Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine breit gefächerte Bewegung,die eine Alternative zur industriellen Gesellschaft sein wollte. Ziel dieserLebensreformbewegung war es, die Lebensweise der Menschen grundlegendzu ändern: Vegetarismus, Verzicht auf Alkohol, Leben in freier Natur,alternative Medizin, Sexualreform und eine Kunst, die das Leben der Menschenmitprägen sollte, waren zentrale Forderungen. Viele der Protagonistender Lebensreform waren Künstler und sowohl von Wagners Musikdramenals auch seinem Konzept des Gesamtkunstwerks und seinen Spätschriftenbeeinflusst, teilweise waren sie bekennende Wagnerianer und Bayreuthianer.Der Verbindung zwischen Wagner, dem Bayreuth nach Wagners Tod unddieser wirkungsmächtigen Lebensreformbewegung wird in diesem Bucherstmals nachgegangen. An ausgewählten Beispielen wird gezeigt, wieeinflussreich Bayreuths Weltanschauung auf die Reformbewegung um dieJahrhundertwende und bis zum ersten Weltkrieg, gelegentlich darüberhinaus, gewirkt hat und wie stark dieses Zentrum der Wagnerpflege überden unmittelbaren Bereich hinaus Einfluss auf kulturelle und sozialeLebensentwürfe der deutschen Gesellschaft nahm.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.03.2018Regenerieren mit Kunst
Udo Bermbach über Richard Wagner und die Lebensreform
Der Erneuerer des Dramas, der Reformator der Oper, der Philosoph, der Historiker, der Ästhetiker, der Kritiker, der Prophet der Einheit des Lebens, der Mystagoge, der luxusbedürftige Revolutionär, der Kostümfex - kann es für einen Politologen, zu dessen zentralen Themen die Ideengeschichte gehört, einen besseren Gegenstand geben als Richard Wagner? Vor fast fünfundzwanzig Jahren brachte Udo Bermbach, der heute seinen achtzigsten Geburtstag begeht, unter dem Titel "Der Wahn des Gesamtkunstwerks" eine Studie über Wagners "politisch-ästhetische Utopie" heraus, zehn Jahre später eine erweiterte Ausgabe, in der Folge eine brillante Studie über die "Rezeption und Verfälschungen" Wagners in Deutschland, ein Resümee unter dem Titel "Mythos Wagner", endlich eine Biographie des Wagner-Biographen Houston Stewart Chamberlain.
Nun folgt eine Arbeit unter dem Titel "Richard Wagners Weg zur Lebensreform". Sie geht aus von Betrachtungen, die Wagner in der Zeit der Komposition des "Parsifal" geschrieben hat: "Was ist deutsch?", "Wollen wir hoffen?", "Was nützt diese Erkenntnis?", "Erkenne dich selbst", "Heldenthum und Christenthum". Der Selbsteinschätzung Wagners folgend, der stets die "Einheit seines Denkens" geltend machte, schließt Bermbach diese Regenerationsschriften nicht nur mit den politisch-ästhetischen Zürcher Traktaten ("Die Kunst und die Revolution" "Oper und Drama") kurz; er versteht die späten Schriften auch als Impulse für eine "machtvolle und auf immer neue Lebensbereiche übergreifende" Bewegung: die der sogenannten Lebensreform. Zu den Gemeinsamkeiten gehören nicht unmittelbar werkbezogene Plädoyers für den Vegetarismus wie gegen den Alkoholkonsum und die Vivisektion, endlich gegen die Industrialisierung und die moderne Zivilisation.
Zwar räumt Bermbach eingangs ein, dass Wagners Thesen "keinen konstituierenden Einfluss" auf die Reformbewegung hatten, bemüht sich aber gleichwohl, den "tiefen inneren Zusammenhang" aufzuzeigen. Er sieht die innere Verbindung darin, dass die von Wagner propagierte "Einheit alles Lebenden" das "utopische Ziel seiner Weltanschauung" sei, "in der eine sakral überhöhte Kunstvorstellung, wie sie im Konzept des Gesamtkunstwerks zutage tritt, mit einer neuen Form genossenschaftlich organisierter Gesellschaft zusammengeführt wird".
Im zweiten Abschnitt legt Bermbach dar, wie Houston Stewart Chamberlain, den er vor drei Jahren zumindest partiell zu entnazifizieren bemüht war, die Spätschriften Wagners interpretierte: als Weiterführung der Zürcher Schriften, als Vollendung der Revolution durch die Regeneration. Auf eine Formel gebracht: die Genesung des "entarteten Menschengeschlechts" durch das Gesamtkunst.
Der dritte Teil ist der "Resonanz der Spätschriften und der Lebensreform in den Bayreuther Blättern" gewidmet. Es habe nur wenige Bezüge zwischen der von Hans von Wolzogen herausgegebenen Vierteljahresschrift und der Lebensreformbewegung gegeben, wohl aber "eine in der Sache tiefgehende Übereinstimmung": Aversion gegen den modernen Industrialismus, Sorge um die Entfremdung von der Natur und das Verblassen der Religion.
Zuletzt betreten "Reformpropheten" in Gestalt von "Wanderheiligen, Kohlrabi-Aposteln oder Rudiment-Wagnerianern die Szene, die ihre Zuflucht unterm Riesendach "Gesamtkunstwerk" suchten: der Maler Karl Werner Diefenbach, der von Hermann Hesse novellistisch als "Der Weltverbesserer" dargestellte Gusto Gräser oder der Maler Hugo Höppener, genannt Fidus. Immer geht es hier um mit detektivischer Energie - manchmal auch Phantasie - gesuchte "Bezüge zu Wagner". Und da Wagner als triebhaft über sich selbst und die Gesellschaft reflektierender Kulturphilosoph über alles mitgeredet hat, hat er überall Spuren hinterlassen. Aber man muss schon wie Bermbach ein Wagnerianer pur sang sein, um bereits das Betreten des in der Lüneburger Heide von Johann Bossard gebauten Gesamtkunstwerks als eine Wagner-Weihe zu verklären: "Vor allem auch der für den eintretenden Betrachter sichtbar und fühlbar werdende Anspruch, mit einer Kunstreligion konfrontiert zu sein, die ihn ikonographisch in ihren Bann ziehen will, schafft assoziativ die Verbindung zu dem späten Wagner und dessen Idee einer Kunstreligion."
Bermbachs Buch ist reich an Wiederholungen und an Rückverweisen, und es ist überreich an Fußnoten, die darauf verweisen, dass diese Frage oder jenes Problem schon von einem Autor ausführlicher beantwortet oder behandelt worden ist, dem von vielen Seiten die Oberhoheit über die politische Wagner-Exegese zugesprochen wird: Udo Bermbach. Zu bieten hat es Parerga und Paralipomena aus Bermbachs übervollen Arsenal von Wagneriana und Bayreuthiana.
JÜRGEN KESTING
Udo Bermbach: "Richard Wagners Weg zur Lebensreform".
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2018. 256 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Udo Bermbach über Richard Wagner und die Lebensreform
Der Erneuerer des Dramas, der Reformator der Oper, der Philosoph, der Historiker, der Ästhetiker, der Kritiker, der Prophet der Einheit des Lebens, der Mystagoge, der luxusbedürftige Revolutionär, der Kostümfex - kann es für einen Politologen, zu dessen zentralen Themen die Ideengeschichte gehört, einen besseren Gegenstand geben als Richard Wagner? Vor fast fünfundzwanzig Jahren brachte Udo Bermbach, der heute seinen achtzigsten Geburtstag begeht, unter dem Titel "Der Wahn des Gesamtkunstwerks" eine Studie über Wagners "politisch-ästhetische Utopie" heraus, zehn Jahre später eine erweiterte Ausgabe, in der Folge eine brillante Studie über die "Rezeption und Verfälschungen" Wagners in Deutschland, ein Resümee unter dem Titel "Mythos Wagner", endlich eine Biographie des Wagner-Biographen Houston Stewart Chamberlain.
Nun folgt eine Arbeit unter dem Titel "Richard Wagners Weg zur Lebensreform". Sie geht aus von Betrachtungen, die Wagner in der Zeit der Komposition des "Parsifal" geschrieben hat: "Was ist deutsch?", "Wollen wir hoffen?", "Was nützt diese Erkenntnis?", "Erkenne dich selbst", "Heldenthum und Christenthum". Der Selbsteinschätzung Wagners folgend, der stets die "Einheit seines Denkens" geltend machte, schließt Bermbach diese Regenerationsschriften nicht nur mit den politisch-ästhetischen Zürcher Traktaten ("Die Kunst und die Revolution" "Oper und Drama") kurz; er versteht die späten Schriften auch als Impulse für eine "machtvolle und auf immer neue Lebensbereiche übergreifende" Bewegung: die der sogenannten Lebensreform. Zu den Gemeinsamkeiten gehören nicht unmittelbar werkbezogene Plädoyers für den Vegetarismus wie gegen den Alkoholkonsum und die Vivisektion, endlich gegen die Industrialisierung und die moderne Zivilisation.
Zwar räumt Bermbach eingangs ein, dass Wagners Thesen "keinen konstituierenden Einfluss" auf die Reformbewegung hatten, bemüht sich aber gleichwohl, den "tiefen inneren Zusammenhang" aufzuzeigen. Er sieht die innere Verbindung darin, dass die von Wagner propagierte "Einheit alles Lebenden" das "utopische Ziel seiner Weltanschauung" sei, "in der eine sakral überhöhte Kunstvorstellung, wie sie im Konzept des Gesamtkunstwerks zutage tritt, mit einer neuen Form genossenschaftlich organisierter Gesellschaft zusammengeführt wird".
Im zweiten Abschnitt legt Bermbach dar, wie Houston Stewart Chamberlain, den er vor drei Jahren zumindest partiell zu entnazifizieren bemüht war, die Spätschriften Wagners interpretierte: als Weiterführung der Zürcher Schriften, als Vollendung der Revolution durch die Regeneration. Auf eine Formel gebracht: die Genesung des "entarteten Menschengeschlechts" durch das Gesamtkunst.
Der dritte Teil ist der "Resonanz der Spätschriften und der Lebensreform in den Bayreuther Blättern" gewidmet. Es habe nur wenige Bezüge zwischen der von Hans von Wolzogen herausgegebenen Vierteljahresschrift und der Lebensreformbewegung gegeben, wohl aber "eine in der Sache tiefgehende Übereinstimmung": Aversion gegen den modernen Industrialismus, Sorge um die Entfremdung von der Natur und das Verblassen der Religion.
Zuletzt betreten "Reformpropheten" in Gestalt von "Wanderheiligen, Kohlrabi-Aposteln oder Rudiment-Wagnerianern die Szene, die ihre Zuflucht unterm Riesendach "Gesamtkunstwerk" suchten: der Maler Karl Werner Diefenbach, der von Hermann Hesse novellistisch als "Der Weltverbesserer" dargestellte Gusto Gräser oder der Maler Hugo Höppener, genannt Fidus. Immer geht es hier um mit detektivischer Energie - manchmal auch Phantasie - gesuchte "Bezüge zu Wagner". Und da Wagner als triebhaft über sich selbst und die Gesellschaft reflektierender Kulturphilosoph über alles mitgeredet hat, hat er überall Spuren hinterlassen. Aber man muss schon wie Bermbach ein Wagnerianer pur sang sein, um bereits das Betreten des in der Lüneburger Heide von Johann Bossard gebauten Gesamtkunstwerks als eine Wagner-Weihe zu verklären: "Vor allem auch der für den eintretenden Betrachter sichtbar und fühlbar werdende Anspruch, mit einer Kunstreligion konfrontiert zu sein, die ihn ikonographisch in ihren Bann ziehen will, schafft assoziativ die Verbindung zu dem späten Wagner und dessen Idee einer Kunstreligion."
Bermbachs Buch ist reich an Wiederholungen und an Rückverweisen, und es ist überreich an Fußnoten, die darauf verweisen, dass diese Frage oder jenes Problem schon von einem Autor ausführlicher beantwortet oder behandelt worden ist, dem von vielen Seiten die Oberhoheit über die politische Wagner-Exegese zugesprochen wird: Udo Bermbach. Zu bieten hat es Parerga und Paralipomena aus Bermbachs übervollen Arsenal von Wagneriana und Bayreuthiana.
JÜRGEN KESTING
Udo Bermbach: "Richard Wagners Weg zur Lebensreform".
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2018. 256 S., geb., 28,- [Euro].
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