Jacques Le Goff bietet hier einen faszinierenden Einblick in die Bildwelt des Mittelalters. Zu diesem Kosmos gehören Robin Hood und Merlin ebenso wie die Kathedrale und das Einhorn, das Schlaraffenland und der Jongleur. In dem reich illustrierten Band lernt der Leser die bunten und phantasievollen Seiten des Mittelalters kennen, und wird dabei kundig von den erzählerischen Texten Le Goffs begleitet.
Der große Mediävist Jacques Le Goff führt in die Welt der Bilder ein, die im Mittelalter erfunden wurden und in denen sich Kultur und Mentalität dieser Epoche spiegeln. Er präsentiert eine Auswahl typischer Figuren und Motive und zeigt, daß im Mittelalter eine Welt konstruiert wird, die zwischen Geschichte und Legende, zwischen Wirklichkeit und Phantasie liegt. Diese Bildwelt ist uns auch heute noch präsent: historische und erfundene Helden wie Karl der Große oder Robin Hood, allgemeine Charaktere wie Ritter und Troubadoure oder Wundertiere wie das Einhorn. Im vorliegenden Buch
verfolgt Le Goff eines seiner wichtigsten Anliegen: zu zeigen, daß die Welt des Mittelalters nicht finster und barbarisch ist, sondern im Gegenteil farbenfroh, lebendig und phantasievoll.
Der große Mediävist Jacques Le Goff führt in die Welt der Bilder ein, die im Mittelalter erfunden wurden und in denen sich Kultur und Mentalität dieser Epoche spiegeln. Er präsentiert eine Auswahl typischer Figuren und Motive und zeigt, daß im Mittelalter eine Welt konstruiert wird, die zwischen Geschichte und Legende, zwischen Wirklichkeit und Phantasie liegt. Diese Bildwelt ist uns auch heute noch präsent: historische und erfundene Helden wie Karl der Große oder Robin Hood, allgemeine Charaktere wie Ritter und Troubadoure oder Wundertiere wie das Einhorn. Im vorliegenden Buch
verfolgt Le Goff eines seiner wichtigsten Anliegen: zu zeigen, daß die Welt des Mittelalters nicht finster und barbarisch ist, sondern im Gegenteil farbenfroh, lebendig und phantasievoll.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Nicht um historische Rekonstruktion oder korrigierende Entmythologisierung geht es in diesem Buch, sondern um die gesamteuropäische Schatzkiste der Erinnerung an das Mittelalter. Und wie gerne hat der Rezensent Olaf B. Rader darin gekramt! Burgen und Kathedralen, El Cid, Artus, Robin Hood und andere, die in der kulturellen Imagination Karrieren vom "Raufbold" zum "Helden" hinlegten, Erfundenes und historisch Belegtes - all das, was unsere Wahrnehmung des Mittelalters sinnbildlich geprägt hat und nach wie vor prägt, wird von Jacques Le Goff so aufbereitet, dass man sich "sofort festliest". Man erfährt auch, welche Wandlungen die kulturellen Bilder durchmachten: Die Aufklärung wischte den dunklen Schleier über dem Mittelalter weg, die Romantik legte ihn erneut darüber, und bis heute ist er dort geblieben. Ein "schön gestaltetes" Buch - und eine uneingeschränkte Empfehlung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2005Die Dämonin Melusine ist unsere Frauenbeauftragte
Jacques Le Goff verlängert die Traumwelten und Traumfiguren des Mittelalters in die Gegenwart
Das Imaginäre, verstanden als ein Universum mentaler Bilder, prägt Gesellschaften oder Kulturen und wirkt beim einzelnen als Antrieb zum Handeln; oft beruht es auf materiell realen Substraten, überschreitet diese auch in schöpferischer, poetischer Weise. Die Bildwelt, zumal die des Mittelalters, manifestiert sich deshalb vornehmlich in literarischen und künstlerischen Werken. Da sie den Raum der Vorstellung auf das Gebiet der Phantasie transzendiert, ist ihr bevorzugter Ort das Wunderbare.
Als Le Goff diese Gedanken vor Jahren erstmals niederschrieb, öffnete er der Mediävistik ein weites Arbeitsfeld. Den neuen Forschungen wies er durch eine definitorische Anstrengung die Wege. Das "Wunderbare", französisch "merveilleux", führte er auf die lateinischen "mirabilia" zurück und verband es mit vorchristlichen Ursprüngen; im Mittelalter habe es sich in der Idee der verkehrten Welt ausgeprägt und eine soziale Kompensationsfunktion erfüllt - als Gegengewicht zur Banalität des Alltags und als Ausdruck des Widerstands gegen die offizielle Ideologie des Christentums.
Das christliche Wunder ("miraculum") sei dagegen biblisch wenig profiliert und erst von der Kirche gefördert worden, um das heidnische Wunder in den Aberglauben abzudrängen. Die Heiligen hätten die christliche Idee des Menschen als Abbild Gottes gegen die antihumanistischen Bilder vom wilden Mann, von Monstern oder den halbtierischen Mischwesen zur Geltung bringen sollen. Das Wunderbare als Wirken verschiedener übernatürlicher Kräfte habe in Spannung zur monotheistischen Religion gestanden. Insgesamt sei der Erfolg des Christentums bescheiden geblieben, so daß sich noch im hohen Mittelalter der Durchbruch des Wunderbaren ereignen konnte.
Wenn Le Goff seine Arbeit an "L'imaginaire médiévale" von 1985 nun wiederaufgenommen hat, geschah das unter veränderten Bedingungen. Die Annales-Schule, die er repräsentiert, hat inzwischen die Verbindungen zwischen Mittelalter und Gegenwart stärker ausgezogen. Die Präsenz der Vergangenheit im historischen Gedächtnis Frankreichs wurde durch das große Werk der "Lieux de mémoire" (1984) beleuchtet, und die aktualisierte Frage nach einer europäischen Identität hat der Geschichtsschreibung neue Aufgaben gestellt. Le Goff widmete sich erst kürzlich den Geburten Europas im Mittelalter und vertrat dabei die kühne These, daß das mittelalterliche Erbe das wichtigste Vermächtnis der Vergangenheit an Europas Gegenwart und Zukunft sei.
Sein neues Buch über Wunder und Helden versteht er hierfür als weiteren Beleg. Die Bildwelt habe zwar bis heute viele Metamorphosen durchlaufen, wer aber zu ihren mittelalterlichen Wurzeln zurückstoße, könne dem "neuen" Mittelalter der Gegenwart seinen Platz in den europäischen und weltweiten Zukunftsperspektiven anweisen. Es geht um das, was uns am Mittelalter zu interessieren hat, weil es nach wie vor aktuell ist. Jacques Le Goff hat das Wunderbare in zwanzig Skizzen untersucht; die meisten von ihnen sind legendären Gestalten gewidmet, sei es, daß diese wirklich gelebt haben wie Karl der Große, der Cid und wohl auch Roland, sei es, daß sie erfunden sind. Zu diesen zählen König Artus, die Fee Melusine, der Zauberer Merlin, die Päpstin Johanna, Robin Hood, der Rächer der Armen, sowie Tristan und Isolde.
Ebenso werden Menschengruppen und -typen wie die Ritter, der Jongleur, La Mesnie Hellequin ("das wütende Heer, die wilde Jagd"), der Troubadour und die Walküre, ja personifizierte Tiere (der Fuchs Renart) behandelt, weil sie zur Traumwelt gehörten. Bei den wunderbaren Sachen lassen sich reine Fiktionen (Schlaraffenland, Einhorn) von Realien unterscheiden, die die Phantasie bis heute beschäftigen (Kathedrale, Burg, Kreuzgang). Le Goff sucht nach dem ersten literarischen oder einem sonstwie prominenten Zeugnis und verfolgt die Tradition des Motivs bis zur modernen Oper, zum Theater, Film und Trickfilm.
Paradigmatisch repräsentiert die Wunderwelt das Schlaraffenland, das offenbar um 1250 erstmals dargestellt wurde. Der mittelalterlichen Angst vor Hungersnöten setzt es den Traum vom Überfluß entgegen, ja, wo kein Nahrungsverbot herrschen sollte, fühlte sich der moderne Autor an die Illusion einer verbotsfreien Gesellschaft vom Mai 1968 erinnert ("Es ist verboten zu verbieten"). Im französisch so genannten "pays de Cocagne" habe sich jede Frau in aller Öffentlichkeit jeden Mann nehmen können, nach dem sie verlangte - eine erstaunliche Utopie sexueller Gleichberechtigung im angeblich maskulinen Mittelalter. Heute scheint der Traum vom Schlaraffenland zum Kinderspiel abgesunken zu sein, wenn er nicht im Volksbrauch um den Maibaum weiterlebt. Bei manchen Gestalten, wie Robin Hood oder Tristan und Isolde, sind die Aktualisierungen in der neueren Kunst geläufig, und die Dämonin Melusine - halb Frau, halb Drache - lebt, wie Le Goff behauptet, in der Gestalt der "Frauenbeauftragten" weiter und wurde etwa in Dänemark zum Emblem eines "Forschungszentrums für Frauenfragen". Merlin dagegen, der Magier, scheint (vorerst?) obsolet zu sein. Ähnliches muß von Karls Neffen gesagt werden, wenn man nicht auf die Variante des "Rasenden Roland" verweisen will, der nach Ariosts Dichtung in der Schmalspurbahn auf Rügen fortlebt.
Nicht immer läßt sich eine europäische Dimension für die Gestalten oder Objekte der Bildwelt dartun. Der "Cid", der bei der Reconquista als Söldner und Staatengründer eine widersprüchliche Rolle spielte, gilt jetzt als spanischer Held - Ergebnis eines wissenschaftlichen Werkes des zwanzigsten Jahrhunderts (Ramón Menéndez Pidal: "La España del Cid", 1929); der Caudillo Franco hat diesen Mythos zur eigenen Aufwertung zu adaptieren versucht.
Die Kathedrale als Wunschraum für grandiose Weite und Beständigkeit, für Helligkeit und Spiritualität konnte wohl nur einem Franzosen als allgemein europäische Wunderwelt erscheinen. Bezeichnend dafür ist, daß Le Goff sie mit der Bischofskirche im gotischen Stil gleichsetzt. Die Gedanken an Reims und Bourges, Chartres, Paris und Amiens, Troyes, Sens, Beauvais und Rouen haben ihn so sehr okkupiert, daß er zwar an Santiago de Compostela, Mailand und Köln, nicht aber an Gaudís "Temple de la Sagrada Familia" in Barcelona dachte. Dieser monumentale Bau der Gegenwart nimmt bekanntlich viele Elemente der Gotik auf - und ist nach über hundertjähriger Arbeit ebensowenig vollendet, wie es seine mittelalterlichen Vorläufer in entsprechender Zeitspanne waren. Für ein nationales Mißverständnis Le Goffs in diesem Kapitel spricht, daß auch in den französischen "Erinnerungsorten" von 1992 "La cathédrale" schlechthin behandelt wurde, während im deutschen Parallelunternehmen von 2001 nicht die Bischofskirche überhaupt, sondern nur ein herausragender Einzelfall, das Straßburger Münster, erscheint.
Umgekehrt kann man sich fragen, welche Rolle eigene Vorurteile beim Ausschluß bestimmter Traumwelten gespielt haben mögen. Ausgerechnet der Stadt wollte Le Goff keine besondere Identität unter den Wunderwerken seit dem Mittelalter zubilligen. Wie konnte er vergessen, welche Sehnsucht nach einem besseren Leben seit dem hohen Mittelalter die Landbewohner in die Stadt getrieben hat, welcher Zauber vom heiligen Jerusalem ausging, wie viele Abertausende Studenten bis heute die Universität in der Stadt vorziehen, weniger der Lehrer wegen, sondern weil sie das Vergnügen suchten? Vielleicht hat dem Autor die Tradition des französischen Zentralstaates den Blick darauf versperrt, daß schon die mittelalterliche Stadt, viel mehr als die aristokratische Ritterrunde um König Artus, den Traum von der Gleichheit aller Menschen erlaubt hat.
Die Frage nach den polytheistischen Ablagerungen in der Bildwelt seit dem Mittelalter hat Le Goff hier nicht so nachdrücklich gestellt wie früher. Sein neues Werk bietet aber nichtchristliches Traditionsgut in eindrucksvoller Breite dar. Keltische, indogermanische oder orientalische Stoffe und Motive haben bei aller christlichen Überformung ihre Eigenarten bewahrt, und oft ist es gerade die profane Seite eines Phänomens, die bis heute fasziniert.
Das gilt etwa vom Rittertum, das eben nicht als "militia Christi" und durch die geistlichen Ritterorden, sondern wegen der von der Kirche (vergeblich) bekämpften Turniere populär ist. Entsprechendes ließe sich von den Troubadours mit ihren weltlichen Gesängen oder von der Geschichte der Päpstin Johanna sagen, die Aversionen gegen den kirchlichen Sexismus und den Priestertrug bündelt. So kann man, was Le Goff selbst nicht getan hat, resümieren, daß das Mittelalter heute en vogue ist, weil und insofern es sich in nichtchristlicher Gestalt träumen läßt.
MICHAEL BORGOLTE
Jacques Le Goff: "Ritter, Einhorn, Troubadoure". Helden und Wunder des Mittelalters. C. H. Beck Verlag, München 2005. 239 S., 147 Farb- u. S/W-Abb., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jacques Le Goff verlängert die Traumwelten und Traumfiguren des Mittelalters in die Gegenwart
Das Imaginäre, verstanden als ein Universum mentaler Bilder, prägt Gesellschaften oder Kulturen und wirkt beim einzelnen als Antrieb zum Handeln; oft beruht es auf materiell realen Substraten, überschreitet diese auch in schöpferischer, poetischer Weise. Die Bildwelt, zumal die des Mittelalters, manifestiert sich deshalb vornehmlich in literarischen und künstlerischen Werken. Da sie den Raum der Vorstellung auf das Gebiet der Phantasie transzendiert, ist ihr bevorzugter Ort das Wunderbare.
Als Le Goff diese Gedanken vor Jahren erstmals niederschrieb, öffnete er der Mediävistik ein weites Arbeitsfeld. Den neuen Forschungen wies er durch eine definitorische Anstrengung die Wege. Das "Wunderbare", französisch "merveilleux", führte er auf die lateinischen "mirabilia" zurück und verband es mit vorchristlichen Ursprüngen; im Mittelalter habe es sich in der Idee der verkehrten Welt ausgeprägt und eine soziale Kompensationsfunktion erfüllt - als Gegengewicht zur Banalität des Alltags und als Ausdruck des Widerstands gegen die offizielle Ideologie des Christentums.
Das christliche Wunder ("miraculum") sei dagegen biblisch wenig profiliert und erst von der Kirche gefördert worden, um das heidnische Wunder in den Aberglauben abzudrängen. Die Heiligen hätten die christliche Idee des Menschen als Abbild Gottes gegen die antihumanistischen Bilder vom wilden Mann, von Monstern oder den halbtierischen Mischwesen zur Geltung bringen sollen. Das Wunderbare als Wirken verschiedener übernatürlicher Kräfte habe in Spannung zur monotheistischen Religion gestanden. Insgesamt sei der Erfolg des Christentums bescheiden geblieben, so daß sich noch im hohen Mittelalter der Durchbruch des Wunderbaren ereignen konnte.
Wenn Le Goff seine Arbeit an "L'imaginaire médiévale" von 1985 nun wiederaufgenommen hat, geschah das unter veränderten Bedingungen. Die Annales-Schule, die er repräsentiert, hat inzwischen die Verbindungen zwischen Mittelalter und Gegenwart stärker ausgezogen. Die Präsenz der Vergangenheit im historischen Gedächtnis Frankreichs wurde durch das große Werk der "Lieux de mémoire" (1984) beleuchtet, und die aktualisierte Frage nach einer europäischen Identität hat der Geschichtsschreibung neue Aufgaben gestellt. Le Goff widmete sich erst kürzlich den Geburten Europas im Mittelalter und vertrat dabei die kühne These, daß das mittelalterliche Erbe das wichtigste Vermächtnis der Vergangenheit an Europas Gegenwart und Zukunft sei.
Sein neues Buch über Wunder und Helden versteht er hierfür als weiteren Beleg. Die Bildwelt habe zwar bis heute viele Metamorphosen durchlaufen, wer aber zu ihren mittelalterlichen Wurzeln zurückstoße, könne dem "neuen" Mittelalter der Gegenwart seinen Platz in den europäischen und weltweiten Zukunftsperspektiven anweisen. Es geht um das, was uns am Mittelalter zu interessieren hat, weil es nach wie vor aktuell ist. Jacques Le Goff hat das Wunderbare in zwanzig Skizzen untersucht; die meisten von ihnen sind legendären Gestalten gewidmet, sei es, daß diese wirklich gelebt haben wie Karl der Große, der Cid und wohl auch Roland, sei es, daß sie erfunden sind. Zu diesen zählen König Artus, die Fee Melusine, der Zauberer Merlin, die Päpstin Johanna, Robin Hood, der Rächer der Armen, sowie Tristan und Isolde.
Ebenso werden Menschengruppen und -typen wie die Ritter, der Jongleur, La Mesnie Hellequin ("das wütende Heer, die wilde Jagd"), der Troubadour und die Walküre, ja personifizierte Tiere (der Fuchs Renart) behandelt, weil sie zur Traumwelt gehörten. Bei den wunderbaren Sachen lassen sich reine Fiktionen (Schlaraffenland, Einhorn) von Realien unterscheiden, die die Phantasie bis heute beschäftigen (Kathedrale, Burg, Kreuzgang). Le Goff sucht nach dem ersten literarischen oder einem sonstwie prominenten Zeugnis und verfolgt die Tradition des Motivs bis zur modernen Oper, zum Theater, Film und Trickfilm.
Paradigmatisch repräsentiert die Wunderwelt das Schlaraffenland, das offenbar um 1250 erstmals dargestellt wurde. Der mittelalterlichen Angst vor Hungersnöten setzt es den Traum vom Überfluß entgegen, ja, wo kein Nahrungsverbot herrschen sollte, fühlte sich der moderne Autor an die Illusion einer verbotsfreien Gesellschaft vom Mai 1968 erinnert ("Es ist verboten zu verbieten"). Im französisch so genannten "pays de Cocagne" habe sich jede Frau in aller Öffentlichkeit jeden Mann nehmen können, nach dem sie verlangte - eine erstaunliche Utopie sexueller Gleichberechtigung im angeblich maskulinen Mittelalter. Heute scheint der Traum vom Schlaraffenland zum Kinderspiel abgesunken zu sein, wenn er nicht im Volksbrauch um den Maibaum weiterlebt. Bei manchen Gestalten, wie Robin Hood oder Tristan und Isolde, sind die Aktualisierungen in der neueren Kunst geläufig, und die Dämonin Melusine - halb Frau, halb Drache - lebt, wie Le Goff behauptet, in der Gestalt der "Frauenbeauftragten" weiter und wurde etwa in Dänemark zum Emblem eines "Forschungszentrums für Frauenfragen". Merlin dagegen, der Magier, scheint (vorerst?) obsolet zu sein. Ähnliches muß von Karls Neffen gesagt werden, wenn man nicht auf die Variante des "Rasenden Roland" verweisen will, der nach Ariosts Dichtung in der Schmalspurbahn auf Rügen fortlebt.
Nicht immer läßt sich eine europäische Dimension für die Gestalten oder Objekte der Bildwelt dartun. Der "Cid", der bei der Reconquista als Söldner und Staatengründer eine widersprüchliche Rolle spielte, gilt jetzt als spanischer Held - Ergebnis eines wissenschaftlichen Werkes des zwanzigsten Jahrhunderts (Ramón Menéndez Pidal: "La España del Cid", 1929); der Caudillo Franco hat diesen Mythos zur eigenen Aufwertung zu adaptieren versucht.
Die Kathedrale als Wunschraum für grandiose Weite und Beständigkeit, für Helligkeit und Spiritualität konnte wohl nur einem Franzosen als allgemein europäische Wunderwelt erscheinen. Bezeichnend dafür ist, daß Le Goff sie mit der Bischofskirche im gotischen Stil gleichsetzt. Die Gedanken an Reims und Bourges, Chartres, Paris und Amiens, Troyes, Sens, Beauvais und Rouen haben ihn so sehr okkupiert, daß er zwar an Santiago de Compostela, Mailand und Köln, nicht aber an Gaudís "Temple de la Sagrada Familia" in Barcelona dachte. Dieser monumentale Bau der Gegenwart nimmt bekanntlich viele Elemente der Gotik auf - und ist nach über hundertjähriger Arbeit ebensowenig vollendet, wie es seine mittelalterlichen Vorläufer in entsprechender Zeitspanne waren. Für ein nationales Mißverständnis Le Goffs in diesem Kapitel spricht, daß auch in den französischen "Erinnerungsorten" von 1992 "La cathédrale" schlechthin behandelt wurde, während im deutschen Parallelunternehmen von 2001 nicht die Bischofskirche überhaupt, sondern nur ein herausragender Einzelfall, das Straßburger Münster, erscheint.
Umgekehrt kann man sich fragen, welche Rolle eigene Vorurteile beim Ausschluß bestimmter Traumwelten gespielt haben mögen. Ausgerechnet der Stadt wollte Le Goff keine besondere Identität unter den Wunderwerken seit dem Mittelalter zubilligen. Wie konnte er vergessen, welche Sehnsucht nach einem besseren Leben seit dem hohen Mittelalter die Landbewohner in die Stadt getrieben hat, welcher Zauber vom heiligen Jerusalem ausging, wie viele Abertausende Studenten bis heute die Universität in der Stadt vorziehen, weniger der Lehrer wegen, sondern weil sie das Vergnügen suchten? Vielleicht hat dem Autor die Tradition des französischen Zentralstaates den Blick darauf versperrt, daß schon die mittelalterliche Stadt, viel mehr als die aristokratische Ritterrunde um König Artus, den Traum von der Gleichheit aller Menschen erlaubt hat.
Die Frage nach den polytheistischen Ablagerungen in der Bildwelt seit dem Mittelalter hat Le Goff hier nicht so nachdrücklich gestellt wie früher. Sein neues Werk bietet aber nichtchristliches Traditionsgut in eindrucksvoller Breite dar. Keltische, indogermanische oder orientalische Stoffe und Motive haben bei aller christlichen Überformung ihre Eigenarten bewahrt, und oft ist es gerade die profane Seite eines Phänomens, die bis heute fasziniert.
Das gilt etwa vom Rittertum, das eben nicht als "militia Christi" und durch die geistlichen Ritterorden, sondern wegen der von der Kirche (vergeblich) bekämpften Turniere populär ist. Entsprechendes ließe sich von den Troubadours mit ihren weltlichen Gesängen oder von der Geschichte der Päpstin Johanna sagen, die Aversionen gegen den kirchlichen Sexismus und den Priestertrug bündelt. So kann man, was Le Goff selbst nicht getan hat, resümieren, daß das Mittelalter heute en vogue ist, weil und insofern es sich in nichtchristlicher Gestalt träumen läßt.
MICHAEL BORGOLTE
Jacques Le Goff: "Ritter, Einhorn, Troubadoure". Helden und Wunder des Mittelalters. C. H. Beck Verlag, München 2005. 239 S., 147 Farb- u. S/W-Abb., geb., 29,90 [Euro].
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