Der einzige Mensch, den er geliebt hat und der seinen Aufstieg hätte verhindern können, liegt bei San Remo auf dem Meeresgrund: Tom Ripley hat sich zum souveränen Verbrecher gemausert, der seinen Untaten das Flair französischer Lebensart zu verleihen weiß. Mit seiner Frau Heloise lebt er ein sorgenfreies Luxusleben bei Paris und handelt nebenbei mit berühmten Gemälden - nicht nur aus Liebhaberei. Als ein Kunstsammler die Gemälde als Fälschung entlarvt, beginnt Ripley ein vampirisches Spiel mit anderen Existenzen, um seine schöne Welt - und seinen Kopf - zu retten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002Das ganze Leben zwischen zwei Schnappschüssen
Blitz vor dem Ende: Neue Geschichten und alte Bekannte in Patricia Highsmiths Werkausgabe / Von Tilman Spreckelsen
Wie fühlt sich das Sterben an? "Plötzlich war es aus mit ihm, er verlor sich im Nichts. Es war, als ob ein Berg auf ihn gestürzt wäre, eine Steinlawine, die ihn unter sich begrub und jede Regung lähmte. Dabei war es doch nur ein einzelner Mann, der auf ihn einschlug. Das war sein letzter Gedanke. Der Rest zerfloß in Traumgesichten und einem kaum hingehauchten Fluch."
Die Ermordung des Gelegenheitserpressers Kenneth Rowajinski in Patricia Highsmiths Roman "Lösegeld für einen Hund" ist nur einer von unzähligen Versuchen der Autorin, den Moment des Todes festzuhalten. Nicht immer läuft es dabei auf ein gewaltsames Ende hinaus, manchen Figuren gönnt sie ein langsames Sterben im Krankenbett: "Im Zeitraffer sah Mrs. Palmer ihr ganzes Leben an sich vorübergleiten - die sorglose Kindheit und Jugend, die glücklichen Jahre ihrer Ehe, das Herzeleid, als ihr anderer Sohn im Alter von zehn Jahren gestorben war, die Trauer über den Tod ihres Mannes vor acht Jahren - und doch war es alles in allem ein erfülltes Leben gewesen, auch wenn sie sich vielleicht ein besseres Naturell gewünscht hätte und gern tugendhafter gewesen wäre, nie aufbrausend und egoistisch zum Beispiel. Das war nun alles vorbei, doch zurück blieb ein Gefühl von Fehlerhaftigkeit und Schwäche" - und so stirbt Mrs. Palmer noch eine ganze Weile weiter.
Leicht aber wird auch ihr der Tod nicht. An ihre Krankenpflegerin, die gierige Mrs. Blynn, knüpft sie trübe Gedanken über fehlende "Güte und Nächstenliebe" zwischen den Menschen: "Das Leben, dachte Mrs. Palmer, ist eine lange Kette von Mißverständnissen, eine lange Irrfahrt einander verschlossener Herzen." Der Moment des Todes ist ein Moment der völligen Desillusionierung und ein Moment der Niederlage: "Mrs. Palmers Lider schlossen sich, und das letzte, was sie sah, waren Mrs. Blynns glasige wachsame Augen."
Sosehr sich die letzten Momente im Leben von Kenneth Rowajinski und Mrs. Palmer unterscheiden, verbindet diese beiden Tode doch die Erzählperspektive - sie werden jeweils aus dem Blickwinkel des Sterbenden geschildert. Es ist sein subjektives Erleben, das Highsmith interessiert, viel mehr als der Mord oder die Krankheit, und der Versuch, dieses eigentlich Unerzählbare in Worte zu kleiden, zieht sich als ein verborgener roter Faden durch ihr Werk.
Im Zuge einer großangelegten neuen Ausgabe ihrer Romane und Erzählungen sind im letzten Frühjahr aus dem Nachlaß Patricia Highsmiths vierzehn unveröffentlichte oder wenig bekannte Kurzgeschichten in dem Band "Die stille Mitte der Welt" erschienen, die zwischen 1938 und 1949 entstanden sind (F.A.Z. vom 4. Mai). Nun versammelt ein zweiter Nachlaßband unter dem Titel "Die Augen der Mrs. Blynn" eine Reihe von Erzählungen aus den Jahren 1952 bis 1980, von denen nur wenige - die schwächeren - ohne einen Mord, Selbstmord oder natürlichen Todesfall auskommen. Auch hier gilt Highsmiths Bemühen meist den letzten Augenblicken im Leben ihrer Figuren; auf diesen Moment läuft alles zu, er faßt die Entwicklung der vorangehenden Seiten zusammen.
Da ist etwa in der Erzählung "Nichts Auffallendes" die fünfundvierzigjährige Buchhändlerin Helene, die in einen Skiurlaubsort reist, um ihr ereignisloses Leben zu beenden. Zum erstenmal, so scheint es, erfährt sie hier größere Beachtung: Sie verdreht ungewollt einem Zwanzigjährigen den Kopf, der sich ihretwegen sogar umbringen will, in der Hotelbar ist sie der umschwärmte Mittelpunkt, kaum einmal lassen sie die anderen Urlauber aus den Augen. Ist es ihr vollkommenes Desinteresse an Eroberungen, ist es ihre Entschlossenheit, die sie so unwiderstehlich macht? Die Aufmerksamkeit, die ihr so urplötzlich gilt, hält sie jedenfalls nicht von ihrem Vorsatz ab. Helene stürzt sich einen Berg hinunter, und wieder gilt Highsmiths ganzes Interesse diesem einen Moment, in dem ein Leben endet.
Sie dehnt ihn, indem sie in den kurzen Fall eine lange Lebensvision montiert, gleichzeitig aber mit dem Hinweis auf das vertraute, schnell aufeinanderfolgende Geräusch eines Kameraauslösers wiederum den - gemessen an der verstrichenen Zeit - raschen Fall verdeutlicht: "Obwohl sie im Sturzflug hinabsauste, fühlte sie sich schwerelos, körperlos. Sie sah ihr ganzes Leben vorbeiziehen, von der blondgelockten Kindheit über ihre Studienjahre, die Ehe und deren allmähliches Scheitern bis zu den letzten Etappen ihres Lebens in München . . . aber alles ging so rasch, daß es eine einzige Panoramaaufnahme hätte sein können, ein Schnappschuß . . . klick! Und alles in allem, dachte sie, war das Leben gar nicht so schlecht. Das war ihr letzter Gedanke, bevor es endgültig klick! machte und finster wurde."
Es sind häufig eher konventionelle Todesvisionen, die Highsmith in den Erzählungen dieses Bandes entwirft, allen voran das tradierte Motiv des im Zeitraffer rekapitulierten Lebens - nur wenige sind von jener lakonischen Eindringlichkeit wie die Schilderung von Kenneth Rowajinskis letzten Atemzügen. Dennoch liegt in der auffälligen Konzentration auf den einzelnen Moment (oder eine Reihe von Momenten), hinter dem der eigentliche Plot zurücktritt, eine Qualität, die man von Highsmiths großen Romanen kennt (und die ihnen eine irritierende, eigentlich genuin lyrische Eigenschaft verleiht): In Erinnerung bleibt nicht der Handlungsverlauf, sondern das einzelne Bild, nicht der Irrflug durch London in "Das mürrische Taubenpaar", sondern der plötzliche Angriff der Vögel auf einen Säugling, bei dem dieser ein Auge verliert. Denn auch darin beweisen die Erzählungen eine verblüffende Verwandtschaft mit dem übrigen Werk der Autorin: Highsmith ist besessen von dem Moment, in dem sich Gewalt - begründet oder scheinbar unmotiviert - plötzlich Bahn bricht. Die Suche nach dem eigenen Motiv für den Mord an seiner Frau Lee beschäftigt auch den Bildhauer Robert Lottman, und den gesamten Verlauf der Erzählung "Ein Mord" über gelingt es ihm nur ansatzweise, das komplizierte Verhältnis zu analysieren. Am Ende rennt er gegen die Gefängnismauer, und wieder kommt es im letzten Moment des selbstgeendeten Lebens zu einer plötzlichen Sinnstiftung: "Mit all der Kraft, die er je in seine Arbeit gesteckt hatte, und mit der Blitzvision einer Plastik von Lee - besser als alle, die ihm je gelungen waren - knallte sein Kopf gegen die Wand."
Die Frage, wie es jeweils zum Dammbruch der Gewaltausübung kommt, ist das eigentliche Thema vieler Erzählungen und einiger Romane. Dies gilt in besonderem Maß für die drei neuübersetzten Romane Highsmiths, die jetzt gemeinsam mit dem Erzählungsband erschienen sind (so daß von der auf zweiunddreißig Bände angelegten Werkausgabe inzwischen ein Viertel vorliegt). Der Roman "Lösegeld für einen Hund" erzählt vom Abstieg des jungen, idealistischen Polizisten Clarence, der sich in seinem einsamen Kampf um Gerechtigkeit für die Welt und Anerkennung für sich hoffnungslos verstrickt, schließlich zum Mörder wird und selbst zu Tode kommt - auch seine letzten Atemzüge werden aus der Perspektive des Opfers geschildert.
Eine Moral, die eine Richtschnur für die Figuren liefern könnte, ist in diesem Roman nicht zu haben, und schon der Kampf, den Clarence stellvertretend für die Zivilgesellschaft gegen das Verbrechen zu führen glaubt, speist sich aus einem schwer zu sondernden Konglomerat aus persönlicher Frustration und Sendungsbewußtsein. Und stimmen ihm nicht alle, denen er sich nach der Tat offenbart, zu, daß es um das Mordopfer Kenneth Rowajinski nicht schade sei, daß der Erpresser, Hundemörder und Frauenbelästiger seinen Tod verdient habe? Daß in diesem Roman auch Polizisten bereitwillig und geradezu routiniert erpressen, belästigen und morden, fällt für Clarence nicht ins Gewicht, daß ihn die, für die er seine Tat verübte, am Ende aufgeben, dagegen schon.
"Ich habe weder das Gespür für Gut und Böse noch das Wissen darum, und nicht nur habe ich das Gefühl für Gut und Böse verloren, sondern Gut und Böse existieren nicht", schrieb Patricia Highsmith 1955 in ihr Notizbuch. Da hatte sie gerade ihren großartigen Roman "Der talentierte Mr. Ripley" abgeschlossen, in dem es gleichfalls die Momente der plötzlich aufflammenden Gewalt sind, an denen sich das Schicksal des Helden entscheidet: die beiden Morde, die der Hochstapler Thomas Ripley begeht, und vor allem der, den er nicht begeht. Der 1955 im Original (und erst jetzt ungekürzt auf deutsch) erschienene Roman um einen Mörder, der den Platz seines Opfers einnimmt, lebt ganz von der Gestalt seines amoralischen Helden, der sein virtuoses Wechselspiel der Identitäten einigermaßen sicher inszeniert, aber dabei doch gerade so viele Schwächen zeigt, daß die Gefahr, in der er sich befindet, glaubhaft erscheint. Die Handlung spielt zwar in New York, in Italien, in Griechenland und in Frankreich, doch mit Landschaften hält sich der Erzähler nicht auf und beweist damit einen ähnlich selektiven Blick wie Ripley. Da verblaßt die Mittelmeerküste angesichts eines großen Blutflecks auf den Bootsplanken, und der prächtige venezianische Palast, in dem Tom schließlich wohnt, gibt nur den Hintergrund ab für die schmale Schachtel, die der Mörder überall mit sich führt und in der er eine Trophäe seines Opfers verborgen hält.
In dieser ökonomischen Auflösung der Romanhandlung in einzelne Momente und einzelne Bilder liegt nicht nur die ausgesprochen suggestive Atmosphäre des Buchs begründet - und dies entschieden mehr als im ersten Nachfolger, "Ripley Under Ground" von 1970 - , das erzählerische Verfahren bereitet auch die Umsetzung des Romans als Film vor.
Die gediegene Werkausgabe des Diogenes Verlags ist ein Akt der Gerechtigkeit, begangen an einer Autorin, die längst zum Klassiker geworden ist. Zwar erscheint nicht jede der jetzt ans Licht gekommenen Erzählungen unentbehrlich. Über den vielen ausgezeichneten Geschichten aber, die den Blick für die Eigenschaften der großen Romane schärfen und gleichzeitig eine erhebliche Eigenständigkeit beweisen, fällt dies kaum ins Gewicht. Die Prosa der Ripley-Romane jedenfalls ist makellos. In der neuen Übersetzung von Melanie Walz funkelt sie nun auch auf deutsch.
Patricia Highsmith: "Der talentierte Mr. Ripley". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Melanie Walz. 431 S., geb., 21,90 [Euro].
"Ripley Under Ground". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Melanie Walz. 445 S., geb., 21,90 [Euro].
"Lösegeld für einen Hund". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christa E. Seibicke. 425 S., geb., 21,90 [Euro].
"Die Augen der Mrs. Blynn". Stories. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christa E. Seibicke. 381 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Bände Diogenes Verlag, Zürich 2002. Jeweils mit einem Nachwort von Paul Ingendaay.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Blitz vor dem Ende: Neue Geschichten und alte Bekannte in Patricia Highsmiths Werkausgabe / Von Tilman Spreckelsen
Wie fühlt sich das Sterben an? "Plötzlich war es aus mit ihm, er verlor sich im Nichts. Es war, als ob ein Berg auf ihn gestürzt wäre, eine Steinlawine, die ihn unter sich begrub und jede Regung lähmte. Dabei war es doch nur ein einzelner Mann, der auf ihn einschlug. Das war sein letzter Gedanke. Der Rest zerfloß in Traumgesichten und einem kaum hingehauchten Fluch."
Die Ermordung des Gelegenheitserpressers Kenneth Rowajinski in Patricia Highsmiths Roman "Lösegeld für einen Hund" ist nur einer von unzähligen Versuchen der Autorin, den Moment des Todes festzuhalten. Nicht immer läuft es dabei auf ein gewaltsames Ende hinaus, manchen Figuren gönnt sie ein langsames Sterben im Krankenbett: "Im Zeitraffer sah Mrs. Palmer ihr ganzes Leben an sich vorübergleiten - die sorglose Kindheit und Jugend, die glücklichen Jahre ihrer Ehe, das Herzeleid, als ihr anderer Sohn im Alter von zehn Jahren gestorben war, die Trauer über den Tod ihres Mannes vor acht Jahren - und doch war es alles in allem ein erfülltes Leben gewesen, auch wenn sie sich vielleicht ein besseres Naturell gewünscht hätte und gern tugendhafter gewesen wäre, nie aufbrausend und egoistisch zum Beispiel. Das war nun alles vorbei, doch zurück blieb ein Gefühl von Fehlerhaftigkeit und Schwäche" - und so stirbt Mrs. Palmer noch eine ganze Weile weiter.
Leicht aber wird auch ihr der Tod nicht. An ihre Krankenpflegerin, die gierige Mrs. Blynn, knüpft sie trübe Gedanken über fehlende "Güte und Nächstenliebe" zwischen den Menschen: "Das Leben, dachte Mrs. Palmer, ist eine lange Kette von Mißverständnissen, eine lange Irrfahrt einander verschlossener Herzen." Der Moment des Todes ist ein Moment der völligen Desillusionierung und ein Moment der Niederlage: "Mrs. Palmers Lider schlossen sich, und das letzte, was sie sah, waren Mrs. Blynns glasige wachsame Augen."
Sosehr sich die letzten Momente im Leben von Kenneth Rowajinski und Mrs. Palmer unterscheiden, verbindet diese beiden Tode doch die Erzählperspektive - sie werden jeweils aus dem Blickwinkel des Sterbenden geschildert. Es ist sein subjektives Erleben, das Highsmith interessiert, viel mehr als der Mord oder die Krankheit, und der Versuch, dieses eigentlich Unerzählbare in Worte zu kleiden, zieht sich als ein verborgener roter Faden durch ihr Werk.
Im Zuge einer großangelegten neuen Ausgabe ihrer Romane und Erzählungen sind im letzten Frühjahr aus dem Nachlaß Patricia Highsmiths vierzehn unveröffentlichte oder wenig bekannte Kurzgeschichten in dem Band "Die stille Mitte der Welt" erschienen, die zwischen 1938 und 1949 entstanden sind (F.A.Z. vom 4. Mai). Nun versammelt ein zweiter Nachlaßband unter dem Titel "Die Augen der Mrs. Blynn" eine Reihe von Erzählungen aus den Jahren 1952 bis 1980, von denen nur wenige - die schwächeren - ohne einen Mord, Selbstmord oder natürlichen Todesfall auskommen. Auch hier gilt Highsmiths Bemühen meist den letzten Augenblicken im Leben ihrer Figuren; auf diesen Moment läuft alles zu, er faßt die Entwicklung der vorangehenden Seiten zusammen.
Da ist etwa in der Erzählung "Nichts Auffallendes" die fünfundvierzigjährige Buchhändlerin Helene, die in einen Skiurlaubsort reist, um ihr ereignisloses Leben zu beenden. Zum erstenmal, so scheint es, erfährt sie hier größere Beachtung: Sie verdreht ungewollt einem Zwanzigjährigen den Kopf, der sich ihretwegen sogar umbringen will, in der Hotelbar ist sie der umschwärmte Mittelpunkt, kaum einmal lassen sie die anderen Urlauber aus den Augen. Ist es ihr vollkommenes Desinteresse an Eroberungen, ist es ihre Entschlossenheit, die sie so unwiderstehlich macht? Die Aufmerksamkeit, die ihr so urplötzlich gilt, hält sie jedenfalls nicht von ihrem Vorsatz ab. Helene stürzt sich einen Berg hinunter, und wieder gilt Highsmiths ganzes Interesse diesem einen Moment, in dem ein Leben endet.
Sie dehnt ihn, indem sie in den kurzen Fall eine lange Lebensvision montiert, gleichzeitig aber mit dem Hinweis auf das vertraute, schnell aufeinanderfolgende Geräusch eines Kameraauslösers wiederum den - gemessen an der verstrichenen Zeit - raschen Fall verdeutlicht: "Obwohl sie im Sturzflug hinabsauste, fühlte sie sich schwerelos, körperlos. Sie sah ihr ganzes Leben vorbeiziehen, von der blondgelockten Kindheit über ihre Studienjahre, die Ehe und deren allmähliches Scheitern bis zu den letzten Etappen ihres Lebens in München . . . aber alles ging so rasch, daß es eine einzige Panoramaaufnahme hätte sein können, ein Schnappschuß . . . klick! Und alles in allem, dachte sie, war das Leben gar nicht so schlecht. Das war ihr letzter Gedanke, bevor es endgültig klick! machte und finster wurde."
Es sind häufig eher konventionelle Todesvisionen, die Highsmith in den Erzählungen dieses Bandes entwirft, allen voran das tradierte Motiv des im Zeitraffer rekapitulierten Lebens - nur wenige sind von jener lakonischen Eindringlichkeit wie die Schilderung von Kenneth Rowajinskis letzten Atemzügen. Dennoch liegt in der auffälligen Konzentration auf den einzelnen Moment (oder eine Reihe von Momenten), hinter dem der eigentliche Plot zurücktritt, eine Qualität, die man von Highsmiths großen Romanen kennt (und die ihnen eine irritierende, eigentlich genuin lyrische Eigenschaft verleiht): In Erinnerung bleibt nicht der Handlungsverlauf, sondern das einzelne Bild, nicht der Irrflug durch London in "Das mürrische Taubenpaar", sondern der plötzliche Angriff der Vögel auf einen Säugling, bei dem dieser ein Auge verliert. Denn auch darin beweisen die Erzählungen eine verblüffende Verwandtschaft mit dem übrigen Werk der Autorin: Highsmith ist besessen von dem Moment, in dem sich Gewalt - begründet oder scheinbar unmotiviert - plötzlich Bahn bricht. Die Suche nach dem eigenen Motiv für den Mord an seiner Frau Lee beschäftigt auch den Bildhauer Robert Lottman, und den gesamten Verlauf der Erzählung "Ein Mord" über gelingt es ihm nur ansatzweise, das komplizierte Verhältnis zu analysieren. Am Ende rennt er gegen die Gefängnismauer, und wieder kommt es im letzten Moment des selbstgeendeten Lebens zu einer plötzlichen Sinnstiftung: "Mit all der Kraft, die er je in seine Arbeit gesteckt hatte, und mit der Blitzvision einer Plastik von Lee - besser als alle, die ihm je gelungen waren - knallte sein Kopf gegen die Wand."
Die Frage, wie es jeweils zum Dammbruch der Gewaltausübung kommt, ist das eigentliche Thema vieler Erzählungen und einiger Romane. Dies gilt in besonderem Maß für die drei neuübersetzten Romane Highsmiths, die jetzt gemeinsam mit dem Erzählungsband erschienen sind (so daß von der auf zweiunddreißig Bände angelegten Werkausgabe inzwischen ein Viertel vorliegt). Der Roman "Lösegeld für einen Hund" erzählt vom Abstieg des jungen, idealistischen Polizisten Clarence, der sich in seinem einsamen Kampf um Gerechtigkeit für die Welt und Anerkennung für sich hoffnungslos verstrickt, schließlich zum Mörder wird und selbst zu Tode kommt - auch seine letzten Atemzüge werden aus der Perspektive des Opfers geschildert.
Eine Moral, die eine Richtschnur für die Figuren liefern könnte, ist in diesem Roman nicht zu haben, und schon der Kampf, den Clarence stellvertretend für die Zivilgesellschaft gegen das Verbrechen zu führen glaubt, speist sich aus einem schwer zu sondernden Konglomerat aus persönlicher Frustration und Sendungsbewußtsein. Und stimmen ihm nicht alle, denen er sich nach der Tat offenbart, zu, daß es um das Mordopfer Kenneth Rowajinski nicht schade sei, daß der Erpresser, Hundemörder und Frauenbelästiger seinen Tod verdient habe? Daß in diesem Roman auch Polizisten bereitwillig und geradezu routiniert erpressen, belästigen und morden, fällt für Clarence nicht ins Gewicht, daß ihn die, für die er seine Tat verübte, am Ende aufgeben, dagegen schon.
"Ich habe weder das Gespür für Gut und Böse noch das Wissen darum, und nicht nur habe ich das Gefühl für Gut und Böse verloren, sondern Gut und Böse existieren nicht", schrieb Patricia Highsmith 1955 in ihr Notizbuch. Da hatte sie gerade ihren großartigen Roman "Der talentierte Mr. Ripley" abgeschlossen, in dem es gleichfalls die Momente der plötzlich aufflammenden Gewalt sind, an denen sich das Schicksal des Helden entscheidet: die beiden Morde, die der Hochstapler Thomas Ripley begeht, und vor allem der, den er nicht begeht. Der 1955 im Original (und erst jetzt ungekürzt auf deutsch) erschienene Roman um einen Mörder, der den Platz seines Opfers einnimmt, lebt ganz von der Gestalt seines amoralischen Helden, der sein virtuoses Wechselspiel der Identitäten einigermaßen sicher inszeniert, aber dabei doch gerade so viele Schwächen zeigt, daß die Gefahr, in der er sich befindet, glaubhaft erscheint. Die Handlung spielt zwar in New York, in Italien, in Griechenland und in Frankreich, doch mit Landschaften hält sich der Erzähler nicht auf und beweist damit einen ähnlich selektiven Blick wie Ripley. Da verblaßt die Mittelmeerküste angesichts eines großen Blutflecks auf den Bootsplanken, und der prächtige venezianische Palast, in dem Tom schließlich wohnt, gibt nur den Hintergrund ab für die schmale Schachtel, die der Mörder überall mit sich führt und in der er eine Trophäe seines Opfers verborgen hält.
In dieser ökonomischen Auflösung der Romanhandlung in einzelne Momente und einzelne Bilder liegt nicht nur die ausgesprochen suggestive Atmosphäre des Buchs begründet - und dies entschieden mehr als im ersten Nachfolger, "Ripley Under Ground" von 1970 - , das erzählerische Verfahren bereitet auch die Umsetzung des Romans als Film vor.
Die gediegene Werkausgabe des Diogenes Verlags ist ein Akt der Gerechtigkeit, begangen an einer Autorin, die längst zum Klassiker geworden ist. Zwar erscheint nicht jede der jetzt ans Licht gekommenen Erzählungen unentbehrlich. Über den vielen ausgezeichneten Geschichten aber, die den Blick für die Eigenschaften der großen Romane schärfen und gleichzeitig eine erhebliche Eigenständigkeit beweisen, fällt dies kaum ins Gewicht. Die Prosa der Ripley-Romane jedenfalls ist makellos. In der neuen Übersetzung von Melanie Walz funkelt sie nun auch auf deutsch.
Patricia Highsmith: "Der talentierte Mr. Ripley". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Melanie Walz. 431 S., geb., 21,90 [Euro].
"Ripley Under Ground". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Melanie Walz. 445 S., geb., 21,90 [Euro].
"Lösegeld für einen Hund". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christa E. Seibicke. 425 S., geb., 21,90 [Euro].
"Die Augen der Mrs. Blynn". Stories. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christa E. Seibicke. 381 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Bände Diogenes Verlag, Zürich 2002. Jeweils mit einem Nachwort von Paul Ingendaay.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die amerikanische Schriftstellerin Patricia Highsmith hat mit ihrer Romanfigur Tom Ripley einen Mythos des Amoralischen geschaffen. Ripley gehört nicht nur die Sympathie der Autorin, sondern auch die unsere." (Süddeutsche Zeitung) "Tom Ripley ist, auf seine Art, ein Künstler oder vielmehr ein Philosoph, und darum kann ihn der aufgeklärte, intellektuelle Leser, der in der Regel über Kriminalromane die Nase rümpft, sympathisch und faszinierend finden. Ripley mordet nicht aus Neigung, sondern aus Notwendigkeit, als Antwort auf den Angriff seiner Umwelt. Die unheimliche Synthese aus Normalität und Andersartigkeit, aus Humanität und sadistischer Rachsucht, die Tom Ripley darstellt, scheint so unerschöpflich wie das Thema Mensch zu sein." (Die Weltwoche) "Der Sog zur Identifikation ist unwiderstehlich: Ripleys Welt, seine Wertmaßstäbe, seine Klischees werden zu denen des Lesers." (Der Spiegel)