Ein neuer, überraschender Blick auf eine der schillerndsten Dichterfiguren der frühen Moderne Rainer Maria Rilke regt zur existenziellen Selbstbefragung an und fordert Entschlüsse: 'Du musst dein Leben ändern.' Seine Dichtung, das stellt Gunnar Decker auf faszinierende Weise heraus, war immer auch eine Reaktion auf die Krisen der Gegenwart, der Versuch, sich eine Gegenwelt zu erschreiben, die für ihn lebenswerter war als jene, die er in Prag, München, Worpswede, Moskau, Berlin, Rom, Duino, Venedig oder Paris vorfand. So scheinen Rilkes ruheloses Leben und sein metaphysische Fragen umkreisendes Werk auf einzigartige Weise verwoben. In seiner wunderbar erzählten Biographie widmet sich Decker auch erstmals Rilkes schwierigem Verhältnis zu seiner Mutter Phia, dem Nicht-Verhältnis zu seiner lebenslangen Ehefrau Clara und zur Tochter Ruth. Er beschreibt seinen Kampf gegen den körperlichen Verfall, der einen Schlüssel zum Verständnis des Werkes bietet, und deutet seinen Entschluss nach dem Ersten Weltkrieg, kein deutscher Dichter mehr sein zu wollen.
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Rezensent Richard Kämmerlings widmet Gunnar Deckers neuer Rilke Biografie eine umfassende Rezension, die Lobrede ist, Zusammenfassung und ihrerseits selbst ein kleines Porträt - das Porträt, oder besser mit Kämmerlings' Worten gesagt: das "Doppelbild" vom tatsächlich genialischen Künstler auf der einen, und von hohler, narzistischer Genie-Inszenierung auf der anderen Seite. Um diese Ambivalenz geht es Gunnar Decker immer wieder, sowie um die Frage, die sich daraus ergibt: Wie viel kann ein wirklich großartiges Werk rechtfertigen? Dass Rilke ein unwiderstehlicher wie unerträglicher Egozentriker gewesen sein muss, zeigt Decker in zahlreichen Szenen, die er mit viel Feingefühl für die "kleinen Dreistigkeiten" und Allüren des Dichters beschreibt, und nicht ohne eine angenehme Spur Sarkasmus. Deckers humorvolle, kritische Fragen und Kommentare machen seine gründlich recherchierte, informative Biografie zur unterhaltsamen Lektüre, so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.11.2023Einsamer
Verführer
Rainer Maria Rilkes Leben war voller
Widersprüche. Gunnar Decker schildert
es mit kritischer Empathie.
VON HILMAR KLUTE
Rainer Maria Rilke ist so etwas wie das poetische Gewissen der bildungsaffinen Deutschen. Beinahe jeder, der ungefähr weiß, was ein Gedicht ist, kann ein paar Verse von Rilke hersagen; wer sich etwas eingehender mit dem Dichter und seinem Werk beschäftigt hat, vermag aus den „Duineser Elegien“ zu zitieren, zumindest den berühmten Anfang „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“, und die Zeile aus „Herbsttag“, „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“ ist inzwischen in den alltäglichen Sprachgebrauch, nicht nur von verzweifelten Wohnungssuchenden, eingegangen.
Rilkes Poesie schwebt einerseits engelhaft über den Profanitäten des menschlichen Lebens und verweist zugleich in berührender Klarheit auf dessen Bedingungen. Die Verstörungen der Moderne, der schockierende Einbruch der Technik in die Lebenswelt und der Behauptungskampf des Künstlers in einer zunehmend entzauberten Gegenwart bestimmen die Dringlichkeit des Erzählens in Rilkes einzigem Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, der in seiner poetischen Radikalität mit Prousts Recherche und Joyces Ulysses in Verwandtschaft tritt.
Wer dieser kühne, zu den Gipfeln des dichterischen Sagens strebende, dagegen an den theoretischen und sozialkritischen Entwürfen seiner Zeit eher wenig interessierte Schriftsteller Rainer Maria Rilke war, haben bereits einige Autoren zu deuten versucht. Nun, zwei Jahre vor Rilkes 150. Geburtstag, hat Gunnar Decker eine stattliche Biografie geschrieben, „Der ferne Magier“ heißt sie im Untertitel, der programmatisch für Deckers Rilke-Porträt ist, das den Dichter als distanzgebietenden Verführer von Lesern, Frauen und Mäzenen beschreibt. Decker ist als Biograf von Georg Heym, Franz Fühmann und Ernst Barlach und Hermann Hesse hervorgetreten; mit diesem Buch setzt er seine Reihe von Nahaufnahmen bedeutender Dichter der literarischen Moderne fort.
Rilke wird 1875 in Prag geboren, der Vater ist ein pragmatischer Mensch, Inspektor bei der Eisenbahn-Gesellschaft, aus Überzeugung amusisch und damit nur schwer mit dem Gemüt der Mutter Phia in Einklang zu bringen. Die Eltern trennen sich, als der Sohn René, so Rilkes Taufname, neun Jahre alt ist. René wird gewissermaßen anstelle der früh verstorbenen Schwester erzogen. Die Mutter lässt ihn Mädchenkleider tragen, ein Leben lang wird Rilke mit ihr hadern, am Ende will er sie nicht mehr sehen. Seine Familie ist für Rilke eine Belastung, die Stadt Prag ein „Gefängnis für freie Geister“, schreibt Decker, die Hervorbringungen der dortigen Kultur kommt „provinziell verblasen“ daher. Rilke wird eine Reise nach Venedig, das literarische Vorbild Jens Peter Jacobsen und die Bekanntschaft mit einer bedeutenden Frau benötigen, um sich halbwegs den Beklemmungen der Herkunft und den Verklemmtheiten des eigenen Wesens zu entwinden.
Die Biografie durchziehen knappe, scharf gestellte Kurzporträts von Geliebten, Gönnerinnen und Verehrerinnen, wobei all diese Eigenschaften und Positionen zumeist verschränkt sind. Am deutlichsten gewinnt Lou Andreas-Salomé an Kontur, die hochgebildete und weitgereiste Femme de lettres der Jahrhundertwende, deren persönliches Beziehungsgeflecht von Nietzsche über Paul Klee bis hin zu Tolstoi und Freud reicht.Rilke lernt sie im Frühjahr 1897 in München kennen, wohin er nach ersten, eher trostlosen Anfängen als noch in Konventionen befangener Lyriker sowie zwei abgebrochenen Ausbildungen beim Militär und bei der Handelsschule, geflohen ist. Lou Andreas-Salomé will aus dem selbstverliebten Idealisten mit „sprachlicher Zwangsneurose“ einen reifen Künstler werden lassen. Sie überredet ihn, sich Rainer zu nennen („schön, schlicht und deutsch“ findet Rilke selbst den Namen). Sie macht ihn zum Geliebten und hält ihn zugleich auf Distanz zu sich und ihrem Mann, dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas, mit dem sie eine Ehe „in geistiger Gemeinschaft“ führt. Gemeinsam mit Lou reist Rilke nach Russland und erliegt dort einer Art sentimentalem Slawenkitsch, der sich auch in Bart-Tracht und Kleidung ausdrückt. Ein Besuch bei Leo Tolstoi verläuft für Rilke unbefriedigend: Der große Erzähler nimmt ihn nicht wahr und hat nur Ohren und Augen für Lou. Sie verführt den um vierzehn Jahre jüngeren Verehrer Rainer und verstößt ihn, als der ihr allzu aufdringlich wird: „Du warst das Hohe, das mich gesegnet – und wurdest der Abgrund, der mich verschlang“, wird Rilke ihr nach der Trennung hinterherrufen. Er wird ihr immerbegegnen und in ihr eine Freundin, aber auch eine Zuchtmeisterin finden, zum Beispiel, wenn er sich aus der Verantwortung für seine kleine Familie stehlen will.
Rilkes Lebenswiderspruch lässt Gunnar Decker als biografisches Kontinuum durch seine Lebenserzählung wandern: Askese und Luxus, Nähe und Distanz. Auf diese Weise gelingt Rilke der Weg nach oben. Seine Werke werden zunehmend populär, wenngleich sein Brigge-Roman wegen der ästhetischen Zumutungen in der Schilderung der Großstadt und in der radikal subjektiv gehaltenen Beschreibungstechnik auch auf Ablehnung stößt. Aus Briefen, die Rilke seinen Verehrerinnen schickt, entsteht ein bedeutender Teil seiner Literatur, denn Rilke legt in seine Briefe das ganze Gewicht seiner seelischen Befindlichkeit. Zugleich entfaltet er darin immer wieder sein ästhetisches Programm, das Spannung aus der Verschränkung von Nähe und Ferne, dem Gleichklang von Leben und Tod zieht.
In Russland lernt Rilke auch den Maler Heinrich Vogeler kennen, der ihn einlädt, im Künstlerdorf Worpswede Quartier zu beziehen. Mit der impressionistischen Kunst der Maler dort kann Rilke weniger anfangen als mit zwei ihrer Repräsentantinnen: In Paula Becker verliebt sich Rilke, da diese aber an den Maler Otto Modersohn vergeben ist, vermählt er sich mit Clara Westhoff. Die einzige Tochter der beiden, Ruth, wird 1901 geboren und ein vom Vater ungeliebtes Kind bleiben. Lieblos ist auch die Monografie, die Rilke über die Worpsweder Künstler schreibt. Erst in Paris beginnt Rilke ein wirklich beachtliches kunstkritisches Werk zu schreiben, über den in Frankreich als Scharlatan verachteten Bildhauer August Rodin. Er lebt von Obst und Brot, bezieht aber teure Hotels in Rom und stellt an jede unentgeltliche Zuwendung noch hohe Ansprüche.
Gunnar Decker verbiegt sich nicht in seinem Rilke-Porträt, das einen in manische Einsamkeitsexzesse flüchtenden Exzentriker zeigt, der in der engen Stube leben kann, dem „Transitraum der Selbsterforschung“, der aber zugleich keine Scheu hat, sich über lange Strecken von reichen Leuten aushalten zu lassen. Dabei nimmt er auch Demütigungen in Kauf, etwa die konventionellen Ratschläge des Bankiers Karl von der Heydt – oder er demütigt andere wie seinen Verleger Anton Kippenberg, der eine Art Leibrente für ihn anlegt, die Rilke rasch verschleudert.
Die wichtigste Geldgeberin wird für ihn Marie von Thurn und Taxis, in deren Schloss im venezianischen Duino Rilke die erste seiner insgesamt zehn Duineser Elegien schreibt. Ein epiphanisches Erlebnis: Rilke geht bei Sturmwind einen von Felsen umsäumten Weg zum Meer hinunter, als ihn im Brausen des Sturms die berühmte erste Zeile der ersten Elegie buchstäblich anweht. Die Ordnung der Engel war Rilkes Rückversicherung mit dem Transzendenten, dem Zwischenraum von Leben und Tod, und der Engel schwebt als energetisches Lebewesen zwischen diesen beiden Zuständen. Sich beim Sterben sehen zu können – diesen Vorgang hat Rilke als dessen Mit-Entdecker an Proust bewundert.
Es ist eigenartig, und Gunnar Decker belebt diesen Kontrast immer aufs Neue mit Beispielen und kurzen Exkursen: Der große Einsame vermag sich seine Einsamkeit nur deshalb zu leisten, weil er sehr viele Bekannte und Freundinnen hat, die wiederum von Rilkes großer poetischer Macht profitierten. Die eigenwillige Prosaminiaturistin Regina Ullmann zählt zu den von Rilke selbst verehrten Künstlerinnen, später erobert die Lyrikerin Marina Zwetajewa sein Herz. Und als Balthasar, der kleine Sohn seiner Freundin Baladine Klossowska, einen Zyklus auf seine verschwundene Katze zeichnet, entdeckt Rilke dessen Talent und empfiehlt dem jungen Maler, sich fortan Balthus zu nennen.
Es folgen Jahre des psychischen und körperlichen Verfalls, eine kurz aufflammende Verehrung für Mussolini, die Rilke, dem im Grunde jede Art von Nationalismus zuwider ist, schnell wieder einkassiert. Rilke erkrankt an Leukämie, regelt seinen Nachlass und geht in Ruhm und Einsamkeit zugrunde. Das Leben Rainer Maria Rilkes, das im Dezember 1926 in einem Walliser Spital endet, ist beinahe so häufig gedeutet und gewendet worden wie die Werke des Autors. Gunnar Decker verweist am Schluss auf diese Faszination, die auch zu Verleumdungen und Verdunkelungen geführt hat. Rilke hat, so sagte es Robert Musil, das deutsche Gedicht zum ersten Mal vollkommen gemacht. Im Kontrast zu diesem Urteil steht der Lebensweg dieses Mannes, das voller Widersprüche und Unzulänglichkeiten war. Decker gelingt es, Rilkes Leben mit kritischer Empathie und großem erzählerischen Können zu beschreiben. Der ferne Magier rückt einem in vielen Lesemomenten verblüffend nah.
Gunnar Decker:
Rilke – Der ferne Magier. Biographie.
Siedler Verlag,
München 2023.
608 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Verführer
Rainer Maria Rilkes Leben war voller
Widersprüche. Gunnar Decker schildert
es mit kritischer Empathie.
VON HILMAR KLUTE
Rainer Maria Rilke ist so etwas wie das poetische Gewissen der bildungsaffinen Deutschen. Beinahe jeder, der ungefähr weiß, was ein Gedicht ist, kann ein paar Verse von Rilke hersagen; wer sich etwas eingehender mit dem Dichter und seinem Werk beschäftigt hat, vermag aus den „Duineser Elegien“ zu zitieren, zumindest den berühmten Anfang „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“, und die Zeile aus „Herbsttag“, „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“ ist inzwischen in den alltäglichen Sprachgebrauch, nicht nur von verzweifelten Wohnungssuchenden, eingegangen.
Rilkes Poesie schwebt einerseits engelhaft über den Profanitäten des menschlichen Lebens und verweist zugleich in berührender Klarheit auf dessen Bedingungen. Die Verstörungen der Moderne, der schockierende Einbruch der Technik in die Lebenswelt und der Behauptungskampf des Künstlers in einer zunehmend entzauberten Gegenwart bestimmen die Dringlichkeit des Erzählens in Rilkes einzigem Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, der in seiner poetischen Radikalität mit Prousts Recherche und Joyces Ulysses in Verwandtschaft tritt.
Wer dieser kühne, zu den Gipfeln des dichterischen Sagens strebende, dagegen an den theoretischen und sozialkritischen Entwürfen seiner Zeit eher wenig interessierte Schriftsteller Rainer Maria Rilke war, haben bereits einige Autoren zu deuten versucht. Nun, zwei Jahre vor Rilkes 150. Geburtstag, hat Gunnar Decker eine stattliche Biografie geschrieben, „Der ferne Magier“ heißt sie im Untertitel, der programmatisch für Deckers Rilke-Porträt ist, das den Dichter als distanzgebietenden Verführer von Lesern, Frauen und Mäzenen beschreibt. Decker ist als Biograf von Georg Heym, Franz Fühmann und Ernst Barlach und Hermann Hesse hervorgetreten; mit diesem Buch setzt er seine Reihe von Nahaufnahmen bedeutender Dichter der literarischen Moderne fort.
Rilke wird 1875 in Prag geboren, der Vater ist ein pragmatischer Mensch, Inspektor bei der Eisenbahn-Gesellschaft, aus Überzeugung amusisch und damit nur schwer mit dem Gemüt der Mutter Phia in Einklang zu bringen. Die Eltern trennen sich, als der Sohn René, so Rilkes Taufname, neun Jahre alt ist. René wird gewissermaßen anstelle der früh verstorbenen Schwester erzogen. Die Mutter lässt ihn Mädchenkleider tragen, ein Leben lang wird Rilke mit ihr hadern, am Ende will er sie nicht mehr sehen. Seine Familie ist für Rilke eine Belastung, die Stadt Prag ein „Gefängnis für freie Geister“, schreibt Decker, die Hervorbringungen der dortigen Kultur kommt „provinziell verblasen“ daher. Rilke wird eine Reise nach Venedig, das literarische Vorbild Jens Peter Jacobsen und die Bekanntschaft mit einer bedeutenden Frau benötigen, um sich halbwegs den Beklemmungen der Herkunft und den Verklemmtheiten des eigenen Wesens zu entwinden.
Die Biografie durchziehen knappe, scharf gestellte Kurzporträts von Geliebten, Gönnerinnen und Verehrerinnen, wobei all diese Eigenschaften und Positionen zumeist verschränkt sind. Am deutlichsten gewinnt Lou Andreas-Salomé an Kontur, die hochgebildete und weitgereiste Femme de lettres der Jahrhundertwende, deren persönliches Beziehungsgeflecht von Nietzsche über Paul Klee bis hin zu Tolstoi und Freud reicht.Rilke lernt sie im Frühjahr 1897 in München kennen, wohin er nach ersten, eher trostlosen Anfängen als noch in Konventionen befangener Lyriker sowie zwei abgebrochenen Ausbildungen beim Militär und bei der Handelsschule, geflohen ist. Lou Andreas-Salomé will aus dem selbstverliebten Idealisten mit „sprachlicher Zwangsneurose“ einen reifen Künstler werden lassen. Sie überredet ihn, sich Rainer zu nennen („schön, schlicht und deutsch“ findet Rilke selbst den Namen). Sie macht ihn zum Geliebten und hält ihn zugleich auf Distanz zu sich und ihrem Mann, dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas, mit dem sie eine Ehe „in geistiger Gemeinschaft“ führt. Gemeinsam mit Lou reist Rilke nach Russland und erliegt dort einer Art sentimentalem Slawenkitsch, der sich auch in Bart-Tracht und Kleidung ausdrückt. Ein Besuch bei Leo Tolstoi verläuft für Rilke unbefriedigend: Der große Erzähler nimmt ihn nicht wahr und hat nur Ohren und Augen für Lou. Sie verführt den um vierzehn Jahre jüngeren Verehrer Rainer und verstößt ihn, als der ihr allzu aufdringlich wird: „Du warst das Hohe, das mich gesegnet – und wurdest der Abgrund, der mich verschlang“, wird Rilke ihr nach der Trennung hinterherrufen. Er wird ihr immerbegegnen und in ihr eine Freundin, aber auch eine Zuchtmeisterin finden, zum Beispiel, wenn er sich aus der Verantwortung für seine kleine Familie stehlen will.
Rilkes Lebenswiderspruch lässt Gunnar Decker als biografisches Kontinuum durch seine Lebenserzählung wandern: Askese und Luxus, Nähe und Distanz. Auf diese Weise gelingt Rilke der Weg nach oben. Seine Werke werden zunehmend populär, wenngleich sein Brigge-Roman wegen der ästhetischen Zumutungen in der Schilderung der Großstadt und in der radikal subjektiv gehaltenen Beschreibungstechnik auch auf Ablehnung stößt. Aus Briefen, die Rilke seinen Verehrerinnen schickt, entsteht ein bedeutender Teil seiner Literatur, denn Rilke legt in seine Briefe das ganze Gewicht seiner seelischen Befindlichkeit. Zugleich entfaltet er darin immer wieder sein ästhetisches Programm, das Spannung aus der Verschränkung von Nähe und Ferne, dem Gleichklang von Leben und Tod zieht.
In Russland lernt Rilke auch den Maler Heinrich Vogeler kennen, der ihn einlädt, im Künstlerdorf Worpswede Quartier zu beziehen. Mit der impressionistischen Kunst der Maler dort kann Rilke weniger anfangen als mit zwei ihrer Repräsentantinnen: In Paula Becker verliebt sich Rilke, da diese aber an den Maler Otto Modersohn vergeben ist, vermählt er sich mit Clara Westhoff. Die einzige Tochter der beiden, Ruth, wird 1901 geboren und ein vom Vater ungeliebtes Kind bleiben. Lieblos ist auch die Monografie, die Rilke über die Worpsweder Künstler schreibt. Erst in Paris beginnt Rilke ein wirklich beachtliches kunstkritisches Werk zu schreiben, über den in Frankreich als Scharlatan verachteten Bildhauer August Rodin. Er lebt von Obst und Brot, bezieht aber teure Hotels in Rom und stellt an jede unentgeltliche Zuwendung noch hohe Ansprüche.
Gunnar Decker verbiegt sich nicht in seinem Rilke-Porträt, das einen in manische Einsamkeitsexzesse flüchtenden Exzentriker zeigt, der in der engen Stube leben kann, dem „Transitraum der Selbsterforschung“, der aber zugleich keine Scheu hat, sich über lange Strecken von reichen Leuten aushalten zu lassen. Dabei nimmt er auch Demütigungen in Kauf, etwa die konventionellen Ratschläge des Bankiers Karl von der Heydt – oder er demütigt andere wie seinen Verleger Anton Kippenberg, der eine Art Leibrente für ihn anlegt, die Rilke rasch verschleudert.
Die wichtigste Geldgeberin wird für ihn Marie von Thurn und Taxis, in deren Schloss im venezianischen Duino Rilke die erste seiner insgesamt zehn Duineser Elegien schreibt. Ein epiphanisches Erlebnis: Rilke geht bei Sturmwind einen von Felsen umsäumten Weg zum Meer hinunter, als ihn im Brausen des Sturms die berühmte erste Zeile der ersten Elegie buchstäblich anweht. Die Ordnung der Engel war Rilkes Rückversicherung mit dem Transzendenten, dem Zwischenraum von Leben und Tod, und der Engel schwebt als energetisches Lebewesen zwischen diesen beiden Zuständen. Sich beim Sterben sehen zu können – diesen Vorgang hat Rilke als dessen Mit-Entdecker an Proust bewundert.
Es ist eigenartig, und Gunnar Decker belebt diesen Kontrast immer aufs Neue mit Beispielen und kurzen Exkursen: Der große Einsame vermag sich seine Einsamkeit nur deshalb zu leisten, weil er sehr viele Bekannte und Freundinnen hat, die wiederum von Rilkes großer poetischer Macht profitierten. Die eigenwillige Prosaminiaturistin Regina Ullmann zählt zu den von Rilke selbst verehrten Künstlerinnen, später erobert die Lyrikerin Marina Zwetajewa sein Herz. Und als Balthasar, der kleine Sohn seiner Freundin Baladine Klossowska, einen Zyklus auf seine verschwundene Katze zeichnet, entdeckt Rilke dessen Talent und empfiehlt dem jungen Maler, sich fortan Balthus zu nennen.
Es folgen Jahre des psychischen und körperlichen Verfalls, eine kurz aufflammende Verehrung für Mussolini, die Rilke, dem im Grunde jede Art von Nationalismus zuwider ist, schnell wieder einkassiert. Rilke erkrankt an Leukämie, regelt seinen Nachlass und geht in Ruhm und Einsamkeit zugrunde. Das Leben Rainer Maria Rilkes, das im Dezember 1926 in einem Walliser Spital endet, ist beinahe so häufig gedeutet und gewendet worden wie die Werke des Autors. Gunnar Decker verweist am Schluss auf diese Faszination, die auch zu Verleumdungen und Verdunkelungen geführt hat. Rilke hat, so sagte es Robert Musil, das deutsche Gedicht zum ersten Mal vollkommen gemacht. Im Kontrast zu diesem Urteil steht der Lebensweg dieses Mannes, das voller Widersprüche und Unzulänglichkeiten war. Decker gelingt es, Rilkes Leben mit kritischer Empathie und großem erzählerischen Können zu beschreiben. Der ferne Magier rückt einem in vielen Lesemomenten verblüffend nah.
Gunnar Decker:
Rilke – Der ferne Magier. Biographie.
Siedler Verlag,
München 2023.
608 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2023Vom Bazillus in seiner Lebensspeise
Momentaufnahmen eines alltäglichen Versagers: Gunnar Deckers Biographie des Dichters Rainer Maria Rilke darf mit weniger Vorurteilen rechnen, muss aber geringeres Vorwissen berücksichtigen. Das Resultat ist zwiespältig.
Anfang 1922 hat Rainer Maria Rilke Ärger mit seiner Tochter Ruth. Ruth will heiraten, und Rilke hat zur Ersteinrichtung ihrer Wohnung die Hälfte der hunderttausend Mark zugesagt, die auf seinem Honorarkonto beim Insel-Verleger Anton Kippenberg aufgelaufen sind. Aber die Inflation in Deutschland hat, wie der im Schweizer Wallis lebende Dichter sehr wohl weiß, den Wert des Geldes stark reduziert. Für Ruths Wünsche reichen fünfzigtausend Mark deshalb nicht aus: Sie verlangt weitere zwanzigtausend. Rilke gewährt ihr die Hälfte. Über diese zehntausend Mark hinaus aber, so schreibt er am 27. Januar an Kippenberg, der als Vermittler fungiert, "sollten wir in unserem ergänzenden Entgegenkommen nicht gehen". Der Verleger freilich insistiert. In Briefen schildert er Ruths Probleme bei der Gründung ihres Hausstands. Endlich gibt Rilke nach. Am 10. März meldet ihm Kippenberg, er habe die gewünschte, "nun aber endgültig restliche" Summe an Ruth überwiesen.
Das Gefeilsche zwischen Leipzig und dem Wallis findet in einer entscheidenden Phase von Rilkes Schaffen statt. In diesen Wochen, genau zwischen dem 7. und dem 26. Februar 1922, vollendet er in seiner Klause auf Schloss Muzot bei Sierre die "Duineser Elegien" und verfasst die fünfundfünfzig "Sonette an Orpheus". Während er also morgens und mittags darüber verhandelt, wie hoch die finanzielle Mitgift für seine Tochter ausfallen soll, und sich in Anzug und Krawatte am Tisch sitzend von seiner Hausangestellten Frida Baumgartner - er nennt sie "Geistlein" - bedienen lässt, schreibt er abends und nachts Verse wie jene sarkastischen über das "Geschlechtsteil des Gelds", das "sich vermehrt, anatomisch", oder die hymnischen über den Bettler, dessen Schönheit und Würde "nur dem Aufsingenden säglich. / Nur dem Göttlichen hörbar" seien. Es ist der Grundwiderspruch von Rilkes Leben. Denn einerseits ist er ein Dichter, der bedeutendste seiner Zeit. Und andererseits ein Mensch, der sich im Alltag keineswegs mit Ruhm bekleckert hat.
Von "Wendepunkten und Widersprüchen in Rilkes Leben" will Gunnar Decker in seiner Biographie des Dichters erzählen. In den beiden Kapiteln über die Entstehung der "Sonette", den Abschluss der "Elegien" und die Mitgiftverhandlungen mit Kippenberg gelingt ihm das beispielhaft, obwohl - oder gerade weil - er die Gleichzeitigkeit von Schaffensrausch und väterlicher Knauserei nicht ausdrücklich hervorhebt. An vielen anderen Stellen dieses Sechshundert-Seiten-Buchs indessen wirken Deckers Kommentare zu Rilkes Lebenswandel besserwisserisch, manchmal auch überheblich. Das liegt nicht allein an jener historisch-kritischen Haltung zu seinem Gegenstand, wie sie jedem heutigen Biographen gut ansteht (auch wenn ein Satz wie "Gegen die Sorgen anderer Menschen erweist er sich zuverlässig als immun" die Grenze zur Schulmeisterei streift). Es hat auch mit einer grundsätzlichen Zweideutigkeit in der Anlage seines Buches zu tun, das sich nie ganz sicher zu sein scheint, ob es eher eine Biographie des Werks oder des Autors sein will.
Seit seinem Leukämietod im Dezember 1926 schwankt Rilkes Charakterbild im Auge der Nachwelt. Auf eine Phase der Huldigungen, für die die Biographien von Fritz Klatt und Hermann Kunisch stehen, folgte mit der Polemik von Egon Schwarz gegen "Das verschluckte Schluchzen" eine regelrechte Kriegserklärung, die wiederum in den abwägenden Darstellungen Wolfgang Leppmanns und Donald Praters literaturgeschichtlich abmoderiert wurde. Heute ist das profane und politische Dasein des Dichters kein Aufreger mehr - abgesehen von seinen Frauenbeziehungen, denen sich seit der Jahrtausendwende eine reichhaltige Publizistik gewidmet hat, zu der auch Gunnar Decker mit einem Reclam-Bändchen seinen Teil beitrug.
Für eine neue Rilke-Biographie bedeutet das, dass sie sich frei von der Last vorgestriger Debatten ihrem Thema widmen, aber auch weniger Vorkenntnisse bei ihren Lesern erwarten kann. Sie muss den Rahmen, in den sie ihren Helden setzt, gleich mitliefern. Das gelingt Decker bei den Kurzporträts von Rilkes Brief- und Liebespartnerinnen, angefangen mit der quecksilbrigen Walküre Lou Andreas-Salomé, allemal gut, in den zeitgeschichtlichen Skizzen dagegen deutlich weniger. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzt er fälschlich auf den 1. September 1914 statt auf die Tage zwischen dem 28. August und dem 4. September an, zur Novemberrevolution in München, an der Rilke als wohlwollender Beobachter teilnahm, hat er wenig zu sagen, und der historische Hintergrund von dessen Lob für die "schöne Ansprache" des Diktators Benito Mussolini bleibt bei Decker so gänzlich unerhellt, dass die Bewunderung des Dichters für den Despoten als Schnurre eines desorientierten Zeitungslesers erscheint.
Aber solche kleinen Patzer sind nicht das Problem dieses Buchs. Dessen entscheidende Schwäche, die ihm viel von seiner Wirkung nimmt, liegt in der Kluft zwischen Deckers Anspruch, in diese Lebenschronik auch eine Würdigung von Rilkes Werk einzuflechten, und dem, was ihm dazu tatsächlich einfällt. Dabei ist nichts gegen seine Einordnung des Dichters als "modernen Mystiker" einzuwenden, der die "Als-ob-Existenz Gottes" beschwöre. Aber Deckers Schnelldiagnosen zum "Cornet" ("Romantisierung militärischer Aktion") und zum "Malte Laurids Brigge" ("Ein Buch vom Ende und vom Anfang, von Sinnlosigkeit und Sinnschöpfung") sind nicht nur platt, sondern auch vollkommen überflüssig, und sein Gesamturteil über Rilkes Gedichte würde jede Sonntagspredigt zieren: "Sie reichen bis an den Grund unserer Existenz." Dass er dann auch noch das berühmte zweite Gedicht aus dem "Stunden-Buch" falsch zitiert ("Ich werde den letzten vielleicht nicht mehr vollbringen"), ist sozusagen die Cocktailkirsche auf einer Konditoren-Auslage süßsaurer Germanistenpoesie.
Der geduldige Leser dieser Biographie wird deshalb, um sich seine Begeisterung für Rilke zu bewahren, manches einfach überblättern und anderes, wie Deckers altkluges Schlusswort ("Von Jugend an gewiss ein echter Dichter, konnte er Talmi jedoch nie vermeiden"), sofort wieder vergessen. Aber es bleibt immer noch genug übrig, das man anderswo noch nicht oder nur ganz beiläufig erfahren hat. Etwa Rilkes Bemerkung über Lou Andreas-Salomés Mutter, in der sich sein eigener lebenslanger Mutterhass spiegelt: "ein einziger dicker Bazillus in Deiner Lebensspeise". Oder jener Brief vom 8. Dezember 1926, drei Wochen vor seinem Tod, in dem er bei seiner Vertrauten Nanny Wunderly-Volkart "echte weiche Nachthemden Système Dr. Lahmann" bestellt, "weiß oder beige". Oder auch jener Brief an die gleiche Adressatin, in dem er am 18. Februar 1922, vier Tage nach der Niederschrift der zehnten und letzten "Duineser Elegie", bekennt: "Chère, ich schreie nach - Lactobacilline." Ob ihn sein wohltätiger Engel aus der Deutschschweiz erhört hat? Wir wissen es nicht. Aber wir hören noch immer seine Verse. ANDREAS KILB
Gunnar Decker: "Rilke, der ferne Magier". Eine Biographie.
Siedler Verlag, Berlin 2023. 608 S., Abb., geb., 36,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Momentaufnahmen eines alltäglichen Versagers: Gunnar Deckers Biographie des Dichters Rainer Maria Rilke darf mit weniger Vorurteilen rechnen, muss aber geringeres Vorwissen berücksichtigen. Das Resultat ist zwiespältig.
Anfang 1922 hat Rainer Maria Rilke Ärger mit seiner Tochter Ruth. Ruth will heiraten, und Rilke hat zur Ersteinrichtung ihrer Wohnung die Hälfte der hunderttausend Mark zugesagt, die auf seinem Honorarkonto beim Insel-Verleger Anton Kippenberg aufgelaufen sind. Aber die Inflation in Deutschland hat, wie der im Schweizer Wallis lebende Dichter sehr wohl weiß, den Wert des Geldes stark reduziert. Für Ruths Wünsche reichen fünfzigtausend Mark deshalb nicht aus: Sie verlangt weitere zwanzigtausend. Rilke gewährt ihr die Hälfte. Über diese zehntausend Mark hinaus aber, so schreibt er am 27. Januar an Kippenberg, der als Vermittler fungiert, "sollten wir in unserem ergänzenden Entgegenkommen nicht gehen". Der Verleger freilich insistiert. In Briefen schildert er Ruths Probleme bei der Gründung ihres Hausstands. Endlich gibt Rilke nach. Am 10. März meldet ihm Kippenberg, er habe die gewünschte, "nun aber endgültig restliche" Summe an Ruth überwiesen.
Das Gefeilsche zwischen Leipzig und dem Wallis findet in einer entscheidenden Phase von Rilkes Schaffen statt. In diesen Wochen, genau zwischen dem 7. und dem 26. Februar 1922, vollendet er in seiner Klause auf Schloss Muzot bei Sierre die "Duineser Elegien" und verfasst die fünfundfünfzig "Sonette an Orpheus". Während er also morgens und mittags darüber verhandelt, wie hoch die finanzielle Mitgift für seine Tochter ausfallen soll, und sich in Anzug und Krawatte am Tisch sitzend von seiner Hausangestellten Frida Baumgartner - er nennt sie "Geistlein" - bedienen lässt, schreibt er abends und nachts Verse wie jene sarkastischen über das "Geschlechtsteil des Gelds", das "sich vermehrt, anatomisch", oder die hymnischen über den Bettler, dessen Schönheit und Würde "nur dem Aufsingenden säglich. / Nur dem Göttlichen hörbar" seien. Es ist der Grundwiderspruch von Rilkes Leben. Denn einerseits ist er ein Dichter, der bedeutendste seiner Zeit. Und andererseits ein Mensch, der sich im Alltag keineswegs mit Ruhm bekleckert hat.
Von "Wendepunkten und Widersprüchen in Rilkes Leben" will Gunnar Decker in seiner Biographie des Dichters erzählen. In den beiden Kapiteln über die Entstehung der "Sonette", den Abschluss der "Elegien" und die Mitgiftverhandlungen mit Kippenberg gelingt ihm das beispielhaft, obwohl - oder gerade weil - er die Gleichzeitigkeit von Schaffensrausch und väterlicher Knauserei nicht ausdrücklich hervorhebt. An vielen anderen Stellen dieses Sechshundert-Seiten-Buchs indessen wirken Deckers Kommentare zu Rilkes Lebenswandel besserwisserisch, manchmal auch überheblich. Das liegt nicht allein an jener historisch-kritischen Haltung zu seinem Gegenstand, wie sie jedem heutigen Biographen gut ansteht (auch wenn ein Satz wie "Gegen die Sorgen anderer Menschen erweist er sich zuverlässig als immun" die Grenze zur Schulmeisterei streift). Es hat auch mit einer grundsätzlichen Zweideutigkeit in der Anlage seines Buches zu tun, das sich nie ganz sicher zu sein scheint, ob es eher eine Biographie des Werks oder des Autors sein will.
Seit seinem Leukämietod im Dezember 1926 schwankt Rilkes Charakterbild im Auge der Nachwelt. Auf eine Phase der Huldigungen, für die die Biographien von Fritz Klatt und Hermann Kunisch stehen, folgte mit der Polemik von Egon Schwarz gegen "Das verschluckte Schluchzen" eine regelrechte Kriegserklärung, die wiederum in den abwägenden Darstellungen Wolfgang Leppmanns und Donald Praters literaturgeschichtlich abmoderiert wurde. Heute ist das profane und politische Dasein des Dichters kein Aufreger mehr - abgesehen von seinen Frauenbeziehungen, denen sich seit der Jahrtausendwende eine reichhaltige Publizistik gewidmet hat, zu der auch Gunnar Decker mit einem Reclam-Bändchen seinen Teil beitrug.
Für eine neue Rilke-Biographie bedeutet das, dass sie sich frei von der Last vorgestriger Debatten ihrem Thema widmen, aber auch weniger Vorkenntnisse bei ihren Lesern erwarten kann. Sie muss den Rahmen, in den sie ihren Helden setzt, gleich mitliefern. Das gelingt Decker bei den Kurzporträts von Rilkes Brief- und Liebespartnerinnen, angefangen mit der quecksilbrigen Walküre Lou Andreas-Salomé, allemal gut, in den zeitgeschichtlichen Skizzen dagegen deutlich weniger. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzt er fälschlich auf den 1. September 1914 statt auf die Tage zwischen dem 28. August und dem 4. September an, zur Novemberrevolution in München, an der Rilke als wohlwollender Beobachter teilnahm, hat er wenig zu sagen, und der historische Hintergrund von dessen Lob für die "schöne Ansprache" des Diktators Benito Mussolini bleibt bei Decker so gänzlich unerhellt, dass die Bewunderung des Dichters für den Despoten als Schnurre eines desorientierten Zeitungslesers erscheint.
Aber solche kleinen Patzer sind nicht das Problem dieses Buchs. Dessen entscheidende Schwäche, die ihm viel von seiner Wirkung nimmt, liegt in der Kluft zwischen Deckers Anspruch, in diese Lebenschronik auch eine Würdigung von Rilkes Werk einzuflechten, und dem, was ihm dazu tatsächlich einfällt. Dabei ist nichts gegen seine Einordnung des Dichters als "modernen Mystiker" einzuwenden, der die "Als-ob-Existenz Gottes" beschwöre. Aber Deckers Schnelldiagnosen zum "Cornet" ("Romantisierung militärischer Aktion") und zum "Malte Laurids Brigge" ("Ein Buch vom Ende und vom Anfang, von Sinnlosigkeit und Sinnschöpfung") sind nicht nur platt, sondern auch vollkommen überflüssig, und sein Gesamturteil über Rilkes Gedichte würde jede Sonntagspredigt zieren: "Sie reichen bis an den Grund unserer Existenz." Dass er dann auch noch das berühmte zweite Gedicht aus dem "Stunden-Buch" falsch zitiert ("Ich werde den letzten vielleicht nicht mehr vollbringen"), ist sozusagen die Cocktailkirsche auf einer Konditoren-Auslage süßsaurer Germanistenpoesie.
Der geduldige Leser dieser Biographie wird deshalb, um sich seine Begeisterung für Rilke zu bewahren, manches einfach überblättern und anderes, wie Deckers altkluges Schlusswort ("Von Jugend an gewiss ein echter Dichter, konnte er Talmi jedoch nie vermeiden"), sofort wieder vergessen. Aber es bleibt immer noch genug übrig, das man anderswo noch nicht oder nur ganz beiläufig erfahren hat. Etwa Rilkes Bemerkung über Lou Andreas-Salomés Mutter, in der sich sein eigener lebenslanger Mutterhass spiegelt: "ein einziger dicker Bazillus in Deiner Lebensspeise". Oder jener Brief vom 8. Dezember 1926, drei Wochen vor seinem Tod, in dem er bei seiner Vertrauten Nanny Wunderly-Volkart "echte weiche Nachthemden Système Dr. Lahmann" bestellt, "weiß oder beige". Oder auch jener Brief an die gleiche Adressatin, in dem er am 18. Februar 1922, vier Tage nach der Niederschrift der zehnten und letzten "Duineser Elegie", bekennt: "Chère, ich schreie nach - Lactobacilline." Ob ihn sein wohltätiger Engel aus der Deutschschweiz erhört hat? Wir wissen es nicht. Aber wir hören noch immer seine Verse. ANDREAS KILB
Gunnar Decker: "Rilke, der ferne Magier". Eine Biographie.
Siedler Verlag, Berlin 2023. 608 S., Abb., geb., 36,- Euro.
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»Decker gelingt es, Rilkes Leben mit kritischer Empathie und großem erzählerischen Können zu beschreiben. Der ferne Magier rückt einem in vielen Lesemomenten verblüffend nah.« Hilmar Klute, Süddeutsche Zeitung