Die Geschichte des Kinos ist ein einziges Ritual der Verführung: eine Verführung durch Sinnlichkeit, Körperlichkeit, Bewegung, Rhythmus, Licht, Raum und Klang - aber auch eine Verführung mittels des Begehrens, zur Souveränität wie zum Bösen. Die Verführungsstrategien der filmischen Inszenierung quer durch die Filmgeschichte werden anhand unterschiedlicher Werke aus den verschiedensten Genres eingehend beschrieben und analysiert. Dabei werden Autorenfilme ebenso wie populäre Genrefilme einer differenzierten Betrachtung unterzogen: LETZTES JAHR IN MARIENBAD, DAS PIANO, BASIC INSTINCT, APOCALYPSE NOW, IM REICH DER SINNE, FRENCH CONNECTION, DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER, MATADOR, CRASH, QUERELLE, DER LETZTE TANGO IN PARIS, ROMANCE X, THE WILD BUNCH, DIE 120 TAGE VON SODOM, EXISTENZ, TITANIC und viele andere. Der Band ist reichhaltig illustriert, teils in Farbe.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2008Begegnungen im Dunkeln
Interaktiv funktioniert das nicht: "Ritual und Verführung"
Wenn man allein ins Kino geht, gilt das als sozial auffällig. Obwohl es doch eine der konstitutiven Eigenschaften des Kinos ist, dass man dort auch dann nicht allein ist, wenn man ohne Begleitung kommt. Und dass es schöner ist, wenn man nicht schon während des Abspanns erklären muss, wie man den Film so fand und warum. Oft weiß man das - auch als Kritiker - ja noch Monate später nicht genau. Und meistens sind es gerade die besten Filme, die man in Erinnerung behält wie eine sonderbare, auf unverständliche Art becircende Begegnung im Dunkeln.
Im Prinzip ist es das, was der Mainzer Filmwissenschaftler und Autor Marcus Stiglegger mit dem Begriff Verführung meint: nicht das offensichtlich Erotische, das durchs Kino pulsiert, auch nicht die propagandistischen Techniken, die selbst ungeübte Augen meist schnell erkennen. Sondern den so alltäglichen wie schwer beschreibbaren Vorgang, beim Ansehen eines Filmes in ihn einzutauchen wie in einen Traum. Auf ihn reinzufallen, freiwillig die Lücken zu füllen, die die Inszenierung wie kleine Fallgruben offenlässt. "Ritual & Verführung" hat Stiglegger seinen großen Essay zum Thema genannt, eine ergänzte Version seiner Habilitationsschrift. Ein wissenschaftliches Filmbuch also, aber alles andere als entrückt.
Man könne Film nicht nur als soziologisches Gebilde, unter Aspekten von Genre oder Rezeptionsgeschichte betrachten, sondern auch als "seduktives System", schickt Stiglegger voraus - als Kunstwerk, das nach Regeln und Techniken gebaut ist, die in erster Linie auf die Verführung des Zuschauers abzielen. "Als Filmemacher ist man elementar auf Verführungsstrategien zurückgeworfen und beschäftigt sich ununterbrochen mit Manipulation", zitiert er Tom Tykwer, und das ist schon alles, was hier zur echten These taugt.
Stiglegger steht dem Neostrukturalismus nahe, liest das Kino mit Lacan und Baudrillard und hütet sich davor, ins konkret Wirkungsästhetische zu rutschen. Als Leser steht man am Ende zwar ohne knackige Erkenntnis da - der Witz des Buches ist jedoch, dass der Autor sich bei der akademischen Betrachtung immer wieder lustvoll von dem mitreißen lässt, was er doch sezieren soll. Von der Verführungsgewalt toller Filme.
Wahrscheinlich hat noch niemand so schön über die Strandszene aus "Das Piano" mit der klavierspielenden Holly Hunter und der tanzenden Anna Paquin geschrieben. Sharon Stones Verhör in "Basic Instinct" beobachtet Stiglegger adleräugig bis zum kleinsten Schattenwurf der Deckenbalken - und nein, auch er kann nichts erkennen zwischen den geöffneten Beinen. Wie die Filme uns immer wieder heranlocken, uns dann doch enttäuschen, damit wir nächstes Mal wiederkommen, das demonstriert er an einigen Beispielen grandios. Auch an der Auto-U-Bahn-Verfolgungsjagd aus "French Connection", die offenbar einzig den Zweck hat, den Zuschauer wieder zu ködern, nachdem in der halben Stunde davor nicht viel passiert ist.
Natürlich geht es vor allem um Filme, die man in dem Zusammenhang erwartet: "Apocalypse Now", "Blow Up", "Der letzte Tango in Paris", "Salò". Das vordergründig Narrative im Business-as-usual-Hollywood sei kein Widerspruch zur versteckten Verführung, betont Stiglegger, liefert mit "Gladiator" und "Titanic" aber leider zwei wenig überzeugende Beispiele. Und stellt erstaunlich demonstrativ die Beobachtung ans Ende, dass interaktive Formate aller Art dem seduktiven Charme des Kinos direkt widersprächen: "Dieses dialogische Prinzip funktioniert ausschließlich aufgrund des Widerstandes eines Artefakts, nicht aufgrund von seiner Formbarkeit." Was strenggenommen schon dann der Fall ist, wenn man mit der Pausentaste die Ereignisse einfrieren kann. Da liegt die Gemeinsamkeit zwischen Filmegucken und Achterbahn: Toll ist es vor allem, weil man nicht aussteigen kann. Ein Medium, zu dessen Bedingungen und Reizen es gehört, dass es den Nutzer zur Passivität verdammt - so gesehen klingt das irrsinnig unzeitgemäß. Nach zweieinhalb Stunden "There Will Be Blood" weiß man, wie es gemeint ist.
JOACHIM HENTSCHEL
Marcus Stiglegger: "Ritual und Verführung. Schaulust, Spektakel und Sinnlichkeit im Film". Bertz + Fischer, Berlin 2007, 240 S., 165 Abb.,
25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Interaktiv funktioniert das nicht: "Ritual und Verführung"
Wenn man allein ins Kino geht, gilt das als sozial auffällig. Obwohl es doch eine der konstitutiven Eigenschaften des Kinos ist, dass man dort auch dann nicht allein ist, wenn man ohne Begleitung kommt. Und dass es schöner ist, wenn man nicht schon während des Abspanns erklären muss, wie man den Film so fand und warum. Oft weiß man das - auch als Kritiker - ja noch Monate später nicht genau. Und meistens sind es gerade die besten Filme, die man in Erinnerung behält wie eine sonderbare, auf unverständliche Art becircende Begegnung im Dunkeln.
Im Prinzip ist es das, was der Mainzer Filmwissenschaftler und Autor Marcus Stiglegger mit dem Begriff Verführung meint: nicht das offensichtlich Erotische, das durchs Kino pulsiert, auch nicht die propagandistischen Techniken, die selbst ungeübte Augen meist schnell erkennen. Sondern den so alltäglichen wie schwer beschreibbaren Vorgang, beim Ansehen eines Filmes in ihn einzutauchen wie in einen Traum. Auf ihn reinzufallen, freiwillig die Lücken zu füllen, die die Inszenierung wie kleine Fallgruben offenlässt. "Ritual & Verführung" hat Stiglegger seinen großen Essay zum Thema genannt, eine ergänzte Version seiner Habilitationsschrift. Ein wissenschaftliches Filmbuch also, aber alles andere als entrückt.
Man könne Film nicht nur als soziologisches Gebilde, unter Aspekten von Genre oder Rezeptionsgeschichte betrachten, sondern auch als "seduktives System", schickt Stiglegger voraus - als Kunstwerk, das nach Regeln und Techniken gebaut ist, die in erster Linie auf die Verführung des Zuschauers abzielen. "Als Filmemacher ist man elementar auf Verführungsstrategien zurückgeworfen und beschäftigt sich ununterbrochen mit Manipulation", zitiert er Tom Tykwer, und das ist schon alles, was hier zur echten These taugt.
Stiglegger steht dem Neostrukturalismus nahe, liest das Kino mit Lacan und Baudrillard und hütet sich davor, ins konkret Wirkungsästhetische zu rutschen. Als Leser steht man am Ende zwar ohne knackige Erkenntnis da - der Witz des Buches ist jedoch, dass der Autor sich bei der akademischen Betrachtung immer wieder lustvoll von dem mitreißen lässt, was er doch sezieren soll. Von der Verführungsgewalt toller Filme.
Wahrscheinlich hat noch niemand so schön über die Strandszene aus "Das Piano" mit der klavierspielenden Holly Hunter und der tanzenden Anna Paquin geschrieben. Sharon Stones Verhör in "Basic Instinct" beobachtet Stiglegger adleräugig bis zum kleinsten Schattenwurf der Deckenbalken - und nein, auch er kann nichts erkennen zwischen den geöffneten Beinen. Wie die Filme uns immer wieder heranlocken, uns dann doch enttäuschen, damit wir nächstes Mal wiederkommen, das demonstriert er an einigen Beispielen grandios. Auch an der Auto-U-Bahn-Verfolgungsjagd aus "French Connection", die offenbar einzig den Zweck hat, den Zuschauer wieder zu ködern, nachdem in der halben Stunde davor nicht viel passiert ist.
Natürlich geht es vor allem um Filme, die man in dem Zusammenhang erwartet: "Apocalypse Now", "Blow Up", "Der letzte Tango in Paris", "Salò". Das vordergründig Narrative im Business-as-usual-Hollywood sei kein Widerspruch zur versteckten Verführung, betont Stiglegger, liefert mit "Gladiator" und "Titanic" aber leider zwei wenig überzeugende Beispiele. Und stellt erstaunlich demonstrativ die Beobachtung ans Ende, dass interaktive Formate aller Art dem seduktiven Charme des Kinos direkt widersprächen: "Dieses dialogische Prinzip funktioniert ausschließlich aufgrund des Widerstandes eines Artefakts, nicht aufgrund von seiner Formbarkeit." Was strenggenommen schon dann der Fall ist, wenn man mit der Pausentaste die Ereignisse einfrieren kann. Da liegt die Gemeinsamkeit zwischen Filmegucken und Achterbahn: Toll ist es vor allem, weil man nicht aussteigen kann. Ein Medium, zu dessen Bedingungen und Reizen es gehört, dass es den Nutzer zur Passivität verdammt - so gesehen klingt das irrsinnig unzeitgemäß. Nach zweieinhalb Stunden "There Will Be Blood" weiß man, wie es gemeint ist.
JOACHIM HENTSCHEL
Marcus Stiglegger: "Ritual und Verführung. Schaulust, Spektakel und Sinnlichkeit im Film". Bertz + Fischer, Berlin 2007, 240 S., 165 Abb.,
25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein Wagnis ist es. Das Wagnis, heutzutage eine Buchreihe über Filmtheorie herauszugeben. Der Berliner Verlag Bertz + Fischer, seit Jahren Deutschlands prominentester Filmbuchverlag, stellt sich diesem Abenteuer nun mit einer neuen Publikationsserie. Deep Focus heißt sie, und bereits der erste Band erweist sich als seltener Glücksfall. Um Ritual und Verführung geht es, um Schaulust, Spektakel und Sinnlichkeit, wie schon Titel und Untertitel indizieren. Der Autor Marcus Stiglegger, Filmwissenschaftler an der Universität Mainz, begreift Film generell als seduktives, als verführerisches System, welches es kulturphilosophisch zu ergründen gilt. Fazit: Jenseits rein propagandistisch konnotierter Verführungsbegriffe ließen sich von Geburt des Kinos an inszenatorische Strategien nachweisen, die den Zuschauer durch einen Prozess der Seduktion binden. Prägnant erläutert der Autor seine klar formulierten Thesen und beweist vorbildhaft, dass postmoderne Theorieansätze sich nicht in unverbindlicher Beliebigkeit erschöpfen müssen. Auch das ein Wagnis, heutzutage." (Süddeutsche Zeitung, Online) "Eine wunderbare Anleitung zum wilden Sehen - mit Verstand." (epd Film) "Der Witz des Buches ist, dass der Autor sich bei der akademischen Betrachtung immer wieder lustvoll von dem mitreißen lässt, was er doch sezieren soll. Von der Verführungsgewalt toller Filme. Wahrscheinlich hat noch niemand so schön über die Strandszene aus DAS PIANO mit der klavierspielenden Holly Hunter und der tanzenden Anna Paquin geschrieben. Sharon Stones Verhör in BASIC INSTINCT beobachtet Stiglegger adleräugig bis zum kleinsten Schattenwurf der Deckenbalken - und nein, auch er kann nichts erkennen zwischen den geöffneten Beinen. Wie die Filme uns immer wieder heranlocken, uns dann doch enttäuschen, damit wir nächtes Mal wiederkommen, das demonstiert er an einigen Beispielen grandios." (Joachim Hentschel, FAZ)