Produktdetails
- Verlag: Atlas Contact
- ISBN-13: 9789025452636
- Artikelnr.: 66621460
buecher-magazin.deEine deprimierende Familiengeschichte, die den Hörer fordert, die aber von vier Sprechern mit der Gabe der Nonchalance erzählt wird. Die Frustrationen der Familie Armin werden so verkraftbar. Im steten Wechsel erzählen Masha, ihr Bruder Hans, Mutter Barbara und Vater Alexander von ihren Seelennöten. Masha muss realisieren, dass ihre Karriere als Schauspielerin gescheitert ist. Worauf sie verkrampft versucht, kurz vor Torschluss noch Mutter zu werden. Hans ist überfordert von seinem Job und seiner mürbe gewordenen Ehe. Vater Alexander legt sich in späten Jahren einen Wellensittich zu - als Ersatz für die ausbleibende Liebe von Barbara. Diese wiederum ist beherrscht von Depressionen und Erinnerungen an die Flitterwochen in Rimini. Der Ort eines Sündenfalls, der vermutlich die Ursache des Negativ-Karmas der ganzen Familie ist. "Rimini" besticht durchaus durch seinen Mut zur lässigen Schonungslosigkeit. Trost gibt es nur durch die Tragikomik der Geschichten. Und durch das erlesene Sprecher-Quartett Eidinger/Makatsch/Kroymann/Noethen, das den Figuren Würde und Haltung verleiht und über manche Länge hinweghilft.
© BÜCHERmagazin, Martin Maria Schwarz (mms)
© BÜCHERmagazin, Martin Maria Schwarz (mms)
»Das könnte ich, das könnten wir, das könnte meine Familie sein. Genau das macht dieses Buch so besonders, so lesenwert. Eine bitterböse Familiengeschichte, witzig, unterhaltsam geschrieben. Und ungemein klug beobachtet.« Christine Westermann WDR 5 Bücher 20171012
Frankfurter Allgemeine ZeitungEin einziges großes Wiedererkennen
Von Liebe, Scheidung, Familie und einem gerissenen Kondom: "Rimini", der erste Roman der Filmregisseurin Sonja Heiss, ist ernst, komisch und vor allem sehr genau beobachtet
Es fängt damit an, dass Hans einen Kugelschreiber zerbricht. Einen geliehenen Kugelschreiber. Im Verhandlungsraum eines Gerichts. Die Wut will raus. "Er musste zerbrochen werden. Er wollte zerbrochen werden." Den schönen "Scholting, von Giersberg, Grüben, Schulz und Altmann-Bleistift" hat er zuvor schon zerbrochen. Die Verhandlung wird kurz darauf geschlossen, der Anwaltskollege ist unbegreiflich wütend über den Verlust des Billigschreibgeräts.
Es geht damit weiter, dass Hans nach Hause kommt, in sein schönes, großes, hypothekenbeladenes Wohnmagazinmusterhaus, mit der Vorzeigegattin, den zwei Kindern, dass er mit seiner Frau schlafen möchte, auf der "viskoelastischen Nasa-Schaummatratze", und dass sie lieber lesen möchte. Es geht also nicht gut los, und das ist eine gute Nachricht, weil sie Temperament und Temperatur von Sonja Heiss' erstem Roman betrifft. Die Ehe als Nahkampfzone, die Familie als Anordnung im Stellungskrieg, die Generationen übergreifend - das mag martialisch klingen und ist dennoch nicht übertrieben, weil es viele Verwundungen sind, die Sonja Heiss' Figuren erleiden und einander zufügen, weniger mit Taten als durch Unterlassungen, eher mit Worten als mit Gebrüll.
Sonja Heiss ist 41 Jahre alt und gelernte Dokumentarfilmerin. Ihr Spielfilm "Hedi Schneider steckt fest", unter anderem produziert von Maren Ade, lief vor zwei Jahren im Kino. Er erzählte die Geschichte einer Frau, die von Angst- und Panikattacken heimgesucht wird, und davon, was das für ihre Familie bedeutet. Das war sehr ernst und sehr komisch und vor allem sehr genau beobachtet. Über "Rimini", den Roman, lässt sich dasselbe sagen. Es ist dabei auch nicht wichtig, wie hoch die autobiographischen Anteile sind in diesem Buch. Man könnte einfach, wie Oskar Roehler bei "Herkunft", sagen: "28,75 Prozent". Sonja Heiss hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass in "Hedi Schneider" eigene Erfahrungen mit Angstattacken eingegangen sind, in einem Interview aber zugleich deutlich gemacht, dass es langweilig gewesen wäre, wenn der Film bloß ihr eigenes Leben nachbuchstabiert hätte.
So ähnlich muss man sich das wohl auch bei "Rimini" vorstellen, wenn sie das Buch ihren beiden Familien widmet - und kann es dann dabei belassen. Der Roman hat keinen großen, aufregenden Plot, den braucht er auch nicht. Eine Bewegung durch die Zeit reicht ihm, es gibt Tod, Scheidung und ein gerissenes Kondom, wobei nie so genau bestimmbar ist, wohin der Weg führt, ob nur bis zum Rand des Abgrunds oder etwas weiter oder womöglich ein wenig auch hin zum Besseren.
Die einzelnen Kapitel sind mit sehr genauen Altersangaben betitelt, mit "39 Jahre, 1 Monat und 2 Tage" geht es los. So alt ist Masha, die nur sehr mäßig erfolgreiche Schauspielerin, die mit dem ",die war mal so toll'-Namen", die Schwester von Hans, dem gut situierten Anwalt. Die Zahlen sind die Markierungen auf der biologischen Uhr, die für sie unerbittlich läuft, weil sie nicht weiß, ob sie gerne ein Kind hätte; ob sie keines hat, weil sie den richtigen Mann nicht gefunden hat, oder ob sie ihn nicht finden wird, weil sie lieber doch kein Kind will. An dem, den sie hat, stören sie auf einmal der Geruch, das zu laute Schlucken beim Essen, das Deo. Dann wieder hadert sie mit sich: "Aber sie hatte ja wegen ein bisschen Mundgeruch ihr Leben zerstören müssen." Masha nervt unendlich in ihrer Unschlüssigkeit, und zugleich ist sie auch unendlich verloren.
Zu Masha und Hans und dessen Ehefrau Ellen kommen dann die Eltern, Barbara und Alexander, deren jahrzehntelange Ehe in eine gefährliche Schräglage gerät, nachdem sein Rentnerdasein begonnen hat. Er kann sie nicht in Ruhe lassen, weicht ihr wie ein Hund nicht von der Seite, muss noch durch die geschlossene Badezimmertür mit ihr reden. Er verhängt sogar eine Art Kontaktsperre zur Außenwelt, indem er Nachrichten auf dem Anrufbeantworter löscht, Postkarten im Keller versteckt, neben teuren Geschenken, die für sie gedacht waren. Er lebt in einer seltsamen Askese, deshalb nimmt er auch "seine schlechte Jacke vom Haken, die gute sparte er sich für Gelegenheiten auf, die sich niemals ergeben würden". Und als seine Frau sich tagelang ins Gästezimmerbett flüchtet, kauft er einen Wellensittich, der mit ihm reden soll und immerhin lernt, dass er "Bizzi" heißt.
Alles, was passiert, ist, wie man im Kino sagt, "character driven", allein aus Anziehung und Abstoßung zwischen den handelnden Personen entsteht Handlung. Hans lässt sich, um seine Ehe zu retten, von Ellen auf die Couch drängen, zu einer Analytikerin, deren Namen eine Alliteration mit hartem Klang bildet: Maria Mandel-Minkic. Doch es ist eher eine Selbsterkundungsverweigerung als eine Suche nach sich selbst. Seine Erinnerungen sind "wässrig", die Einwürfe von Frau Mandel-Minkic nicht gerade jargonfrei, wenn sie ihn auffordert, "hinter Ihre Gefühle zu gucken", was ihm nur die Antwort lässt: "Sie stehen vor mir wie ein Hochhaus." Doch so widerwillig Hans ist, er folgt brav Freuds Theorie der Übertragung, er spioniert der Analytikerin nach und glaubt sich verliebt. Dass es weder in seiner Ehe noch im Job noch mit seinen Wutanfällen aufwärts geht, kommentiert seine Frau unbarmherzig treffend: "Du kannst noch nicht mal eine Therapie machen, ohne dass irgendein Scheiß passiert."
Man möchte dauernd aus dem Roman zitieren, weil die Dialoge so perfekt sitzen, die Pointen und Formulierungen so beiläufig wie scharf auf den Punkt kommen. Sonja Heiss hat einen bewundernswert exakten Blick. Mikroskopisch genau, mit einem Gespür für die Untiefen und Absurditäten des Alltags, auf paradoxe Weise präzise, weil eben auch das Aneinander-vorbei-Reden sorgfältig komponiert sein will. "Barbara nippte an dem Bier, es war ihr zu kalt und zu bitter. Sie stand auf. ,Wo gehst du denn jetzt schon wieder hin?' - ,In den Keller, Wein holen.' - ,Ach, jetzt doch? Und was ist mit dem Bier?' - ,Kannst du doch trinken.' - ,Ich wollte nicht so viel Bier trinken.' - ,Dann schütten wir es halt weg.' - ,Du kannst doch nicht einfach eine ganze Flasche Bier wegschütten.'"
Aber was noch bemerkenswerter ist als die ausgewählten Peinlichkeiten, die kleinen Gemeinheiten, die abgründig-manischen Verhaltensweisen, die Macken und Obsessionen: dass nicht eine Sekunde, nicht einen Satz lang der Eindruck entsteht, hier mache sich jemand lustig. Die Erzählerin Sonja Heiss ist voller Empathie für ihre Figuren. Keine Verzweiflung kann so finster sein, dass nicht ein Funken Humor sie kurz aufhellen könnte; umgekehrt ist dieser trockene, bisweilen schmerzhafte Humor kein Versuch, die kleinen und größeren Traumata, die Nöte und Leiden ins Harmlose zu ziehen.
Dieser Roman, dessen Titel ein Geheimnis umschreibt, ist ein einziges großes Wiedererkennen, für jeden Leser. Aber das ist nicht dasselbe wie ein Spiegelbild, in dem man nur sieht, was man lange kennt. Indem Sonja Heiss diese Familiengeschichte szenisch und sprachlich so gekonnt verdichtet, wird jenes Mehr daraus, das Literatur ausmacht: Etwas sehen zu lassen, was man so zuvor nicht gesehen hat.
Wollte man aus "Rimini" so etwas wie eine Weltsicht extrapolieren, dann die, dass man die Menschen wohl nehmen muss, wie sie sind, dass einem das schrecklich, befremdlich oder niederschmetternd vorkommen mag, aber dass es, wenn man es nur in Perspektive rückt, einem zugleich sehr vertraut ist und daher auch weder Anlass zu düsteren anthropologischen Spekulationen noch zu unverwüstlichem Optimismus. Oder, mit einer dieser dämlichen Sentenzen, mit denen Alexander komplexe Sachverhalte gnadenlos auf Niedrigniveau herunterbricht und bei denen Hans "noch immer Gänsehaut auf den Oberarmen spross": Das kommt in den besten Familien vor. Und in allen anderen natürlich auch. Das ist wohl so.
PETER KÖRTE
Sonja Heiss: "Rimini". Roman. Kiepenheuer & Witsch, 400 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Liebe, Scheidung, Familie und einem gerissenen Kondom: "Rimini", der erste Roman der Filmregisseurin Sonja Heiss, ist ernst, komisch und vor allem sehr genau beobachtet
Es fängt damit an, dass Hans einen Kugelschreiber zerbricht. Einen geliehenen Kugelschreiber. Im Verhandlungsraum eines Gerichts. Die Wut will raus. "Er musste zerbrochen werden. Er wollte zerbrochen werden." Den schönen "Scholting, von Giersberg, Grüben, Schulz und Altmann-Bleistift" hat er zuvor schon zerbrochen. Die Verhandlung wird kurz darauf geschlossen, der Anwaltskollege ist unbegreiflich wütend über den Verlust des Billigschreibgeräts.
Es geht damit weiter, dass Hans nach Hause kommt, in sein schönes, großes, hypothekenbeladenes Wohnmagazinmusterhaus, mit der Vorzeigegattin, den zwei Kindern, dass er mit seiner Frau schlafen möchte, auf der "viskoelastischen Nasa-Schaummatratze", und dass sie lieber lesen möchte. Es geht also nicht gut los, und das ist eine gute Nachricht, weil sie Temperament und Temperatur von Sonja Heiss' erstem Roman betrifft. Die Ehe als Nahkampfzone, die Familie als Anordnung im Stellungskrieg, die Generationen übergreifend - das mag martialisch klingen und ist dennoch nicht übertrieben, weil es viele Verwundungen sind, die Sonja Heiss' Figuren erleiden und einander zufügen, weniger mit Taten als durch Unterlassungen, eher mit Worten als mit Gebrüll.
Sonja Heiss ist 41 Jahre alt und gelernte Dokumentarfilmerin. Ihr Spielfilm "Hedi Schneider steckt fest", unter anderem produziert von Maren Ade, lief vor zwei Jahren im Kino. Er erzählte die Geschichte einer Frau, die von Angst- und Panikattacken heimgesucht wird, und davon, was das für ihre Familie bedeutet. Das war sehr ernst und sehr komisch und vor allem sehr genau beobachtet. Über "Rimini", den Roman, lässt sich dasselbe sagen. Es ist dabei auch nicht wichtig, wie hoch die autobiographischen Anteile sind in diesem Buch. Man könnte einfach, wie Oskar Roehler bei "Herkunft", sagen: "28,75 Prozent". Sonja Heiss hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass in "Hedi Schneider" eigene Erfahrungen mit Angstattacken eingegangen sind, in einem Interview aber zugleich deutlich gemacht, dass es langweilig gewesen wäre, wenn der Film bloß ihr eigenes Leben nachbuchstabiert hätte.
So ähnlich muss man sich das wohl auch bei "Rimini" vorstellen, wenn sie das Buch ihren beiden Familien widmet - und kann es dann dabei belassen. Der Roman hat keinen großen, aufregenden Plot, den braucht er auch nicht. Eine Bewegung durch die Zeit reicht ihm, es gibt Tod, Scheidung und ein gerissenes Kondom, wobei nie so genau bestimmbar ist, wohin der Weg führt, ob nur bis zum Rand des Abgrunds oder etwas weiter oder womöglich ein wenig auch hin zum Besseren.
Die einzelnen Kapitel sind mit sehr genauen Altersangaben betitelt, mit "39 Jahre, 1 Monat und 2 Tage" geht es los. So alt ist Masha, die nur sehr mäßig erfolgreiche Schauspielerin, die mit dem ",die war mal so toll'-Namen", die Schwester von Hans, dem gut situierten Anwalt. Die Zahlen sind die Markierungen auf der biologischen Uhr, die für sie unerbittlich läuft, weil sie nicht weiß, ob sie gerne ein Kind hätte; ob sie keines hat, weil sie den richtigen Mann nicht gefunden hat, oder ob sie ihn nicht finden wird, weil sie lieber doch kein Kind will. An dem, den sie hat, stören sie auf einmal der Geruch, das zu laute Schlucken beim Essen, das Deo. Dann wieder hadert sie mit sich: "Aber sie hatte ja wegen ein bisschen Mundgeruch ihr Leben zerstören müssen." Masha nervt unendlich in ihrer Unschlüssigkeit, und zugleich ist sie auch unendlich verloren.
Zu Masha und Hans und dessen Ehefrau Ellen kommen dann die Eltern, Barbara und Alexander, deren jahrzehntelange Ehe in eine gefährliche Schräglage gerät, nachdem sein Rentnerdasein begonnen hat. Er kann sie nicht in Ruhe lassen, weicht ihr wie ein Hund nicht von der Seite, muss noch durch die geschlossene Badezimmertür mit ihr reden. Er verhängt sogar eine Art Kontaktsperre zur Außenwelt, indem er Nachrichten auf dem Anrufbeantworter löscht, Postkarten im Keller versteckt, neben teuren Geschenken, die für sie gedacht waren. Er lebt in einer seltsamen Askese, deshalb nimmt er auch "seine schlechte Jacke vom Haken, die gute sparte er sich für Gelegenheiten auf, die sich niemals ergeben würden". Und als seine Frau sich tagelang ins Gästezimmerbett flüchtet, kauft er einen Wellensittich, der mit ihm reden soll und immerhin lernt, dass er "Bizzi" heißt.
Alles, was passiert, ist, wie man im Kino sagt, "character driven", allein aus Anziehung und Abstoßung zwischen den handelnden Personen entsteht Handlung. Hans lässt sich, um seine Ehe zu retten, von Ellen auf die Couch drängen, zu einer Analytikerin, deren Namen eine Alliteration mit hartem Klang bildet: Maria Mandel-Minkic. Doch es ist eher eine Selbsterkundungsverweigerung als eine Suche nach sich selbst. Seine Erinnerungen sind "wässrig", die Einwürfe von Frau Mandel-Minkic nicht gerade jargonfrei, wenn sie ihn auffordert, "hinter Ihre Gefühle zu gucken", was ihm nur die Antwort lässt: "Sie stehen vor mir wie ein Hochhaus." Doch so widerwillig Hans ist, er folgt brav Freuds Theorie der Übertragung, er spioniert der Analytikerin nach und glaubt sich verliebt. Dass es weder in seiner Ehe noch im Job noch mit seinen Wutanfällen aufwärts geht, kommentiert seine Frau unbarmherzig treffend: "Du kannst noch nicht mal eine Therapie machen, ohne dass irgendein Scheiß passiert."
Man möchte dauernd aus dem Roman zitieren, weil die Dialoge so perfekt sitzen, die Pointen und Formulierungen so beiläufig wie scharf auf den Punkt kommen. Sonja Heiss hat einen bewundernswert exakten Blick. Mikroskopisch genau, mit einem Gespür für die Untiefen und Absurditäten des Alltags, auf paradoxe Weise präzise, weil eben auch das Aneinander-vorbei-Reden sorgfältig komponiert sein will. "Barbara nippte an dem Bier, es war ihr zu kalt und zu bitter. Sie stand auf. ,Wo gehst du denn jetzt schon wieder hin?' - ,In den Keller, Wein holen.' - ,Ach, jetzt doch? Und was ist mit dem Bier?' - ,Kannst du doch trinken.' - ,Ich wollte nicht so viel Bier trinken.' - ,Dann schütten wir es halt weg.' - ,Du kannst doch nicht einfach eine ganze Flasche Bier wegschütten.'"
Aber was noch bemerkenswerter ist als die ausgewählten Peinlichkeiten, die kleinen Gemeinheiten, die abgründig-manischen Verhaltensweisen, die Macken und Obsessionen: dass nicht eine Sekunde, nicht einen Satz lang der Eindruck entsteht, hier mache sich jemand lustig. Die Erzählerin Sonja Heiss ist voller Empathie für ihre Figuren. Keine Verzweiflung kann so finster sein, dass nicht ein Funken Humor sie kurz aufhellen könnte; umgekehrt ist dieser trockene, bisweilen schmerzhafte Humor kein Versuch, die kleinen und größeren Traumata, die Nöte und Leiden ins Harmlose zu ziehen.
Dieser Roman, dessen Titel ein Geheimnis umschreibt, ist ein einziges großes Wiedererkennen, für jeden Leser. Aber das ist nicht dasselbe wie ein Spiegelbild, in dem man nur sieht, was man lange kennt. Indem Sonja Heiss diese Familiengeschichte szenisch und sprachlich so gekonnt verdichtet, wird jenes Mehr daraus, das Literatur ausmacht: Etwas sehen zu lassen, was man so zuvor nicht gesehen hat.
Wollte man aus "Rimini" so etwas wie eine Weltsicht extrapolieren, dann die, dass man die Menschen wohl nehmen muss, wie sie sind, dass einem das schrecklich, befremdlich oder niederschmetternd vorkommen mag, aber dass es, wenn man es nur in Perspektive rückt, einem zugleich sehr vertraut ist und daher auch weder Anlass zu düsteren anthropologischen Spekulationen noch zu unverwüstlichem Optimismus. Oder, mit einer dieser dämlichen Sentenzen, mit denen Alexander komplexe Sachverhalte gnadenlos auf Niedrigniveau herunterbricht und bei denen Hans "noch immer Gänsehaut auf den Oberarmen spross": Das kommt in den besten Familien vor. Und in allen anderen natürlich auch. Das ist wohl so.
PETER KÖRTE
Sonja Heiss: "Rimini". Roman. Kiepenheuer & Witsch, 400 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche ZeitungRomantisches Mineralwasser und Verrenkungskünstler
In „Rimini“ von Sonja Heiss ist ein Wellensittich hilfreicher als eine Psychoanalytikerin. Ein Familienroman über verfehlte Lebensziele
Der schönste Moment in Barbaras Leben findet in einem schäbigen Hinterzimmer statt und dauert nur wenige Minuten. Sie schläft mit einem hübschen Kellner, der ihr am Tag zuvor ein Mineralwasser ausgegeben hat. Das alles passiert während ihrer Hochzeitsreise mit Alexander in einem Hotel in Rimini. Es wird das einzige Mal bleiben, dass sie sich für das Abenteuer entscheidet und erahnt, welche Möglichkeiten jenseits ihres durchschnittsdeutschen Lebens auf sie warten. Die Einmaligkeit hat aber auch ihr Gutes, die Erinnerung an Giovanni ist ein vollkommener Rückzugsort, über den der Rest ihrer Familie nicht verfügt.
Sonja Heiss hat mit „Rimini“ einen Roman geschrieben, der realistisch von den Ernüchterungen des Lebens und des Liebens handelt. Endlich im Ruhestand wünscht sich Alexander nichts sehnlicher, als Zeit mit seiner geliebten Barbara zu verbringen. Die hat ihn aber nur geheiratet, weil sie damals von ihrer tyrannischen Mutter loskommen wollte, und ist im Rentenalter zusehends von seiner Anhänglichkeit genervt. Auch Sohn Hans geht es miserabel: Der kindliche Jähzorn des Juristen verprellt seine Mandanten und zerstört seine Ehe. Tochter Masha realisiert mit Ende 30, dass aus ihr keine berühmte Schauspielerin mehr werden wird. Sie wünscht sich stattdessen ein Kind, entwickelt aber zur gleichen Zeit eine körperliche Abneigung gegen ihren Freund.
Beim Lesen des Romans hat man automatisch den Song „Was hat dich bloß so ruiniert“ von der Band Die Sterne im Kopf: „Warst du nicht fett und rosig / Warst du nicht glücklich / Bis auf die Beschwerlichkeiten / Mit den anderen Kindern streiten / Mit Papa und Mama / Wo fing es an und wann / Was hat dich irritiert...“ Denn nach objektiven Maßstäben geht es Familie Armin nicht schlecht, sie hat keine Schicksalsschläge erlitten – aber weh tut es trotzdem, wenn sich die Lebensziele der vier eines Tages gnadenlos gegen sie selbst wenden.
Mit psychologischer Raffinesse schildert Sonja Heiss abwechselnd anhand ihrer vier Hauptfiguren, was gesellschaftliche Erwartungen auslösen können. Da wäre der Leistungsdruck: Hans wächst die Arbeit als Anwalt über den Kopf und er steigert sich in eine Wutspirale hinein. Dann die Selbstoptimierung: Um wenigstens von der Werbebranche engagiert zu werden, lässt Masha sich die Falten wegspritzen. Und traditionelle Rollenmuster: Wenn Alexander den Boss über Heizkosten und Auswärtsdinner mimt, wird Barbara zum unmündigen Kind, das durch depressive Schlafanfälle dann aber doch die Oberhand gewinnt. Hans leidet unter seiner Rolle als Ernährer, während seine Frau damit kämpft, dass sie nach der Geburt von zwei Kindern vor allem Mutter ist. Bei festgefahrenen Situationen wie diesen hilft manchmal nur ein Neuanfang.
Sonja Heiss hat das Geschichtenerzählen im Filmbereich gelernt, und das merkt man dem tragikomischen Roman auch an, der abwechslungsreich, szenisch und in einer schnörkellosen, klaren Sprache verfasst ist. Bei ihrem jüngsten Film „Hedi Schneider steckt fest“ schrieb sie das Drehbuch und führte Regie. Er lief 2015 auf der Berlinale und handelt von einer Frau Mitte 30, deren Leben durch plötzlich auftretende Panikattacken durcheinander gerät. Auch „Rimini“ steckt voll von liebenswerten Charakteren und pointierten Dialogen. Besonders gut ist der Autorin der Schlagabtausch zwischen dem zynischen Hans und seiner Psychoanalytikerin gelungen. Die zahlreichen originellen Einfälle im Roman sind für eine Verfilmung wie gemacht: Masha sucht ausgerechnet an dem Tag eine Abtreibungsklinik auf, als davor eine Gruppe Abtreibungsgegner protestiert. Der von seiner Frau zurückgewiesene Alexander findet schlussendlich bei einem sprechenden Wellensittich Trost.
Neben ihrem Talent für die Absurditäten des Alltags verfügt Sonja Heiss über eine andere weitaus seltenere Gabe: Die von ihr geschriebenen Sexszenen zwischen Masha und den potenziellen Vätern des Wunschkindes sind niemals peinlich, sondern amüsant und realistisch dargestellt. Daran können nicht einmal Körperausdünstungen, eine Erwachsenenzahnspange und Möchtegern-Sadomaso etwas ändern. Sie lassen einen nur um so stärker mit den Verrenkungskünstlern mitfühlen.
ANNA FASTABEND
Sonja Heiss: Rimini. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 400 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Die Autorin hat das Erzählen
beim Film gelernt
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In „Rimini“ von Sonja Heiss ist ein Wellensittich hilfreicher als eine Psychoanalytikerin. Ein Familienroman über verfehlte Lebensziele
Der schönste Moment in Barbaras Leben findet in einem schäbigen Hinterzimmer statt und dauert nur wenige Minuten. Sie schläft mit einem hübschen Kellner, der ihr am Tag zuvor ein Mineralwasser ausgegeben hat. Das alles passiert während ihrer Hochzeitsreise mit Alexander in einem Hotel in Rimini. Es wird das einzige Mal bleiben, dass sie sich für das Abenteuer entscheidet und erahnt, welche Möglichkeiten jenseits ihres durchschnittsdeutschen Lebens auf sie warten. Die Einmaligkeit hat aber auch ihr Gutes, die Erinnerung an Giovanni ist ein vollkommener Rückzugsort, über den der Rest ihrer Familie nicht verfügt.
Sonja Heiss hat mit „Rimini“ einen Roman geschrieben, der realistisch von den Ernüchterungen des Lebens und des Liebens handelt. Endlich im Ruhestand wünscht sich Alexander nichts sehnlicher, als Zeit mit seiner geliebten Barbara zu verbringen. Die hat ihn aber nur geheiratet, weil sie damals von ihrer tyrannischen Mutter loskommen wollte, und ist im Rentenalter zusehends von seiner Anhänglichkeit genervt. Auch Sohn Hans geht es miserabel: Der kindliche Jähzorn des Juristen verprellt seine Mandanten und zerstört seine Ehe. Tochter Masha realisiert mit Ende 30, dass aus ihr keine berühmte Schauspielerin mehr werden wird. Sie wünscht sich stattdessen ein Kind, entwickelt aber zur gleichen Zeit eine körperliche Abneigung gegen ihren Freund.
Beim Lesen des Romans hat man automatisch den Song „Was hat dich bloß so ruiniert“ von der Band Die Sterne im Kopf: „Warst du nicht fett und rosig / Warst du nicht glücklich / Bis auf die Beschwerlichkeiten / Mit den anderen Kindern streiten / Mit Papa und Mama / Wo fing es an und wann / Was hat dich irritiert...“ Denn nach objektiven Maßstäben geht es Familie Armin nicht schlecht, sie hat keine Schicksalsschläge erlitten – aber weh tut es trotzdem, wenn sich die Lebensziele der vier eines Tages gnadenlos gegen sie selbst wenden.
Mit psychologischer Raffinesse schildert Sonja Heiss abwechselnd anhand ihrer vier Hauptfiguren, was gesellschaftliche Erwartungen auslösen können. Da wäre der Leistungsdruck: Hans wächst die Arbeit als Anwalt über den Kopf und er steigert sich in eine Wutspirale hinein. Dann die Selbstoptimierung: Um wenigstens von der Werbebranche engagiert zu werden, lässt Masha sich die Falten wegspritzen. Und traditionelle Rollenmuster: Wenn Alexander den Boss über Heizkosten und Auswärtsdinner mimt, wird Barbara zum unmündigen Kind, das durch depressive Schlafanfälle dann aber doch die Oberhand gewinnt. Hans leidet unter seiner Rolle als Ernährer, während seine Frau damit kämpft, dass sie nach der Geburt von zwei Kindern vor allem Mutter ist. Bei festgefahrenen Situationen wie diesen hilft manchmal nur ein Neuanfang.
Sonja Heiss hat das Geschichtenerzählen im Filmbereich gelernt, und das merkt man dem tragikomischen Roman auch an, der abwechslungsreich, szenisch und in einer schnörkellosen, klaren Sprache verfasst ist. Bei ihrem jüngsten Film „Hedi Schneider steckt fest“ schrieb sie das Drehbuch und führte Regie. Er lief 2015 auf der Berlinale und handelt von einer Frau Mitte 30, deren Leben durch plötzlich auftretende Panikattacken durcheinander gerät. Auch „Rimini“ steckt voll von liebenswerten Charakteren und pointierten Dialogen. Besonders gut ist der Autorin der Schlagabtausch zwischen dem zynischen Hans und seiner Psychoanalytikerin gelungen. Die zahlreichen originellen Einfälle im Roman sind für eine Verfilmung wie gemacht: Masha sucht ausgerechnet an dem Tag eine Abtreibungsklinik auf, als davor eine Gruppe Abtreibungsgegner protestiert. Der von seiner Frau zurückgewiesene Alexander findet schlussendlich bei einem sprechenden Wellensittich Trost.
Neben ihrem Talent für die Absurditäten des Alltags verfügt Sonja Heiss über eine andere weitaus seltenere Gabe: Die von ihr geschriebenen Sexszenen zwischen Masha und den potenziellen Vätern des Wunschkindes sind niemals peinlich, sondern amüsant und realistisch dargestellt. Daran können nicht einmal Körperausdünstungen, eine Erwachsenenzahnspange und Möchtegern-Sadomaso etwas ändern. Sie lassen einen nur um so stärker mit den Verrenkungskünstlern mitfühlen.
ANNA FASTABEND
Sonja Heiss: Rimini. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 400 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Die Autorin hat das Erzählen
beim Film gelernt
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de