Familienidylle, in der Lilly mit Erik und den Kindern lebt, gerät aus dem Gleichgewicht. Nicht nur ihr Ehemann erscheint Lilly zunehmend rätselhaft, auch die befreundeten Nachbarn auf der anderen Straßenseite bedrohen sie mit ihren Liebesfantasien. An einem Sommervormittag passiert es: Aus einem Moment der Hingabe entwickelt sich ein riskantes Versteckspiel, bei dem niemand weiß, auf welcher Seite er steht.
Alexa Hennig von Lange liefert ihre Helden einem Alptraum aus: Hinter der Freundes- und Familienkulisse tun sich die Abgründe einer unmoralisch verstrickten Wahlverwandtschaft auf. Die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit führt zur Zerstörung zweier Familien, bis sich am Ende die Kinder gegen die haltlosen Eltern zur Wehr setzen müssen. Was als harmlose Familiengeschichte beginnt, mündet in einen atemberaubend spannenden Showdown, in dem es um das nackte Überleben geht
Alexa Hennig von Lange liefert ihre Helden einem Alptraum aus: Hinter der Freundes- und Familienkulisse tun sich die Abgründe einer unmoralisch verstrickten Wahlverwandtschaft auf. Die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit führt zur Zerstörung zweier Familien, bis sich am Ende die Kinder gegen die haltlosen Eltern zur Wehr setzen müssen. Was als harmlose Familiengeschichte beginnt, mündet in einen atemberaubend spannenden Showdown, in dem es um das nackte Überleben geht
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2007Der reine Zufall
Alexa Henning von Lange demontiert das Familienleben
Gleich zu Beginn ein vorausdeutendes Kapitel: Greta und ihr Bruder Matti stehen an einem Steilhang. Sie sind erschöpft, hinter ihnen surren die Insekten des Waldes, aber vor ihnen liegt das Watt wie eine Verheißung. Alexa Henning von Lange hat die Kinder in eine augenscheinlich missliche Lage gebracht; doch welcher Art die genau ist, kann der Leser zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennen. Richtig spannend wird es erst, als die Handlung von vorne beginnt. Denn Greta und Matti wachsen behütet auf, haben liebevolle Eltern und auch ansonsten keinen Grund, allein durch Wälder zu laufen. In der Vorstadtidylle singt der Vater mit ihnen christliche Lieder, die Mutter macht belegte Brote, und auch die Nachbarn springen schon mal ein, wenn die Kinder zur Schule gebracht werden müssen.
Wie also kommt es zum unfreiwilligen Waldlauf? Diese Frage schärft von Anfang an die Sinne des Lesenden für eine Indiziensuche nach Abgründen in der heilen Welt. Alexa Henning von Lange hat zwar einen Teil der Spannung durch ihren Anfang genommen, doch sie hat sich dadurch auch vom Thriller wegbewegt und mehr Gewicht auf den psychologischen Aspekt gelegt. Die Marotten der Familie und der befreundeten Nachbarn sammeln sich zu einem blühenden Neurosengarten: Gretas und Mattis Vater Erik will seit einem Erlebnis im Nahen Osten, das nicht näher beschrieben wird, gegen Angriffe aller Art gerüstet sein. Deshalb mauert er die Kellerfenster zu, lehrt seine Kinder den Umgang mit einer Unterwasserharpune und macht täglich ein Überlebenstraining mit ihnen: um den Block joggen und verstecken in einem Brunnenschacht im Garten, mit der Stoppuhr in der Hand.
Kein Wunder, dass Greta auch schon leicht zwanghafte Züge zeigt und jeden Tag unmittelbar nach dem Aufstehen ihren Schreibtisch ordnet: Blöcke nach rechts, Radiergummis nach links. Ihre Mutter, die Stewardess Lilly, hängt immer wieder ihrer Jugendliebe zu Nachbar Helge nach, die vor wenigen Monaten heftig aufflammte. Der säuft mittlerweile deutlich zu viel und stellt Lilly dann plump hinterher: "Wollen wir das mal machen, dass du dich nackt auf den Küchentisch setzt?" Er ist allerdings mit Irene verheiratet, eindeutig die merkwürdigste Person von allen, jedoch nicht unrealistisch gezeichnet: Sie beschreibt gerne mit plastischer Wortwahl im Supermarkt ihre Zahnfleischverpflanzung, ist eine begeisterte Verfechterin von Permanent-Make-up, rasiert ihre Arme und ist stolz auf ihre mit Botox versetzte Gesichtscreme, denn "die hemmt die Mienentätigkeit".
Das alles wäre nicht weiter beunruhigend, wenn man nicht den Showdown erahnen würde, in dem zwei Kinder in ernster Gefahr sind. Die Spannung liegt in der Frage, wie es zu dieser Situation kommt. Alexa Henning von Lange gibt Hinweise, legt aber auch ein paar falsche Fährten und macht sich zusätzlich einen Spaß daraus, ständig die Erzählperspektive zu wechseln: Zwar ist sie stets allwissend, doch begleitet sie abwechselnd die Gedanken und Sehweisen der Figuren und dringt dort so tief ein, als handele es sich bei jedem Einzelnen um den Protagonisten. Wie ein Schmarotzer setzt sich das Bewusstsein von Erzähler und Leser mal bei diesem, mal bei jenem auf die Schulter und zapft sein Gehirn an - bis auf den Schluss, wo eine Information über den Verbleib des Aggressors die Dramatik vernichten würde.
Das alles wird verhandelt in einer unaufgeregten Sprache, überwiegend nicht aus einer Erzähler-, sondern aus wechselnder Figurenperspektive. Da wechseln dann saloppe, metaphorisch-blumenreiche und förmliche Ausdrucksweise miteinander ab. So glaubt sich Helge "im dicken, klebrigen Brei des Lebens, der von unten bereits am Topfboden anbrannte und zu stinken begann"; Erik stellt lakonisch fest: "Irene war bekloppt und hatte jeglichen Bezug zur Realität verloren."
Die Autorin hat den Albtraum einer verhängnisvollen Affäre mit einer zutiefst wertkonservativen Familiengeschichte verknüpft. Deren Figuren haben zwar alle mit sich zu kämpfen, sind einander jedoch in großer Liebe zugetan. Da macht es nichts, dass sie immer wunderlicher werden, Freundschaften zu zerbrechen drohen und die Nachbarskinder im Drogenrausch durchdrehen. Eine gewisse Grundstabilität ist immer vorhanden. Mit großem psychologischem Gespür hat Alexa Henning von Lange ihre Figurenkonstellation seziert. Dabei hat sie nicht nur die Schichten des Zusammenhalts freigelegt, sondern auch seine Gegenspieler: die alltäglichen Mechanismen des Zerfalls.
JULIA BÄHR
Alexa Henning von Lange: "Risiko". Roman. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2007. 252 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alexa Henning von Lange demontiert das Familienleben
Gleich zu Beginn ein vorausdeutendes Kapitel: Greta und ihr Bruder Matti stehen an einem Steilhang. Sie sind erschöpft, hinter ihnen surren die Insekten des Waldes, aber vor ihnen liegt das Watt wie eine Verheißung. Alexa Henning von Lange hat die Kinder in eine augenscheinlich missliche Lage gebracht; doch welcher Art die genau ist, kann der Leser zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennen. Richtig spannend wird es erst, als die Handlung von vorne beginnt. Denn Greta und Matti wachsen behütet auf, haben liebevolle Eltern und auch ansonsten keinen Grund, allein durch Wälder zu laufen. In der Vorstadtidylle singt der Vater mit ihnen christliche Lieder, die Mutter macht belegte Brote, und auch die Nachbarn springen schon mal ein, wenn die Kinder zur Schule gebracht werden müssen.
Wie also kommt es zum unfreiwilligen Waldlauf? Diese Frage schärft von Anfang an die Sinne des Lesenden für eine Indiziensuche nach Abgründen in der heilen Welt. Alexa Henning von Lange hat zwar einen Teil der Spannung durch ihren Anfang genommen, doch sie hat sich dadurch auch vom Thriller wegbewegt und mehr Gewicht auf den psychologischen Aspekt gelegt. Die Marotten der Familie und der befreundeten Nachbarn sammeln sich zu einem blühenden Neurosengarten: Gretas und Mattis Vater Erik will seit einem Erlebnis im Nahen Osten, das nicht näher beschrieben wird, gegen Angriffe aller Art gerüstet sein. Deshalb mauert er die Kellerfenster zu, lehrt seine Kinder den Umgang mit einer Unterwasserharpune und macht täglich ein Überlebenstraining mit ihnen: um den Block joggen und verstecken in einem Brunnenschacht im Garten, mit der Stoppuhr in der Hand.
Kein Wunder, dass Greta auch schon leicht zwanghafte Züge zeigt und jeden Tag unmittelbar nach dem Aufstehen ihren Schreibtisch ordnet: Blöcke nach rechts, Radiergummis nach links. Ihre Mutter, die Stewardess Lilly, hängt immer wieder ihrer Jugendliebe zu Nachbar Helge nach, die vor wenigen Monaten heftig aufflammte. Der säuft mittlerweile deutlich zu viel und stellt Lilly dann plump hinterher: "Wollen wir das mal machen, dass du dich nackt auf den Küchentisch setzt?" Er ist allerdings mit Irene verheiratet, eindeutig die merkwürdigste Person von allen, jedoch nicht unrealistisch gezeichnet: Sie beschreibt gerne mit plastischer Wortwahl im Supermarkt ihre Zahnfleischverpflanzung, ist eine begeisterte Verfechterin von Permanent-Make-up, rasiert ihre Arme und ist stolz auf ihre mit Botox versetzte Gesichtscreme, denn "die hemmt die Mienentätigkeit".
Das alles wäre nicht weiter beunruhigend, wenn man nicht den Showdown erahnen würde, in dem zwei Kinder in ernster Gefahr sind. Die Spannung liegt in der Frage, wie es zu dieser Situation kommt. Alexa Henning von Lange gibt Hinweise, legt aber auch ein paar falsche Fährten und macht sich zusätzlich einen Spaß daraus, ständig die Erzählperspektive zu wechseln: Zwar ist sie stets allwissend, doch begleitet sie abwechselnd die Gedanken und Sehweisen der Figuren und dringt dort so tief ein, als handele es sich bei jedem Einzelnen um den Protagonisten. Wie ein Schmarotzer setzt sich das Bewusstsein von Erzähler und Leser mal bei diesem, mal bei jenem auf die Schulter und zapft sein Gehirn an - bis auf den Schluss, wo eine Information über den Verbleib des Aggressors die Dramatik vernichten würde.
Das alles wird verhandelt in einer unaufgeregten Sprache, überwiegend nicht aus einer Erzähler-, sondern aus wechselnder Figurenperspektive. Da wechseln dann saloppe, metaphorisch-blumenreiche und förmliche Ausdrucksweise miteinander ab. So glaubt sich Helge "im dicken, klebrigen Brei des Lebens, der von unten bereits am Topfboden anbrannte und zu stinken begann"; Erik stellt lakonisch fest: "Irene war bekloppt und hatte jeglichen Bezug zur Realität verloren."
Die Autorin hat den Albtraum einer verhängnisvollen Affäre mit einer zutiefst wertkonservativen Familiengeschichte verknüpft. Deren Figuren haben zwar alle mit sich zu kämpfen, sind einander jedoch in großer Liebe zugetan. Da macht es nichts, dass sie immer wunderlicher werden, Freundschaften zu zerbrechen drohen und die Nachbarskinder im Drogenrausch durchdrehen. Eine gewisse Grundstabilität ist immer vorhanden. Mit großem psychologischem Gespür hat Alexa Henning von Lange ihre Figurenkonstellation seziert. Dabei hat sie nicht nur die Schichten des Zusammenhalts freigelegt, sondern auch seine Gegenspieler: die alltäglichen Mechanismen des Zerfalls.
JULIA BÄHR
Alexa Henning von Lange: "Risiko". Roman. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2007. 252 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Katharina Rutschky ist recht angetan von diesem Thriller um ein untreues Ehepaar - trotz des offensichtlichen "Konservatismus" der Autorin Alexa Hennig von Lange. Ihr gefällt, dass das Ende bei der gesamten Lektüre eine völlige Überraschung bleibt und die beiden Hauptfiguren ihr Geschlecht in gewisser Weise als klischeehafte "Karikatur" repräsentieren und dabei ganz und gar nicht schmeichelhaft wegkommen. Darüber hinaus zeigt Hennig von Lange Rutschkys Meinung nach auch mit diesem Roman wieder ihr Talent für "scharfe Analyse des Innenlebens von Kindern und Teenagern".
© Perlentaucher Medien GmbH
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