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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2013

Kann der Wagner Hitlers auch der Wagner Thomas Manns sein?

Dem Drachen in den Rachen greifen: Drei Koryphäen schlagen längst geschlagene Deutungs-Schlachten.

Von Christian Wildhagen

Je mehr das Wagner-Jahr an Fahrt gewinnt, desto stärker könnte man sich in der ketzerischen Überzeugung bestätigt sehen, dass zu diesem Komponisten einfach alles gesagt sei. Auf Seiten der Werkrezeption sind jedenfalls kaum mehr umwälzende Neuerungen zu erwarten. Längst hat sich der Opernbetrieb "seinen" Wagner passrecht gemacht. Der Kanon der zehn großen Musikdramen vom "Fliegenden Holländer" bis zum "Parsifal" ist nahezu weltweit etabliert, er wird sich auf absehbare Zeit auch kaum um die angeblich unterschätzten Frühwerke erweitern lassen. Und jüngste Versuche mit "Rienzi" und den "Feen" haben die Repertoiretauglichkeit dieser Stücke, entgegen gutgemeinten Absichten, eher widerlegt als bekräftigt.

Auch die biographische Wagner-Forschung hat ihren Fokus mittlerweile auf eine Detailgenauigkeit verengt, wie man sie von anderen umfassend erforschten Zentralgestalten der Geistesgeschichte, von Goethe, Mozart oder Beethoven, kennt, die aber einem vornehmlich am Werk interessierten Publikum jenseits von Wissenschaft und eingefleischten Verehrerzirkeln leicht als Erbsenzählerei erscheinen könnte. Ein Gedenk- und Jubiläumsjahr führt, trotz aller gegenteiligen Suggestionen der mittlerweile global rotierenden Wagner-Verwertungsmaschinerie, eben nicht automatisch zu grundlegend neuen Erkenntnissen, geschweige denn zu einem frischen, von allen Modeströmungen losgelösten Komponistenporträt.

Neben Detailfragen der biographischen und philologischen Forschung sowie übergreifenden essayistischen Ansätzen, etwa nach dem Modell "Wagner und das Geld", "Wagner und die Frauen", "Wagner und der Humor", bleibt furchtlosen Wagner-Gratulanten somit nur die Einordnung und Neubewertung der gesicherten Fakten - und die Interpretation der Werke selbst. Gleich drei monographische Veröffentlichungen zum Jubiläumsjahr, verfasst von Wagner-Koryphäen, beanspruchen genau dies: alles Wissenswerte zu diesem Künstler so aufzubereiten, dass daraus ein Wagner-Bild für unsere Zeit entsteht.

Eher traditionell geht dabei Dieter Borchmeyer vor, der mit etlichen seiner früheren Abhandlungen der Wagner-Interpretation Impulse gegeben hat. Trotz des seltsam enzyklopädisch anmutenden Untertitels "Werk - Leben - Zeit", der wohl, kaum zufällig, auf Martin Gregor-Dellins längst klassische Wagner-Biographie von 1980 ("Sein Leben, sein Werk, sein Jahrhundert") anspielt, ist der Anspruch hier deutlich bescheidener. Es geht Borchmeyer, aufbauend auf älteren Schriften, in erster Linie um eine "Biographie des Werks", in welche die Biographie des Urhebers eher als notwendige Voraussetzung denn als prägender Faktor hineinspielt.

Der gerade bei Wagner naheliegenden Engführung von Leben und Werk, von Gregor-Dellin virtuos vorgeführt, erteilt Borchmeyer gleich zu Beginn eine dogmatisch verbrämte Absage - um sich im Folgenden jedoch selbst nicht konsequent daran zu halten. Die provokante These, wonach die "künstlerische Produktion" bei Wagner eben nicht aus dessen "Leben und Lehre" ableitbar sei, bricht schnell in sich zusammen. Gerade die viel interessantere Frage Borchmeyers, warum es einen "Wagner Hitlers" und einen "Wagner Thomas Manns" geben konnte - so, als sei der Gesamtkunstwerker von Bayreuth eine Art deutscher Jekyll & Hyde gewesen -, lässt sich nämlich nur beantworten, wenn man Wagners charismatische Persönlichkeit, sein Wirken und Nachwirken ebenso in die Betrachtung einbezieht wie seinen Einfluss als Kunsttheoretiker und politischer Ideologe.

Borchmeyer, der Wagner-Kenner, weiß selbstredend um dieses Grundproblem jedes Biographen. Dennoch gibt es in seinem Buch eine Tendenz, das bewunderte Opernschaffen abzulösen von der durchaus problematischen Biographie und der noch fragwürdigeren Rezeptionsgeschichte, um es auf diese Weise gleichsam zu salvieren - als stünde die überragende musikhistorische Bedeutung der Wagnerschen Bühnenwerke überhaupt noch ernsthaft in Frage.

Hier werden also einige der alten Schlachten um ihrer selbst willen noch einmal geschlagen. Noch in den sonst sehr luziden Betrachtungen zu Wagners Pamphlet "Über das Judenthum in der Musik" finden sich Spuren dieser wohlwollenden Tendenz, wenn Borchmeyer den Antisemitismus Wagners gegen den noch ekelhafteren "Racismus" Arthur de Gobineaus abwägt - was angesichts der Wagner-Vereinnahmung im Dritten Reich, die sich um solche Differenzierungen wenig scherte, wie eine Spiegelfechterei erscheint. Stattdessen hätte man sich mehr so geistreiche Überlegungen gewünscht wie die, ob die von Nietzsche beargwöhnte "Alterschristlichkeit" des "Parsifal" und die immer exzessiver praktizierte Selbstfeier als "Meister" für Wagner womöglich eine Maske gewesen sein könnte, um ein zunehmend reaktionäres Umfeld mit seinem Selbstverständnis als Zukunftsmusiker auszusöhnen und die Modernität seiner Werke zu camouflieren.

Udo Bermbach, Autor der zweiten großangelegten Abhandlung dieses Wagner-Frühjahrs, greift dem Drachen sehr viel mutiger in den Rachen: Von vornherein stellt er die Person Wagners ins Zentrum, sein Wirken, aber auch die Wirkung seines Denkens und Schaffens auf die Mit- und Nachwelt. Bermbach entgeht dadurch weitgehend der Idolatrie, ohne das Faszinosum leugnen zu müssen, das Leben und Werk dieses Künstlers zweifelsohne ausstrahlen. So spürt er dem "Mythos Wagner" nach - dies sein nicht eben überraschendes, aber erstaunlich konsequent durchgeführtes Leitthema. Einerseits bezieht sich dies natürlich auf die Rolle, die mythologische Motive im Schaffen und Denken Wagners spielen; andererseits und mehr noch auf die Frage, wie Wagner selbst zu einem keineswegs immer nur positiv wirkenden Mythos werden konnte. "Wagner war", schreibt Bermbach, "nie nur Musikdramatiker, nie nur Dichter - er war ein Künstler mit weit ausgreifenden Sendungsideen, zutiefst beseelt von der Überzeugung, seine Kunst könne die Wunden einer entfremdeten Moderne heilen und in eine bessere Zukunft führen. Dass er seine Überzeugungen auch lebte, machte ihn lange vor seinem Tod zu einem Mythos."

Wie "der Meister" durch sein illustres Dahinscheiden in Venedig vollends unsterblich wurde, schildert Bermbach am Anfang seiner Betrachtungen. Er zäumt sein Mythenross folglich von hinten auf - ein origineller Schachzug auch insofern, als es dem anschließend kenntnisreich entwickelten Wagner-Porträt die Vorhersehbarkeit herkömmlicher Lebensbeschreibungen nimmt. Tatsächlich etablieren die nicht erst in der Bayreuther Zeit einsetzenden Huldigungen an den hehrsten Helden der Tonkunst eine Tradition der Verehrung, die sich nach 1933 nur allzu leicht braun einfärben ließ. Bermbach führt die Neigung der Wagner-Anhänger zur kritiklosen Vergötterung ihres Idols überzeugend auf Wesenszüge Wagners zurück und zeigt, welche biographischen Ursprünge dessen früh ausgeprägtes Sendungsbewusstsein haben könnte.

Das Buch verfolgt die Entstehung des Wagner-Mythos freilich nicht nur retrospektiv, es analysiert, zum Beispiel anhand der "Bayreuther Blätter", auch die fatale Weiterentwicklung zum Wagner-Kult - offen antidemokratisch, antijüdisch und nationalchauvinistisch ausgerichtet unter dem Regime Cosima Wagners und ihres Schwiegersohnes, Hitlers Stichwortegebers Houston Stewart Chamberlain. Diesem dunklen Kapitel der Rezeption, das auch die Wahrnehmung von Wagners Werk bis heute überschattet, stellt Bermbach die radikale Entrümpelung des Mythos im Neu-Bayreuth der fünfziger Jahre entgegen. Und er fragt schließlich nach der Gegenwärtigkeit des Mythos, den er immer noch am stärksten im Festspielhaus selbst am Wirken wähnt, wenn auch demokratisiert durch multimediale Verbreitung und teils bis zur Unkenntlichkeit banalisiert durch den Event-Charakter des globalen Festival-Jetsets.

Wer sich nach der Lektüre dieser beiden Bücher fragt, ob es auch noch einen unbefangenen Zugang zu Wagner geben kann, wird überraschend fündig in dem jüngsten Buch von Barry Millington. Der Herausgeber des britischen "Wagner Journal" hat eine klassische Bildbiographie verfasst, mit Dutzenden von historischen Darstellungen, Lithografien, Bühnenbildzeichnungen und aktuellen Inszenierungsfotos - vor allem aber mit einem wundersam entspannten Text, wie ihn wohl nur der angelsächsische Blick "von außen" auf diesen deutschesten aller Komponisten ermöglicht.

Wie Bermbach und Borchmeyer ist Millington vertraut mit allen Höhen und Tiefen der Wagner-Rezeption; doch während bei seinen Kombattanten das Paradox entsteht, dass über allem Wägen und Problematisieren das Bild des Komponisten selbst unscharf zu werden droht, sind die Schattenseiten bei Millington einfach Teil eines umfassenden Persönlichkeitsbildes, das Wagner als das zeigt, was er war: ein überragender Künstler inmitten eines bewegten Jahrhunderts, das viele Weichen gestellt hat für unsere eigene Zeit.

Dieter Borchmeyer: "Richard Wagner". Werk - Leben - Zeit.

Philipp Reclam Verlag, Stuttgart 2013. 404 S., Abb., geb., 22,95 [Euro].

Udo Bermbach: "Mythos Wagner".

Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013. 336 S., geb., 19,95 [Euro].

Barry Millington: "Der Magier von Bayreuth". Richard Wagner - sein Werk und seine Welt.

Aus dem Englischen von Michael Haupt. Primus Verlag, Darmstadt, 2012. 320 S., geb., 29,90 [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2013

Entwicklungsroman
Udo Bermbach ist hingerissen. Den „Mythos Wagner“ (Rowohlt Berlin, 336 Seiten, 19,95 Euro), den er zu untersuchen gedenkt, konstituiert er selbst mit. Vom ersten Satz an: „Richard Wagner war eine Ausnahmeerscheinung.“ Mehr als die Hälfte dessen, was darauf folgt, ist die Legitimierung dieser Aussage, plastisch erzählt als Ideenentwicklungsroman entlang der Lebensstationen Wagners, voller Details – die Rechercheleistung ist beeindruckend. Zwar ist Bermbach zu klug für eine simple Hagiografie, aber doch erscheint Wagner hier zu eindimensional leuchtend als (politischer) Revolutionär, Visionär, ehrlich Liebender und großer Denker. Die antisemitischen Schriften und Äußerungen werden kurz erwähnt, aber nicht behandelt. Wichtiger ist Bermbach, wie nach Wagners Tod durch Cosima, Chamberlain, Wolzogen und schließlich Winifred das Werk und der „Meister“ völkisch vereinnahmt und Bayreuth, ja eben, mythisiert wurden. Völlig gegen Wagners Intention, wie Bermbach mit Verve zu beweisen sucht.
EGBERT THOLL
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