Weshalb knieten und weinten Senatoren vor politischen Gegnern? Warum entblößten sie ihre Narben? An welche Wertvorstellungen appellierten diese Gesten? In welchen Situationen wirkten sie, in welchen nicht? In welchen zeremoniellen Rahmen fand derlei statt, entlang welcher Regeln? Egon Flaig untersucht die kulturelle Semantik der römischen Politik, wie das bisher in der althistorischen Forschung noch nicht geschehen ist. Seine innovative Studie versteht individuelle Handlungen wie kollektive Rituale als Elemente einer politischen Grammatik, die selbst der Veränderungsdynamik gesellschaftlicher und politischer Prozesse unterliegt. Indem er römische Politik nicht nach Institutionen und Kompetenzen befragt, sondern nach dem signifikanten Verhalten ihrer Akteure, gelingt es dem Autor, zentrale Elemente der römischen Politik neu zu bestimmen. Zugleich präsentiert Flaig in "dichten Beschreibungen" anschaulicher Fälle einen Querschnitt durch die politische Kultur insbesondere der späten römischen Republik.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.09.2003Warum weint der Feldherr?
Roms Chefetagen: Egon Flaig entschlüsselt die Herrschaftssprache
Die längste Zeit haben immer neue Generationen im Gefüge der römischen Republik nach den Geheimnissen von Stabilität und Selbstbehauptungsfähigkeit gesucht. Der Utilitarismus Machiavellis fand sie in der Staatsklugheit und den Tugenden der Römer; die fest im Ordnungsdenken und der Umsturzfurcht des neunzehnten Jahrhunderts verwurzelte Staatsrechtslehre Theodor Mommsens setzte auf die Amtsgewalt als rechtsförmige Basis und auf die Volkssouveränität, eine politische Imagination.
Auch nachdem die althistorische Forschung die aristokratische Gesellschaft als Achse und Fundament der res publica ausgemacht hatte, ging sie, einer unausgesprochenen Wertentscheidung folgend, von einer prästabilen Ordnung aus, was sich auch in der Rede von der "klassischen Republik" ausdrückt. Die sich anschließenden einhundert Jahre vor Augustus erhielten demgegenüber Überschriften, die eine negative Dynamik ausdrücken: Krise, Revolution, Erosion, Verfall, Untergang.
Es ist wohl auch dem Abschied von solchen Wertperspektiven geschuldet, wenn sich in Egon Flaigs Studien über die politische Kultur der römischen Republik die Bemerkung findet, nicht so sehr die Veränderungen seien analysebedürftig, da sie sich im Wandel der Generationen von allein einstellten; viel schwieriger sei Stabilität zu erklären. Für den Greifswalder Althistoriker ist weder der meist unerschütterliche Gehorsam der nichtadligen Römer gegenüber der aristokratischen Elite noch der Konsens innerhalb der doch hochgradig auf Rang- und Prestigewettbewerb ausgerichteten politischen Elite selbstverständlich. In Rom zu herrschen, so macht die Lektüre rasch klar, hatte mit individueller Freiheit nichts zu tun.
Trotz Überlegenheit und großer sozialer Distanz lernten römische Adlige seit ihrer Kindheit, wie sie sich vor dem Volk zu benehmen und ihm Respekt zu erweisen, ja mitunter auch affektive Nähe an den Tag zu legen hatten. Wurden die erwartbaren Codes aus Gesten, Zeichen und Worten mißachtet, kam es rasch zu Gehorsamsverweigerungen, gelegentlich auch Gewaltakten; diese waren weder bedauerliche Ausnahmen noch Zeichen von Anarchie, sondern anerkannte Reaktionen einer wertkonservativen Plebs. Die Frage, ob man das reiche Ensemble der Habitusregeln und Kommunikationspraktiken, die hier mit Hilfe des von Pierre Bourdieu bereitgelegten methodischen Instrumentariums durch dichte Interpretationen aussagekräftiger Quellenzeugnisse rekonstruiert werden, noch unter dem Begriff der "Verfassung" subsumieren sollte, würde Flaig wohl verneinen.
Narben waren gern gesehen
Eher könnte man von einer zusätzlichen, dynamikstiftenden Dimension sprechen; aufgewiesen wird nämlich, wie sich die anderen Bestimmungsfaktoren der politischen Ordnung, etwa gesetzliche Regelungen, Kompetenzen der Ämter und Gremien oder die als mos maiorum bezeichneten Konventionen des Handelns, in grenzwertigen Situationen zur Geltung brachten oder eben gerade nicht ausgeschöpft wurden und welche Rolle erwartbares wie unerwartetes Verhalten der Akteure dabei spielte. In Flaigs subtilen Analysen eröffnet sich ein ungemein vielfältiges "Inventar von Differenzen"; vormals unverstanden Ignoriertes bekommt plötzlich Sinn. Warum weinten römische Feldherren bisweilen? Warum trugen sie keine Bärte, zeigten aber unter Umständen ihre Narben? Warum waren Volksversammlungen keine Entscheidungsorgane und gleichwohl politisch äußerst bedeutsam? Ob sich die ermittelten Zusammenhänge zu einer "Grammatik der römischen Politik" verdichten lassen, muß einstweilen offenbleiben; gerade der mikrohistorische Blick zwingt auch den Historiker zu einer Einsicht, die einst viele Senatoren und Tribune, die in einer Versammlung im Stich gelassen wurden, unmittelbar und schmerzhaft erfahren mußten: "Gesten wirkten nicht immer; Performanzen mißlangen."
Flaigs Sondagen in den komplexen Schichten der kulturellen Semantik und Pragmatik der römischen Republik sind auch für die Makrogeschichte von größter Bedeutung, wie ein Beispiel belegen mag: Der Gehorsam und die schier grenzenlose Opferbereitschaft der Bürgerschaft waren eine wesentliche Voraussetzung für den Siegeszug Roms in der Mittelmeerwelt. Doch die dadurch nach Italien strömenden Reichtümer kamen weitgehend nur einem Teil der Elite zugute und zerstörten so die Mechanismen des fairen Wettbewerbs. Diesen seit langem bekannten sozialgeschichtlichen Zusammenhang ergänzt Flaig durch eine Analyse der Verhaltens- und Erwartungsdispositionen, wie sie sich im Ritual des Triumphzuges verdichteten.
Ob der Triumphzug tatsächlich eine semantische Übereignung des Sieges allein an den Feldherrn darstellte, mag fraglich bleiben. Wichtiger ist die Beobachtung, daß einzelne senatorische Gruppen bis zum Ende der Republik darum kämpften, den Feldherrn und die Beute unter die Kontrolle der res publica zu bringen. Der Versuch, den Umtausch des semantisch eindeutig positiv besetzten Sieges in eine soziale und militärische Überwältigungsmacht zu verhindern, scheiterte am Ende. Das hätte man gern weiter ausgeführt gesehen.
Nachts überm Trümmerfeld
Flaig hat in früheren Aufsätzen die wissenschaftstheoretische und politische Substanz des Historismus mit überschießender Polemik verworfen. Davon wird kein Iota zurückgenommen. Aber der Autor weiß um die beiden Arcana des etablierten Modells, die sich mit den Stichwörtern ästhetische Evidenz und konstruktive Kreativität fassen lassen. Die "denkende Konstruktion" von Hergängen nennt er mit Max Weber das maßgebliche Merkmal, das Historie zu Wissenschaft mache. Die dafür unverzichtbare Phantasie freilich habe mit Kunst nicht das geringste zu tun, ihr Produkt nichts mit mimetischer Abbildung. "Wenn die Eule der Minerva einen nächtlichen Ausschnitt im Trümmerfeld der Vergangenheit überfliegt, formt sich in ihrem Auge kein Abbild der Geschichte. Was sie erblickt, erinnert am wenigsten an die mitreißende Abfolge ergreifender Szenen in einem Farbfilm, sondern lockt mit der logischen Schönheit von Gebilden fraktaler Geometrie."
Möglicherweise bleiben mathematische Fraktale, unbehelligt von jedem Überrest geronnener Wirklichkeit, die vollkommeneren Figuren. Wer aber nach zweihundertsechzig Seiten voller stringenter, disziplinierter Analyse solche Sätze schreibt, hinterläßt beim reich beschenkten Leser die Gewißheit, daß auch dem Autor die so eindringlich angeschaute Geschichte Glück verschafft, weil sie auf ihre Weise schön ist.
UWE WALTER
Egon Flaig: "Ritualisierte Politik". Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2003. 288 S., geb., 36,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Roms Chefetagen: Egon Flaig entschlüsselt die Herrschaftssprache
Die längste Zeit haben immer neue Generationen im Gefüge der römischen Republik nach den Geheimnissen von Stabilität und Selbstbehauptungsfähigkeit gesucht. Der Utilitarismus Machiavellis fand sie in der Staatsklugheit und den Tugenden der Römer; die fest im Ordnungsdenken und der Umsturzfurcht des neunzehnten Jahrhunderts verwurzelte Staatsrechtslehre Theodor Mommsens setzte auf die Amtsgewalt als rechtsförmige Basis und auf die Volkssouveränität, eine politische Imagination.
Auch nachdem die althistorische Forschung die aristokratische Gesellschaft als Achse und Fundament der res publica ausgemacht hatte, ging sie, einer unausgesprochenen Wertentscheidung folgend, von einer prästabilen Ordnung aus, was sich auch in der Rede von der "klassischen Republik" ausdrückt. Die sich anschließenden einhundert Jahre vor Augustus erhielten demgegenüber Überschriften, die eine negative Dynamik ausdrücken: Krise, Revolution, Erosion, Verfall, Untergang.
Es ist wohl auch dem Abschied von solchen Wertperspektiven geschuldet, wenn sich in Egon Flaigs Studien über die politische Kultur der römischen Republik die Bemerkung findet, nicht so sehr die Veränderungen seien analysebedürftig, da sie sich im Wandel der Generationen von allein einstellten; viel schwieriger sei Stabilität zu erklären. Für den Greifswalder Althistoriker ist weder der meist unerschütterliche Gehorsam der nichtadligen Römer gegenüber der aristokratischen Elite noch der Konsens innerhalb der doch hochgradig auf Rang- und Prestigewettbewerb ausgerichteten politischen Elite selbstverständlich. In Rom zu herrschen, so macht die Lektüre rasch klar, hatte mit individueller Freiheit nichts zu tun.
Trotz Überlegenheit und großer sozialer Distanz lernten römische Adlige seit ihrer Kindheit, wie sie sich vor dem Volk zu benehmen und ihm Respekt zu erweisen, ja mitunter auch affektive Nähe an den Tag zu legen hatten. Wurden die erwartbaren Codes aus Gesten, Zeichen und Worten mißachtet, kam es rasch zu Gehorsamsverweigerungen, gelegentlich auch Gewaltakten; diese waren weder bedauerliche Ausnahmen noch Zeichen von Anarchie, sondern anerkannte Reaktionen einer wertkonservativen Plebs. Die Frage, ob man das reiche Ensemble der Habitusregeln und Kommunikationspraktiken, die hier mit Hilfe des von Pierre Bourdieu bereitgelegten methodischen Instrumentariums durch dichte Interpretationen aussagekräftiger Quellenzeugnisse rekonstruiert werden, noch unter dem Begriff der "Verfassung" subsumieren sollte, würde Flaig wohl verneinen.
Narben waren gern gesehen
Eher könnte man von einer zusätzlichen, dynamikstiftenden Dimension sprechen; aufgewiesen wird nämlich, wie sich die anderen Bestimmungsfaktoren der politischen Ordnung, etwa gesetzliche Regelungen, Kompetenzen der Ämter und Gremien oder die als mos maiorum bezeichneten Konventionen des Handelns, in grenzwertigen Situationen zur Geltung brachten oder eben gerade nicht ausgeschöpft wurden und welche Rolle erwartbares wie unerwartetes Verhalten der Akteure dabei spielte. In Flaigs subtilen Analysen eröffnet sich ein ungemein vielfältiges "Inventar von Differenzen"; vormals unverstanden Ignoriertes bekommt plötzlich Sinn. Warum weinten römische Feldherren bisweilen? Warum trugen sie keine Bärte, zeigten aber unter Umständen ihre Narben? Warum waren Volksversammlungen keine Entscheidungsorgane und gleichwohl politisch äußerst bedeutsam? Ob sich die ermittelten Zusammenhänge zu einer "Grammatik der römischen Politik" verdichten lassen, muß einstweilen offenbleiben; gerade der mikrohistorische Blick zwingt auch den Historiker zu einer Einsicht, die einst viele Senatoren und Tribune, die in einer Versammlung im Stich gelassen wurden, unmittelbar und schmerzhaft erfahren mußten: "Gesten wirkten nicht immer; Performanzen mißlangen."
Flaigs Sondagen in den komplexen Schichten der kulturellen Semantik und Pragmatik der römischen Republik sind auch für die Makrogeschichte von größter Bedeutung, wie ein Beispiel belegen mag: Der Gehorsam und die schier grenzenlose Opferbereitschaft der Bürgerschaft waren eine wesentliche Voraussetzung für den Siegeszug Roms in der Mittelmeerwelt. Doch die dadurch nach Italien strömenden Reichtümer kamen weitgehend nur einem Teil der Elite zugute und zerstörten so die Mechanismen des fairen Wettbewerbs. Diesen seit langem bekannten sozialgeschichtlichen Zusammenhang ergänzt Flaig durch eine Analyse der Verhaltens- und Erwartungsdispositionen, wie sie sich im Ritual des Triumphzuges verdichteten.
Ob der Triumphzug tatsächlich eine semantische Übereignung des Sieges allein an den Feldherrn darstellte, mag fraglich bleiben. Wichtiger ist die Beobachtung, daß einzelne senatorische Gruppen bis zum Ende der Republik darum kämpften, den Feldherrn und die Beute unter die Kontrolle der res publica zu bringen. Der Versuch, den Umtausch des semantisch eindeutig positiv besetzten Sieges in eine soziale und militärische Überwältigungsmacht zu verhindern, scheiterte am Ende. Das hätte man gern weiter ausgeführt gesehen.
Nachts überm Trümmerfeld
Flaig hat in früheren Aufsätzen die wissenschaftstheoretische und politische Substanz des Historismus mit überschießender Polemik verworfen. Davon wird kein Iota zurückgenommen. Aber der Autor weiß um die beiden Arcana des etablierten Modells, die sich mit den Stichwörtern ästhetische Evidenz und konstruktive Kreativität fassen lassen. Die "denkende Konstruktion" von Hergängen nennt er mit Max Weber das maßgebliche Merkmal, das Historie zu Wissenschaft mache. Die dafür unverzichtbare Phantasie freilich habe mit Kunst nicht das geringste zu tun, ihr Produkt nichts mit mimetischer Abbildung. "Wenn die Eule der Minerva einen nächtlichen Ausschnitt im Trümmerfeld der Vergangenheit überfliegt, formt sich in ihrem Auge kein Abbild der Geschichte. Was sie erblickt, erinnert am wenigsten an die mitreißende Abfolge ergreifender Szenen in einem Farbfilm, sondern lockt mit der logischen Schönheit von Gebilden fraktaler Geometrie."
Möglicherweise bleiben mathematische Fraktale, unbehelligt von jedem Überrest geronnener Wirklichkeit, die vollkommeneren Figuren. Wer aber nach zweihundertsechzig Seiten voller stringenter, disziplinierter Analyse solche Sätze schreibt, hinterläßt beim reich beschenkten Leser die Gewißheit, daß auch dem Autor die so eindringlich angeschaute Geschichte Glück verschafft, weil sie auf ihre Weise schön ist.
UWE WALTER
Egon Flaig: "Ritualisierte Politik". Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2003. 288 S., geb., 36,90 [Euro].
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'Das Buch ist ausgezeichnet geschrieben und lädt durch spannende Konflikt-Geschichten den Leser zum Nachvollziehen des Gesagten ein.(...) So ermöglicht das vorliegende Buch sowohl durch seine Thematik als auch durch seine Methodik einen neuen Blick auf eine vermeintlich wohlbekannte Epoche.' (Frank Wittchow in 'Gymnasium')
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Im 19. Jahrhundert, erläutert Wilfried Nippel, presste Theodor Mommsen das komplexe "Geflecht aus Rechtstraditionen, gesetzlichen Regelungen punktueller Natur und Konventionen auf der Basis unbestrittener Praxis", das der Nobilität des Alten Rom die Macht sicherte, in die Kategorie eines Staatsrechtes; diese sei aber seit langem nicht mehr ausreichend. Höchste Zeit also für eine alternative Darstellung, meint Nippel und spricht Egon Flaig großes Lob aus. Der Autor referiere auf Erkenntnisse Bourdieus, um die "Römische Verfassung" als ein System zu fassen, dass "auf den Praktiken der Interaktion, den Regeln der Kommunikation und dem Habitus der beteiligten Gruppen gründe". Mit anderen Worten: Die Herrschenden sicherten ihre Macht mit Hilfe des symbolischen Kapitals, das sie in öffentlichen Inszenierungen erneuerten, sowie durch den geschickten Ausgleich verschiedener Interessen; die Volksversammlung war, so der Autor, "ein Konsens-, kein Entscheidungsorgan". Der Rezensent stimmt ihm zu und begrüßt die "kulturtheoretischen Konzeptionen" Flaigs als Ergänzung - nicht jedoch als Ersatz - der staatsrechtlichen Analyse. Man solle sich, fügt er noch hinzu, von der "manchmal übertrieben artifiziellen Sprache nicht stören lassen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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