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A full-length study of the work of the German poet Rainer Maria Rilke (1875-1926) that studies the breadth of his work, including the translations and the late poems written in French.

Produktbeschreibung
A full-length study of the work of the German poet Rainer Maria Rilke (1875-1926) that studies the breadth of his work, including the translations and the late poems written in French.
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Autorenporträt
Charlie Louth is Fellow and Tutor in German at The Queen's College, University of Oxford.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Begleiter durch den Orkan des Herzens
Hier erreicht die Analyse bisweilen den Rang der Dichtung selbst: Charlie Louths große Rilke-Deutung

In einem Brief an eine Freundin hat Rilke einmal die Kunst dadurch verteidigt, dass er sie als eine Form von Leben betrachtete. Das ist der Ausgangspunkt von Charlie Louths imposanter Rilke-Monographie, die zu den aufschlussreichsten Büchern über den Dichter aus den letzten Jahren zählt. Nach Louth ist Rilkes Werk eine "konzentrierte Untersuchung von der Beschaffenheit und der Form des Lebens". Diese ebenso einfache wie unscheinbare Behauptung widerspricht dem Gros der Rilke-Deutungen. Die Exegeten unterscheiden normalerweise verschiedene Phasen: Rilke als Prophet, Rilke als Metaphysiker, wie ihn vor allem Heidegger verstand (der allerdings Rilkes Begrifflichkeit missverstand), und Rilke als Meister der Form.

Louth räumt mit allen diesen Methoden auf, indem er eine strenge, vorsichtige und sensible Exegese betreibt - eine neuartige Variation der "textimmanenten" Interpretation, die eine breite intellektuelle und dichterische Perspektive beinhaltet. Denn Louth möchte das, was der wichtigste englische Dichter des siebzehnten Jahrhunderts, John Milton, die "Potenz des Lebens" nannte, die in den Büchern steckt, befreien. "Leben" gehört zu den häufigsten Begriffen bei Rilke, wie etwa im Spruch "Du sagtest Leben laut und Sterben leise", und Louth will diese Anschauung beim Wort nehmen.

Man könnte seine Methode eine pragmatische Hermeneutik nennen - in der Schule von William James, also ein Verfahren, das sowohl den geistigen als auch den empirischen Gehalt der Dichtung wahrnimmt. In den Gedichten, wie sie Louth versteht, dreht sich alles um das, was James den "menschlichen Zeugen" nennt.

Mit Charlie Louth an Rilkes Gedichte heranzugehen heißt lesen lernen. Frisch und intelligent nähert er sich den Texten, als ob er deren allererster Leser wäre. Indem er die Dynamik der Sätze verfolgt, bewegt er sich Schritt für Schritt an deren eigentliche Bedeutung heran. Obwohl Louth immens gelehrt ist, wirkt seine Stimme stets zart, geradezu naiv, devot: So ertastet er, wie man eigentlich Rilke liest, ja dass das Lesen eines Gedichts einen Prozess von "Kommen und Gehen" bedeutet. Er kennt alle technischen Begriffe, instrumentalisiert sie aber für seine höchst originelle Art zu denken.

Unterscheidet man gemeinhin drei biographische Hauptphasen in Rilkes Werk, so lehrt uns Louth, die Einheit des Schaffens zu erkennen. Dabei findet er in den oft verpönten frühen Gedichten wie etwa "Mir zur Feier" von 1899 neue Reize. In einem Gedicht an die Freundin Lou Andreas-Salomé verfolgt er Rilkes Faszination für Lous Hände: "deine Hände schlafen weiß im Schooße". Das Jugendstilbild der Blässe wird bei Rilke zu einem "Sakrament" der Liebe, zu einem kaum verhüllten Zeichen der Sexualität. Zurückblickend auf diese Zeit schrieb Rilke in einer paradoxen Formulierung: "Ich lernte eine Einfachheit."

Zu den Vorzügen von Louths Buch zählt auch die Art, wie es Rilkes Biographie mit dessen Dichtung zu verweben versteht und andauernd seltene Belege aus den Briefen - Rilke war ein unersättlicher Briefeschreiber - heranzieht, um die behauptete Einheit von Leben und Werk zu beweisen.

Wenn er auf die "Neuen Gedichte" (1907/1908) zu sprechen kommt, die bekanntlich einen Bruch im Schaffen des Dichters bedeuteten, weiß Louth sowohl ihre Neuartigkeit als auch ihre Kontinuität zu erhellen. Die herkömmliche Obsession mit den "Dinggedichten" Rilkes, die um ein Objekt kreisen, wird hier verworfen. Es ist wieder die Sprachführung des Interpreten, die den Leser erfasst. Ich kenne keine subtilere Wortwahl als die von Louth, wenn er etwa die "Kraft, Geschmeidigkeit und Feinheit" (intricacy) der Rhythmen in diesen Gedichten behandelt. Kühne Formulierungen wie "verweilende Syntax" (lingering syntax) decken die Wesensart von Rilkes Kunst auf. Mit derselben Zartheit beschwört Louth dessen ungewöhnliches Vokabular: "löhren", "scheusten", "verfitzen" oder "aufsträhnen". Allerdings frage ich mich, warum das Wort "Knaul" obsolet sein soll.

Sein exzeptioneller Wortschatz lässt sich nicht zuletzt auf Rilkes Faszination für Grimms "Deutsches Wörterbuch" zurückführen. Für Louth ist Rilke vor allem ein Handwerker, der eine schillernde Sprachmagie praktiziert. Es entstehen dadurch lauter Effekte, die weder in der Rhetorik noch in der Poetik einen festen Ort haben. Wie Rilke an den Künstler Emil Orlik schrieb: "Aus allen Wandlungen und Wirrnissen und Übergängen soll die Kunst den ,Extrakt der Dinge', welche ihre Seele ist, retten."

Genau diese angestrebte Verflüssigung - die übrigens auch Hofmannsthal beschäftigte - spiegelt sich in Rilkes Wortführung. Im Gedicht "Römische Fontäne" taucht das Wort "Übergänge" wieder auf, um das Spielerische des Wassers zu evozieren. Ein besonderer Reiz dieser Interpretationsweise ist, dass Louth zwar die radikalen Ansätze der französischen Theoretiker wie Bachelard oder Derrida kennt, aber hartnäckig bei einer luziden, theoriefreien Sprache bleibt. Auch deckt er faszinierende interkulturelle Beziehungen auf, etwa zwischen dem Imagismus des Amerikaners Ezra Pound und Rilkes Ästhetik. So vermag Louth klarer als bisher Rilke im Rahmen des europäischen Modernismus um 1910 zu verankern. Ebenfalls vermag er dessen Verehrung für die bildenden Künstler Rodin und Cézanne neue Einsichten abzugewinnen.

Den nächsten Schritt in Rilkes Entwicklung nennt Louth nicht sehr glücklich die "Zwischenzeit" (interim), wobei er die gehaltvolle Verwandlung von Rilkes Mitteln gleichsam unterschätzt. Es geht um die lyrische Wende zu Hölderlin. Das Stück "An Hölderlin" ist das einzige von Rilke einem bedeutenden Dichter gewidmete Gedicht. Mit philologischer Strenge verfolgt Louth dessen Entstehung: Rilkes Freundschaft mit dem Herausgeber von Hölderlins Werk, Norbert von Hellingrath, den ersten Entwurf des Textes auf dem Vorsatzblatt des vierten Bands von Hölderlins Werken und die Erweiterung des Textes bei einem Spaziergang. Selten dürfte die Entstehung eines deutschen Gedichts derart gewissenhaft untersucht worden sein. Man erinnert sich an Peter Szondis spannende Celan-Deutung. Selbst wo Louth das Ätherische behandelt, geht es ihm um die Materialität der Sprache, um die Historizität des Schreibens. Sein Gedicht "An Hölderlin" verfasste Rilke bald nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs - ein Ereignis, das einen tiefgreifenden Einschnitt im Schaffen bedeutete.

Die großen weltanschaulichen Gedichte der letzten Phase stellen Louth auf eine harte Probe, denn darin geht es bekanntlich um mehr als nur leben: Jetzt ist es das Dasein, das Rilke erforscht, es geht tätsachlich um eine Lebensphilosophie, die auf Überlegungen von Kierkegaard aufbaut und die Existenzphilosophie vorwegnimmt. Das sind die Gedichte, die bei Heidegger Anklang fanden. Doch auch hier vermag Louth zu überraschen. Mit typischer Genauigkeit erhellt er die verwickelte Chronologie der "Duineser Elegien" (1912 bis 1922), die Rilke schließlich in einem "Orkan des Herzens" beendete. Nützlich die Einsicht, Goethes Elegie "Euphrosyne" habe auf die Gestaltung des Zyklus eingewirkt. So kann Louth die Ansicht von Theodore Ziolkowski aufgreifen, Rilke habe die deutsche Tradition der Elegie fortgeführt.

Je kühner Rilke seine Gedichte gestaltete, desto schwieriger wurden sie. Wie T. S. Eliot erkannt hat, war es die Aufgabe eines modernen Dichters, "schwierig" (difficult) zu sein. Rilke nannte das: "Kondensierung und Verkürzung". Hier übersieht übrigens Louth die Nähe zum Berliner Sturm-Kreis, in dem sich Rilke bewegte. Generell kommen bei ihm die Prager Schule, die er gar nicht zu kennen scheint, und die deutsche Avantgarde zu kurz. Seine Studie bietet kluge Erläuterung vieler Stellen, doch zu wenig zum geistigen Kontext und der Metaphysik der "Duineser Elegien" - wichtige Vorbilder wie etwa Georg Simmel fehlen. Da Louth sich gegen eine abstrakte Lesart des Hauptwerks wehrt, verliert er sich häufig in Paraphrasen. Seine mikroskopische Systematik vermag jedoch nicht die grandiose Architektur dieses Weltgedichts zu erhellen.

Hingegen ist seine Vorgehensweise für die "Sonette an Orpheus" (1922) ideal. Geradezu liebevoll behandelt er die Texte. Wendungen wie die Definition der Form als ein "kompliziertes Organ aus Reimen" (intricate organ of rhyme) gehören zum Besten, was wir in der englischen Kritik heute besitzen. Ebenso Louths Verständnis der Form als "Rahmen des Schweigens" (a framework of silence). Hier erreicht die Entschlüsselung den Rang der Dichtung selbst. Die Analyse gipfelt in einer ebenso zarten wie geschmeidigen Lesart der "Spätlese" (1924). So hat Charlie Louth ein Standardwerk geschaffen, das in keiner Rilke-Bibliothek fehlen sollte. Eine deutsche Übersetzung wäre sehr erwünscht.

JEREMY ADLER

Charlie Louth: "Rilke". The Life of the Work.

Oxford University Press, Oxford 2020.

656 S., geb., 75,- brit. Pfund.

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