "Gesamtanschauung" oder "Kultursynthese" zu begegnen, und als "geschichtlicher Erfahrungssatz" galt ihm dabei, "daß ohne religiöse Grundlage, ohne Metaphysik und Ethik, ein einheitlicher und starker Kulturgeist unmöglich" sei (so heißt es in dem 1906 erschienenen Buch "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt").
Drei der auf 21 Bände geplanten Kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Troeltschs versammeln Rezensionen und Kritiken. Daran läßt sich erkennen, welch große Bedeutung er diesem oft unterschätzten und vernachlässigten Genre wissenschaftlicher Publizistik für die Selbstverständigung und auch für die Verteidigung der eigenen Auffassungen beigemessen hat. Der vorliegende, bestens edierte und kommentierte Band enthält 122 Rezensionen (und eine "Erwiderung") aus der mittleren, Heidelberger Phase, in der Troeltschs ohnehin erstaunliche Produktivität besonders groß war. Die Rezensionen sind durchgehend und ganz bewußt mit gleichzeitigen Arbeiten am eigenen Werk verknüpft, zeigen aber, stärker und deutlicher als diese, Troeltsch im unermüdlichen intellektuellen Kampf auf allen erwähnten Feldern und an vielen Fronten zugleich.
Innertheologisch hatte er seine Auffassungen zunächst gegen die immer stärker werdende Kritik von seiten kirchennaher, vor allem lutherischer Kollegen zu vertreten und klarzustellen. So auch gegenüber der Troeltsch-Monographie von Theodor Kaftan, die in eigener Person zu besprechen Troeltsch sich nicht scheut. Daß der Autor ihn "nicht für einen Theologen und kaum wohl für einen Christen erkennen" wolle und natürlich für "kirchlich impotent" halte, kränkt ihn nicht, weil Kaftan überhaupt nur in der Alternative von "biblisch-lutherischem Erlösungs- und Kirchenwunder" oder "völliger Aufgabe des Christentums" zu denken imstande sei. Wie Kaftan nicht begreife, daß eine "freie wissenschaftliche Theologie" im Zuge der historischen Forschung genötigt werde, sich von den kirchlichen Dogmen zu lösen, so wollten andere (wie Friedrich Traub) ihrer "offenbarungsgläubigen Theologie" ein "völlig sicheres, sturmfreies Feld" schaffen, indem sie sie gegen alle Herausforderungen philosophischer Reflexion immunisierten. In Wahrheit, meint Troeltsch, ließen sich die "eigentlich wissenschaftlichen Elemente der Systematischen Theologie" überhaupt nur noch in der Form der Religionsphilosophie sichern.
"Apologetisches Flickwerk" dieser Art unter protestantischen Theologen war Troeltsch offenbar noch mehr zuwider als die ebenfalls apologetischen, der Unterstellung geistiger Inferiorität entgegenarbeitenden Bemühungen katholischer Theologen um ein intellektuelles aggiornamento, denen Troeltsch ungewöhnlich viel Beachtung schenkt. So lobt er (in der Besprechung von Albert Ehrhard, Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit) die "kräftigen und ernsten Reformbestrebungen" im zeitgenössischen Katholizismus, obwohl doch gerade die meisten Reformkatholiken den Protestantismus mit besonderer Geringschätzung und Feindseligkeit behandelten.
Desungeachtet hält Troeltsch eine Versöhnung des Katholizismus mit seiner auf absolute Wahrheit setzenden Lehre und seiner "einheitlichen und universalen Kirchenanstalt" mit der modernen Kultur für ausgeschlossen, eine Verbindung des "supranaturalen Dogmas mit der modernen Philosophie sowie der katholischen Autoritätsmoral mit der verinnerlichten modernen Ethik" für unmöglich. Nur in der mittelalterlichen "Einheitskultur" habe der Katholizismus eine ihm adäquate (und von Troeltsch in ihrer Größe immer wieder hervorgehobene) Form der Verweltlichung gefunden, und nur "allerhand Selbstbetrug" erlaube es, ihn für die Zwecke der nunmehr geforderten neuen, unter ganz anderen intellektuellen und gesellschaftlichen Bedingungen stattfindenden Kultursynthese zuzurichten. Über diese innertheologischen Kontroversen und Abgrenzungen vernachlässigt Troeltsch nicht die Auseinandersetzung mit den "radikalen modernen Christentumsfeinden", mit denen sich "die Positiven" (das sind die Kirchentreuen und Offenbarungsgläubigen unter den protestantischen Theologen) eher abfänden als mit seinesgleichen. So attackiert er, in einer Rezension eines ebenso argumentierenden Buches des Philosophen Richard Hönigswald, den "verworrenen Materialismus" Ernst Haeckels, der "die ersten Elemente einer erkenntnis-kritischen Selbstbesinnung über Wesen und Tragweite naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht begriffen" habe und deshalb "von den materiellen Stoffen und ihren Bewegungen" alles ableiten zu können glaube, auch "den Geist, die Wahrnehmung und das Denken". Mit dem "Halbmaterialismus" von Julius Baumann und dessen Versuch, mit den Erkenntnismitteln der Naturwissenschaften im allgemeinen, der Neurophysiologie im besonderen zu einer ganz residualen "Vernunftreligion" zu gelangen, geht Troeltsch ebenfalls hart ins Gericht ("unergründlich trivial und inhaltslos"). Eine Monographie von Samuel Eck über David Friedrich Strauß gibt ihm Anlaß, dessen Leben Jesu als "die erste entschlossene und unverclausulirte Anwendung der historischen Methode auf die Geschichte der Entstehung des Christentums" zu loben, aber auch zu beklagen, daß Strauß wegen eines "Mangels an religiösem Verständnis" ebenfalls beim "monistischen Materialismus" ende.
Die wissenschaftliche Erhellung des religiösen Verhältnisses kann sich nach Troeltsch selbst dann nicht auf einen theologischen Problemhorizont beschränken, wenn dieser sich im Sinne einer universalistischen, also auf keine bestimmte Religion festgelegten Religionsphilosophie entgrenzt hat. So nutzt er auch seine Rezensionen, um sich mit erfahrungswissenschaftlichen, vor allem psychologischen Analysen des religiösen Bewußtseins auseinanderzusetzen. Insbesondere bei William James erscheint ihm ein Brückenschlag von empirisch-psychologischen zu religionsphilosophischen und damit theologischen Einsichten offenbar möglich, und zwar auch deshalb, weil James selbst sich auf erkenntnistheoretische Fragen einläßt.
Friedrich Wilhelm Graf hat recht, wenn er in seiner instruktiven Einleitung bemerkt, Troeltsch entwerfe in diesen Rezensionen "gleichsam eine Topographie der theologischen Positionslandschaft seiner Zeit". Und treffend ist auch Grafs Formulierung, Troeltschs eigentliches Interesse bestehe im Aufweis und in der Stärkung der "Modernitätskompatibilität des Protestantismus". Ebendieses Interesse treibt Troeltsch weit über die Grenzen der innertheologischen Kontroversen hinaus und in die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Versuchen, der Religion und ihrer Kulturbedeutung mit Hilfe der modernen Wissenschaften beizukommen. Je länger je mehr festigt sich dabei seine Auffassung, daß nicht die Bindung an eine vorgegebene "ewige göttliche Wahrheit in festen Formen" dogmatischer und institutioneller Art, sondern nur die ganz persönliche religiöse Überzeugung, die aus einem "inneren Anschluß" an die "Person Jesu" erwachse, unter den gegebenen Bedingungen Bestand und Zukunft habe. Ihre unverzichtbare intellektuelle Außenstützung aber finde eine solche religiöse Überzeugung in ihrer bewußten Verortung "mitten im Zeitgeschichtlichen" einerseits, in der strengsten philosophischen Reflexion andererseits.
In dieser Konsequenz erweist sich die Gegenwärtigkeit Troeltschs. Die gedanklichen Schwierigkeiten einer derart "relativen", tatsächlich bis an die Grenze der Selbstaufgabe geführten Christlichkeit, der das Absolute nur mehr in "Annäherungswerten" gegeben ist, waren ihm selbst ebenso bewußt wie die Probleme der ihr gemäßen Formen der Verständigung und Gemeinschaftsbildung. Um so erstaunlicher allerdings, daß Troeltsch solcher Christlichkeit nicht nur die Aufgabe zuweist, die "religiöse Grundsubstanz unseres europäischen Lebens" zu bewahren und lebendig fortzubilden, sondern auch als "Zentrum" einer neuen, umfassenden Kultursynthese zu fungieren.
In dieser Zielsetzung liegt die Erfüllung, aber auch die Aporie seiner Suche nach der Modernitätsverträglichkeit christlicher Religiosität. Man kann dieser Aporie entgehen, indem man eine grundsätzliche Inkompatibilität der christlichen Religion mit der modernen Kultur behauptet, um genau daraus auf ihre kulturelle Unverzichtbarkeit zu schließen. Den meisten der von Troeltsch gestellten Fragen und auch vielen seiner Antworten entkommt man auf diese Weise aber nicht. Seine Arbeiten, nicht zuletzt seine Besprechungen und Kritiken, empfehlen sich auch heute noch als intellektuelles Purgatorium - für Christen und christliche Theologen, nicht nur im Umkreis des Bildungs- oder Kulturprotestantismus, aber auch für die Gebildeten unter ihren Verächtern.
JOHANNES WEISS
Ernst Troeltsch: "Rezensionen und Kritiken (1901-1914)". Hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Gabriele von Bassermann-Jordan. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf, Volker Drehsen, Gangolf Hübinger, Trutz Rendtorff. Band 4. Walter de Gruyter Verlag, Berlin 2004. 948 S., geb., 228,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aporien des Kulturprotestantismus: Um das Christentum modernitätsverträglich zu machen, schrieb sich Ernst Troeltsch auch in seinen Rezensionen bis an die Grenzen der religiösen Selbstaufgabe heran
Friedrich Meinecke erinnerte sich an ihn und Max Weber als "die zwei mächtigen Menschen in Heidelberg", und Max Scheler sprach bei seinem Tod von einem der "verehrungswürdigsten Geister Deutschlands und der Zeit": Ernst Troeltsch (1865 bis 1923), heute über die Grenzen der protestantischen Theologie hinaus wenig bekannt und beansprucht, war einer der bedeutendsten unter den erstaunlich vielen bedeutenden Gelehrten, die im ausgehenden neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert in Deutschland aufkamen und wirkten. Außerordentlich weit gespannt waren, selbst für damalige Verhältnisse, seine Wissens- und Forschungsgebiete. Sie reichten von der Systematischen Theologie und der Kirchen- und Theologiegeschichte über die allgemeine Kultur- und Ideengeschichte und die Religionssoziologie bis zu mehreren Hauptgebieten der Philosophie. Aber diese Fülle und Vielfalt der Forschungsinteressen verband sich nicht mit einem selbstgenügsamen Rückzug in den berühmten Elfenbeinturm, sondern, ganz im Gegenteil, mit einem starken Bestreben, mit der geballten Kraft solcher Gelehrsamkeit auf das kulturelle und politische Leben einzuwirken. Troeltsch war also gewiß einer der "Mandarine" (Fritz Ringer) auf den Universitätslehrstühlen jener Zeit und ein besonders erfolgreicher dazu, der es nicht nur zu einer wichtigen Rolle in der politischen Publizistik brachte, sondern sogar zu Ämtern in den Vorhöfen der Macht.
Zunächst und vor allem aber war Ernst Troeltsch ein "homo religiosus" und ein Theologe, von der "Selbständigkeit der Religion" (so der Titel einer seiner ersten Publikationen) gegenüber den anderen Formen der Welt- und Selbsterfahrung ebenso überzeugt wie von der Notwendigkeit, mit größter intellektueller Redlichkeit zu prüfen, in welcher Gestalt und in welcher Weise die christliche Religion mit den Einsichten der modernen Wissenschaften und den Funktions- und Entwicklungsbedingungen der modernen Kultur zusammenstimmen könne. Dabei sah er die eigentliche Herausforderung in der unaufhaltsam fortschreitenden Verwissenschaftlichung des geschichtlichen Bewußtseins, in der "grundsätzlichen Historisierung unseres Wissens und Denkens", und zwar einschließlich der "Historisierung der heiligen Geschichte". Einem alles relativierenden, eine "Anarchie der Werte" (Wilhelm Dilthey) erzeugenden Historismus war, so glaubte Troeltsch, nur durch eine selbst geschichtlich vermittelte "Gesamtanschauung" oder "Kultursynthese" zu begegnen, und als "geschichtlicher Erfahrungssatz" galt ihm dabei, "daß ohne religiöse Grundlage, ohne Metaphysik und Ethik, ein einheitlicher und starker Kulturgeist unmöglich" sei (so heißt es in dem 1906 erschienenen Buch "Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt").
Drei der auf 21 Bände geplanten Kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe Troeltschs versammeln Rezensionen und Kritiken. Daran läßt sich erkennen, welch große Bedeutung er diesem oft unterschätzten und vernachlässigten Genre wissenschaftlicher Publizistik für die Selbstverständigung und auch für die Verteidigung der eigenen Auffassungen beigemessen hat. Der vorliegende, bestens edierte und kommentierte Band enthält 122 Rezensionen (und eine "Erwiderung") aus der mittleren, Heidelberger Phase, in der Troeltschs ohnehin erstaunliche Produktivität besonders groß war. Die Rezensionen sind durchgehend und ganz bewußt mit gleichzeitigen Arbeiten am eigenen Werk verknüpft, zeigen aber, stärker und deutlicher als diese, Troeltsch im unermüdlichen intellektuellen Kampf auf allen erwähnten Feldern und an vielen Fronten zugleich.
Innertheologisch hatte er seine Auffassungen zunächst gegen die immer stärker werdende Kritik von seiten kirchennaher, vor allem lutherischer Kollegen zu vertreten und klarzustellen. So auch gegenüber der Troeltsch-Monographie von Theodor Kaftan, die in eigener Person zu besprechen Troeltsch sich nicht scheut. Daß der Autor ihn "nicht für einen Theologen und kaum wohl für einen Christen erkennen" wolle und natürlich für "kirchlich impotent" halte, kränkt ihn nicht, weil Kaftan überhaupt nur in der Alternative von "biblisch-lutherischem Erlösungs- und Kirchenwunder" oder "völliger Aufgabe des Christentums" zu denken imstande sei. Wie Kaftan nicht begreife, daß eine "freie wissenschaftliche Theologie" im Zuge der historischen Forschung genötigt werde, sich von den kirchlichen Dogmen zu lösen, so wollten andere (wie Friedrich Traub) ihrer "offenbarungsgläubigen Theologie" ein "völlig sicheres, sturmfreies Feld" schaffen, indem sie sie gegen alle Herausforderungen philosophischer Reflexion immunisierten. In Wahrheit, meint Troeltsch, ließen sich die "eigentlich wissenschaftlichen Elemente der Systematischen Theologie" überhaupt nur noch in der Form der Religionsphilosophie sichern.
"Apologetisches Flickwerk" dieser Art unter protestantischen Theologen war Troeltsch offenbar noch mehr zuwider als die ebenfalls apologetischen, der Unterstellung geistiger Inferiorität entgegenarbeitenden Bemühungen katholischer Theologen um ein intellektuelles aggiornamento, denen Troeltsch ungewöhnlich viel Beachtung schenkt. So lobt er (in der Besprechung von Albert Ehrhard, Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit) die "kräftigen und ernsten Reformbestrebungen" im zeitgenössischen Katholizismus, obwohl doch gerade die meisten Reformkatholiken den Protestantismus mit besonderer Geringschätzung und Feindseligkeit behandelten.
Desungeachtet hält Troeltsch eine Versöhnung des Katholizismus mit seiner auf absolute Wahrheit setzenden Lehre und seiner "einheitlichen und universalen Kirchenanstalt" mit der modernen Kultur für ausgeschlossen, eine Verbindung des "supranaturalen Dogmas mit der modernen Philosophie sowie der katholischen Autoritätsmoral mit der verinnerlichten modernen Ethik" für unmöglich. Nur in der mittelalterlichen "Einheitskultur" habe der Katholizismus eine ihm adäquate (und von Troeltsch in ihrer Größe immer wieder hervorgehobene) Form der Verweltlichung gefunden, und nur "allerhand Selbstbetrug" erlaube es, ihn für die Zwecke der nunmehr geforderten neuen, unter ganz anderen intellektuellen und gesellschaftlichen Bedingungen stattfindenden Kultursynthese zuzurichten. Über diese innertheologischen Kontroversen und Abgrenzungen vernachlässigt Troeltsch nicht die Auseinandersetzung mit den "radikalen modernen Christentumsfeinden", mit denen sich "die Positiven" (das sind die Kirchentreuen und Offenbarungsgläubigen unter den protestantischen Theologen) eher abfänden als mit seinesgleichen. So attackiert er, in einer Rezension eines ebenso argumentierenden Buches des Philosophen Richard Hönigswald, den "verworrenen Materialismus" Ernst Haeckels, der "die ersten Elemente einer erkenntnis-kritischen Selbstbesinnung über Wesen und Tragweite naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht begriffen" habe und deshalb "von den materiellen Stoffen und ihren Bewegungen" alles ableiten zu können glaube, auch "den Geist, die Wahrnehmung und das Denken". Mit dem "Halbmaterialismus" von Julius Baumann und dessen Versuch, mit den Erkenntnismitteln der Naturwissenschaften im allgemeinen, der Neurophysiologie im besonderen zu einer ganz residualen "Vernunftreligion" zu gelangen, geht Troeltsch ebenfalls hart ins Gericht ("unergründlich trivial und inhaltslos"). Eine Monographie von Samuel Eck über David Friedrich Strauß gibt ihm Anlaß, dessen Leben Jesu als "die erste entschlossene und unverclausulirte Anwendung der historischen Methode auf die Geschichte der Entstehung des Christentums" zu loben, aber auch zu beklagen, daß Strauß wegen eines "Mangels an religiösem Verständnis" ebenfalls beim "monistischen Materialismus" ende.
Die wissenschaftliche Erhellung des religiösen Verhältnisses kann sich nach Troeltsch selbst dann nicht auf einen theologischen Problemhorizont beschränken, wenn dieser sich im Sinne einer universalistischen, also auf keine bestimmte Religion festgelegten Religionsphilosophie entgrenzt hat. So nutzt er auch seine Rezensionen, um sich mit erfahrungswissenschaftlichen, vor allem psychologischen Analysen des religiösen Bewußtseins auseinanderzusetzen. Insbesondere bei William James erscheint ihm ein Brückenschlag von empirisch-psychologischen zu religionsphilosophischen und damit theologischen Einsichten offenbar möglich, und zwar auch deshalb, weil James selbst sich auf erkenntnistheoretische Fragen einläßt.
Friedrich Wilhelm Graf hat recht, wenn er in seiner instruktiven Einleitung bemerkt, Troeltsch entwerfe in diesen Rezensionen "gleichsam eine Topographie der theologischen Positionslandschaft seiner Zeit". Und treffend ist auch Grafs Formulierung, Troeltschs eigentliches Interesse bestehe im Aufweis und in der Stärkung der "Modernitätskompatibilität des Protestantismus". Ebendieses Interesse treibt Troeltsch weit über die Grenzen der innertheologischen Kontroversen hinaus und in die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Versuchen, der Religion und ihrer Kulturbedeutung mit Hilfe der modernen Wissenschaften beizukommen. Je länger je mehr festigt sich dabei seine Auffassung, daß nicht die Bindung an eine vorgegebene "ewige göttliche Wahrheit in festen Formen" dogmatischer und institutioneller Art, sondern nur die ganz persönliche religiöse Überzeugung, die aus einem "inneren Anschluß" an die "Person Jesu" erwachse, unter den gegebenen Bedingungen Bestand und Zukunft habe. Ihre unverzichtbare intellektuelle Außenstützung aber finde eine solche religiöse Überzeugung in ihrer bewußten Verortung "mitten im Zeitgeschichtlichen" einerseits, in der strengsten philosophischen Reflexion andererseits.
In dieser Konsequenz erweist sich die Gegenwärtigkeit Troeltschs. Die gedanklichen Schwierigkeiten einer derart "relativen", tatsächlich bis an die Grenze der Selbstaufgabe geführten Christlichkeit, der das Absolute nur mehr in "Annäherungswerten" gegeben ist, waren ihm selbst ebenso bewußt wie die Probleme der ihr gemäßen Formen der Verständigung und Gemeinschaftsbildung. Um so erstaunlicher allerdings, daß Troeltsch solcher Christlichkeit nicht nur die Aufgabe zuweist, die "religiöse Grundsubstanz unseres europäischen Lebens" zu bewahren und lebendig fortzubilden, sondern auch als "Zentrum" einer neuen, umfassenden Kultursynthese zu fungieren.
In dieser Zielsetzung liegt die Erfüllung, aber auch die Aporie seiner Suche nach der Modernitätsverträglichkeit christlicher Religiosität. Man kann dieser Aporie entgehen, indem man eine grundsätzliche Inkompatibilität der christlichen Religion mit der modernen Kultur behauptet, um genau daraus auf ihre kulturelle Unverzichtbarkeit zu schließen. Den meisten der von Troeltsch gestellten Fragen und auch vielen seiner Antworten entkommt man auf diese Weise aber nicht. Seine Arbeiten, nicht zuletzt seine Besprechungen und Kritiken, empfehlen sich auch heute noch als intellektuelles Purgatorium - für Christen und christliche Theologen, nicht nur im Umkreis des Bildungs- oder Kulturprotestantismus, aber auch für die Gebildeten unter ihren Verächtern.
JOHANNES WEISS
Ernst Troeltsch: "Rezensionen und Kritiken (1901-1914)". Hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Gabriele von Bassermann-Jordan. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf, Volker Drehsen, Gangolf Hübinger, Trutz Rendtorff. Band 4. Walter de Gruyter Verlag, Berlin 2004. 948 S., geb., 228,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "intellektuelles Purgatorium" für Christen und christliche Theologen sowie die "Gebildeten unter ihren Verächtern" würdigt Rezensent Johannes Weiss die Arbeiten des evangelischen Theologen, Philosophen und Historikers Ernst Troeltsch (1865-1923), den er einen der "bedeutendsten unter den erstaunlich vielen bedeutenden Gelehrten" seiner Zeit nennt. "Bestens ediert und kommentiert" findet er vorliegenden vierten Band der auf 21 Bände angelegten Kritischen Gesamtausgabe, der 122 Rezensionen und Kritiken des Theologen versammelt. Die Rezensionen zeigten Troeltsch im "unermüdlichen intellektuellen Kampf auf allen erwähnten Feldern und an vielen Fronten zugleich", berichtet Weiss. Ausführlich schildert er die inner- und außertheologischen Auseinandersetzungen, die Troeltsch mit seinen Gegnern in den Rezensionen führte. Friedrich Wilhelm Graf, der in seiner "instruktiven Einleitung" bemerkt, Troeltsch entwerfe in diesen Rezensionen "gleichsam eine Topographie der theologischen Positionslandschaft seiner Zeit", kann Weiss nur beipflichten. Auch Grafs Einschätzung, Troeltschs eigentliches Interesse bestehe im Aufweis und in der Stärkung der "Modernitätskompatibilität des Protestantismus" findet seine Zustimmung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Erst der jetzt vorliegende KGA-Band vermittelt einen Eindruck davon, in welchem Ausmaß Troeltsch sich der Rezensentenfunktion gewidmet und welche Bedeutung er ihr für sein wissenschaftliches und wissenschaftspolitisches Wirken zugemessen hat."
Matthias Wolfes in: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1282
"Kritische Gesamtausgabe in vorzüglicher Ausstattung. Der vorliegende Band 4 [...] macht den Leser mit einem wichtigen Aspekt des intellektuellen Schaffens des Gelehrten bekannt."
Klaus Große Kracht in: Historische Zeitschrift 281/2005
Matthias Wolfes in: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1282
"Kritische Gesamtausgabe in vorzüglicher Ausstattung. Der vorliegende Band 4 [...] macht den Leser mit einem wichtigen Aspekt des intellektuellen Schaffens des Gelehrten bekannt."
Klaus Große Kracht in: Historische Zeitschrift 281/2005