Der Traum von der Postmoderne ist endgültig ausgeträumt: Das Leben im 21. Jahrhundert wird nicht immer bequemer, lässiger, freier, sondern anstrengender. Das liegt weniger an Terrorgefahr und neuen Kriegen als an jenen Spannungslinien, die wir im Innenraum unserer Gesellschaft verspüren - und selber produzieren: von der demographischen Krise zur Massenarbeitslosigkeit, von der Bildungsmisere bis zur Scheu vor Innovationen. Staunend stellen wir fest, daß anderswo - von China über Osteuropa bis Nordamerika - jene Moderne weiter vorwärtsdrängt, die wir in Deutschland immer wieder einzuhegen und stillzulegen versucht haben. Aber klar ist heute auch: Die Dynamik dieser Moderne führt nicht in das konfliktfreie Paradies. Wohlstand und Risiko gehören mehr denn je zusammen - das ist das Kennzeichen der "riskanten Moderne". Paul Nolte, der sich mit Generation Reform als einer der wichtigsten Vordenker des gesellschaftlichen Wandels in Deutschland etabliert hat, analysiert die Wege und Irrwege einer Gesellschaft, die auf praktisch allen Feldern ihr Handeln einer veränderten Realität anpassen muß - im Verhältnis der sozialen Klassen, der Generationen und der Geschlechter zueinander ebenso wie in den globalisierten Strukturen von Kapitalismus, Erwerbsarbeit und Mobilität. Sein Konzept der Investiven Gesellschaft stellt auch eine neue Ordnung der Werte jenseits des Konsums zur Diskussion. Es bietet Stoff für die dringend notwendige intellektuelle Debatte über die langfristigen Ziele unserer Gesellschaft.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2006Gib Gas Bürger, vergiß dein Nutellabrot
Paul Nolte findet es gar nicht gut, wenn weiter auf der Rückbank gelümmelt wird / Von Andreas Rosenfelder
Einen besseren Werbepartner als Paul Nolte hätte sich die Moderne nicht wünschen können. Wenn ausgerechnet ein Historiker seine Hand ins Feuer legt für eine Epoche, die im Namen des Neuen nicht zuletzt die historische Deckung aufgibt, dann kann diese Epoche so gefährlich nicht sein - selbst wenn Nolte sein Buch "Riskante Moderne" nennt, als wolle er das Klischee des bloß mit dem Staub der Jahrhunderte vertrauten Geschichtswissenschaftlers zerstreuen und die Spielernatur seiner mit Prognosen üblicherweise zurückhaltenden Zunft anstacheln.
Ein Historiker, der für die sonst eher bei Soziologen und Philosophen beliebte Moderne wirbt - das wirkt halt ein wenig wie ein Naturfreund, der für den Bau neuer Autobahnen die Werbetrommel rührt. Tatsächlich ist Nolte kein Historist, der einfach dem Murmeln der Quellen lauscht. Nach seiner 2004 erschienenen "Generation Reform" legt der akademische Jungstar, soeben im Alter von zweiundvierzig Jahren an die Freie Universität in Berlin berufen, nun schon seine zweite Kampfschrift vor. Nach Noltes Auffassung machen offenbar nicht Treitschkes berühmte Männer, sondern interessierte Laien die Geschichte - wenn man ihnen nur eine griffige Anleitung gibt.
In "Riskante Moderne" kleidet Nolte seinen Aufruf, sich am in Deutschland seit der Zeit um 1900 mit Mißtrauen beäugten Projekt der Moderne zu beteiligen, in immer neue Metaphern. Sie stammen fast nur aus der Sphäre des Personenverkehrs. Einmal vergleicht Nolte die Moderne mit einem nur noch vom Autopiloten gelenkten Flugzeug, das die Passagiere reihenweise via Fallschirm verlassen. An anderer Stelle verwandelt sich die Moderne in ein steuerloses Schiff, dessen Schicksal der Autor ebenfalls durch "Überbordspringer" gefährdet sieht. Auch auf der Straße kommt Nolte an, wenn er erklärt, es liege an uns, "ob wir das Steuer wieder in die Hand nehmen, Gaspedal und Bremse beeinflussen können, statt uns auf der Rückbank zu verkriechen und über den Lauf der Dinge zu klagen". Nur der Schienenverkehr fehlt - vielleicht gerade deshalb, weil die Leute, welche die als Politmetapher so beliebten Weichen stellen, eben gerade nicht im Führerhäuschen sitzen.
So sehr Noltes aus dem Alltagsleben gegriffene Beispiele einleuchten: Man kann schon ins Grübeln kommen, ob es wirklich nur die Wahl zwischen Kindersitz und Fahrersessel gibt, zwischen unwürdigem Zuschauen und dem beherzten Griff zum Steuerknüppel, der offenbar nur darauf wartet, vom Leser endlich in die Hand genommen zu werden. Niklas Luhmann fand für die Position des Soziologen das Bild des Krähennests: Der Ausguck auf einem Schiff fällt nicht mit dem Steuerstand zusammen. Dagegen erscheint die Moderne bei Paul Nolte bisweilen als eine ziemlich hemdsärmelige Mitmachaktion, die nur an der Bequemlichkeit der Deutschen scheitert.
Dabei geht es Nolte in seinem Buch keineswegs um eine Euphorie der Modernisierung -- im Gegenteil fällt für Jürgen Klinsmann nur eine spöttische Bemerkung ab. Mit den abenteuerlichen Erwartungen, die Ulrich Beck in seiner vor zwanzig Jahren erschienenen "Risikogesellschaft" an eine "zweite" Moderne knüpfte, hat der Theoretiker der neuen Bürgerlichkeit nichts mehr am Hut. Statt einer neuen Dynamik, so Nolte, habe sich im Privaten wie im Politischen eine "Aufschubmentalität" eingenistet. Und auch die Wahlfreiheit der Postmoderne bleibe ein leeres Versprechen, weil mit der "Hyper-Individualisierung", die sich in ewiger Pubertät und sozialer Bindungsangst niederschlage, ein Kult des Zögerns, der "Nicht-Entscheidung" einhergehe.
Nun bräuchte man für diese kulturkritischen Diagnosen keinen Historiker- dafür würde schon das Wort zum Sonntag genügen, und auch die Schelte für "Risikovermeidungsgesellschaft" und "Nischengesellschaft" ist längst politisches Gemeingut. Interessant wird Noltes Arbeit dort, wo er den Begriff der Modernisierung selbst historisiert - also in seiner Untersuchung der siebziger Jahre, der Prägezeit seiner eigenen Wertewelt. "Nutella war noch eine Kostbarkeit", erinnert sich der Historiker, dem der Konsumismus der achtziger Jahre mit ihren "glitzernden Shopping Malls" fremd blieb. Tatsächlich deutet Nolte die aus Ingenieursgeist und Planungsdenken geborenen Reformen der sozialliberalen Koalition keineswegs als Morgenröte der Moderne, sondern eher als letzte Zuckungen der alten Bundesrepublik, bevor Ölkrise, Terrorismus und Umweltkatastrophen das "goldene Zeitalter" beendeten.
Wir sind nie wirklich modern gewesen -- der Befund von Bruno Latour zieht sich als unausgesprochenes Leitmotiv durch Paul Noltes Untersuchung. Die "total perfekte, roboterisierte Freizeitwelt", die sich frühere Jahrzehnte für das Jahr 2000 ausmalten, trat nie ein. Fast nur das Aufbrechen der Geschlechterrollen in seiner Jugendzeit verbucht Nolte, der als Ehemann einer Professorin auch die Kinderbetreuung übernimmt, als Gewinn der gesellschaftlichen Liberalisierung. Nie hätte der feingliedrige Historiker geglaubt, "daß es im Jahr 2005 immer noch schwierig sein würde, Väter für eine Schulklassenaktion jenseits des männlichkeitsbestärkenden Würstchengrillens oder des Schleppens schwerer Bierzeltgarnituren zu gewinnen".
Ansonsten haben die Reformen der alten Bundesrepublik, so Noltes nicht unplausible These, den Deutschen eher einen Widerwillen gegen die unberechenbaren Effekte der Moderne eingepflanzt. Selbst die soziale Marktwirtschaft sei als Projekt der nationalen Eingrenzung der Märkte von einem antikapitalistischen Impuls getragen worden.
Merkwürdig wirkt allerdings, daß Nolte - obwohl er empfiehlt, die Kritiker des Kapitalismus sollten sich "in die Tonne des Diogenes zurückziehen oder als Einsiedler in den Wald flüchten" - immer wieder die doch fest zum Kapitalismus gehörende "Massenkultur" geißelt. Er versteigt sich sogar zu der Behauptung, Privatfernsehen und Mode seien Ursachen für die Entstehung einer neuen Unterschicht. In solchem Unbehagen wird deutlich, daß auch Paul Nolte, der von der Wiederbelebung republikanischer Tugenden träumt, an der Moderne leidet. Denn zu ihrer Dynamik gehört auch die Historisierung jenes bürgerlichen Milieus, in welchem der Historiker seine geistige Heimat sieht.
Paul Nolte: "Riskante Moderne". Die Deutschen und der neue Kapitalismus. Verlag C. H. Beck, München 2006. 312 S., geb., 19,90 [Euro].
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Paul Nolte findet es gar nicht gut, wenn weiter auf der Rückbank gelümmelt wird / Von Andreas Rosenfelder
Einen besseren Werbepartner als Paul Nolte hätte sich die Moderne nicht wünschen können. Wenn ausgerechnet ein Historiker seine Hand ins Feuer legt für eine Epoche, die im Namen des Neuen nicht zuletzt die historische Deckung aufgibt, dann kann diese Epoche so gefährlich nicht sein - selbst wenn Nolte sein Buch "Riskante Moderne" nennt, als wolle er das Klischee des bloß mit dem Staub der Jahrhunderte vertrauten Geschichtswissenschaftlers zerstreuen und die Spielernatur seiner mit Prognosen üblicherweise zurückhaltenden Zunft anstacheln.
Ein Historiker, der für die sonst eher bei Soziologen und Philosophen beliebte Moderne wirbt - das wirkt halt ein wenig wie ein Naturfreund, der für den Bau neuer Autobahnen die Werbetrommel rührt. Tatsächlich ist Nolte kein Historist, der einfach dem Murmeln der Quellen lauscht. Nach seiner 2004 erschienenen "Generation Reform" legt der akademische Jungstar, soeben im Alter von zweiundvierzig Jahren an die Freie Universität in Berlin berufen, nun schon seine zweite Kampfschrift vor. Nach Noltes Auffassung machen offenbar nicht Treitschkes berühmte Männer, sondern interessierte Laien die Geschichte - wenn man ihnen nur eine griffige Anleitung gibt.
In "Riskante Moderne" kleidet Nolte seinen Aufruf, sich am in Deutschland seit der Zeit um 1900 mit Mißtrauen beäugten Projekt der Moderne zu beteiligen, in immer neue Metaphern. Sie stammen fast nur aus der Sphäre des Personenverkehrs. Einmal vergleicht Nolte die Moderne mit einem nur noch vom Autopiloten gelenkten Flugzeug, das die Passagiere reihenweise via Fallschirm verlassen. An anderer Stelle verwandelt sich die Moderne in ein steuerloses Schiff, dessen Schicksal der Autor ebenfalls durch "Überbordspringer" gefährdet sieht. Auch auf der Straße kommt Nolte an, wenn er erklärt, es liege an uns, "ob wir das Steuer wieder in die Hand nehmen, Gaspedal und Bremse beeinflussen können, statt uns auf der Rückbank zu verkriechen und über den Lauf der Dinge zu klagen". Nur der Schienenverkehr fehlt - vielleicht gerade deshalb, weil die Leute, welche die als Politmetapher so beliebten Weichen stellen, eben gerade nicht im Führerhäuschen sitzen.
So sehr Noltes aus dem Alltagsleben gegriffene Beispiele einleuchten: Man kann schon ins Grübeln kommen, ob es wirklich nur die Wahl zwischen Kindersitz und Fahrersessel gibt, zwischen unwürdigem Zuschauen und dem beherzten Griff zum Steuerknüppel, der offenbar nur darauf wartet, vom Leser endlich in die Hand genommen zu werden. Niklas Luhmann fand für die Position des Soziologen das Bild des Krähennests: Der Ausguck auf einem Schiff fällt nicht mit dem Steuerstand zusammen. Dagegen erscheint die Moderne bei Paul Nolte bisweilen als eine ziemlich hemdsärmelige Mitmachaktion, die nur an der Bequemlichkeit der Deutschen scheitert.
Dabei geht es Nolte in seinem Buch keineswegs um eine Euphorie der Modernisierung -- im Gegenteil fällt für Jürgen Klinsmann nur eine spöttische Bemerkung ab. Mit den abenteuerlichen Erwartungen, die Ulrich Beck in seiner vor zwanzig Jahren erschienenen "Risikogesellschaft" an eine "zweite" Moderne knüpfte, hat der Theoretiker der neuen Bürgerlichkeit nichts mehr am Hut. Statt einer neuen Dynamik, so Nolte, habe sich im Privaten wie im Politischen eine "Aufschubmentalität" eingenistet. Und auch die Wahlfreiheit der Postmoderne bleibe ein leeres Versprechen, weil mit der "Hyper-Individualisierung", die sich in ewiger Pubertät und sozialer Bindungsangst niederschlage, ein Kult des Zögerns, der "Nicht-Entscheidung" einhergehe.
Nun bräuchte man für diese kulturkritischen Diagnosen keinen Historiker- dafür würde schon das Wort zum Sonntag genügen, und auch die Schelte für "Risikovermeidungsgesellschaft" und "Nischengesellschaft" ist längst politisches Gemeingut. Interessant wird Noltes Arbeit dort, wo er den Begriff der Modernisierung selbst historisiert - also in seiner Untersuchung der siebziger Jahre, der Prägezeit seiner eigenen Wertewelt. "Nutella war noch eine Kostbarkeit", erinnert sich der Historiker, dem der Konsumismus der achtziger Jahre mit ihren "glitzernden Shopping Malls" fremd blieb. Tatsächlich deutet Nolte die aus Ingenieursgeist und Planungsdenken geborenen Reformen der sozialliberalen Koalition keineswegs als Morgenröte der Moderne, sondern eher als letzte Zuckungen der alten Bundesrepublik, bevor Ölkrise, Terrorismus und Umweltkatastrophen das "goldene Zeitalter" beendeten.
Wir sind nie wirklich modern gewesen -- der Befund von Bruno Latour zieht sich als unausgesprochenes Leitmotiv durch Paul Noltes Untersuchung. Die "total perfekte, roboterisierte Freizeitwelt", die sich frühere Jahrzehnte für das Jahr 2000 ausmalten, trat nie ein. Fast nur das Aufbrechen der Geschlechterrollen in seiner Jugendzeit verbucht Nolte, der als Ehemann einer Professorin auch die Kinderbetreuung übernimmt, als Gewinn der gesellschaftlichen Liberalisierung. Nie hätte der feingliedrige Historiker geglaubt, "daß es im Jahr 2005 immer noch schwierig sein würde, Väter für eine Schulklassenaktion jenseits des männlichkeitsbestärkenden Würstchengrillens oder des Schleppens schwerer Bierzeltgarnituren zu gewinnen".
Ansonsten haben die Reformen der alten Bundesrepublik, so Noltes nicht unplausible These, den Deutschen eher einen Widerwillen gegen die unberechenbaren Effekte der Moderne eingepflanzt. Selbst die soziale Marktwirtschaft sei als Projekt der nationalen Eingrenzung der Märkte von einem antikapitalistischen Impuls getragen worden.
Merkwürdig wirkt allerdings, daß Nolte - obwohl er empfiehlt, die Kritiker des Kapitalismus sollten sich "in die Tonne des Diogenes zurückziehen oder als Einsiedler in den Wald flüchten" - immer wieder die doch fest zum Kapitalismus gehörende "Massenkultur" geißelt. Er versteigt sich sogar zu der Behauptung, Privatfernsehen und Mode seien Ursachen für die Entstehung einer neuen Unterschicht. In solchem Unbehagen wird deutlich, daß auch Paul Nolte, der von der Wiederbelebung republikanischer Tugenden träumt, an der Moderne leidet. Denn zu ihrer Dynamik gehört auch die Historisierung jenes bürgerlichen Milieus, in welchem der Historiker seine geistige Heimat sieht.
Paul Nolte: "Riskante Moderne". Die Deutschen und der neue Kapitalismus. Verlag C. H. Beck, München 2006. 312 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als Plädoyer für das Projekt der Moderne versteht Andreas Rosenfelder dieses Buch des Historikers Paul Nolte, den er als Theoretiker einer "neuen Bürgerlichkeit" charakterisiert. Zentral erscheint ihm Noltes Forderung, die Deutschen mögen sich endlich an diesem misstrauisch beäugten Projekt beteiligen und die Dinge in die Hand nehmen, statt es sich beruflich wie privat weiter in ihrer Aufschubmentalität bequem zu machen. Das unausgesprochene Leitmotiv des Buches sieht Rosenfelder in Bruno Latours Befund, wir seien nie wirklich modern gewesen. So verbuche Nolte fast nur das Aufbrechen der Geschlechterrollen in seiner Jugendzeit als Gewinn der gesellschaftlichen Liberalisierung. Die These, die Reformen der alten Bundesrepublik hätten den Deutschen eher einen Widerwillen gegen die unberechenbaren Effekte der Moderne eingepflanzt, hält Rosenfelder für "nicht unplausibel". Weniger überzeugend findet er dagegen, dass Nolte einerseits die Kritiker des Kapitalismus verdammt, andererseits die notwendig zu ihm gehörende Massenkultur geißelt. Noltes Unbehagen an Phänomenen wie Fernsehen und Mode, die er für die Entstehung einer neuen "Unterschicht" verantwortlich macht, zeigt sich Rosenfelder, dass auch der Autor an der Moderne leidet, die gerade jenes bürgerliche Milieu als gestrig erscheinen lasse, in dem er sich selbst heimisch fühle.
© Perlentaucher Medien GmbH
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