Robert Campin gehört zu den großen Meistern der frühen niederländischen Malerei: Da er seine Werke aber nicht signierte, geriet sein Name bald in Vergessenheit und wurden seinem Schüler Roger van der Weyden zugeordnet. Felix Thürlemann zeigt im Hauptteil des vorliegenden Bandes den vollständig überarbeiteten Katalog der Werke Campins, seiner Werkstatt und seiner Schüler sowie der Arbeiten, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem Oeuvre des Künstlers auszuscheiden sind.
Detailaufnahmen in Originalgröße ermöglichen nicht nur ein genaues Studium der technisch vollendeten Malerei Campins und ihrer raffinierten Farbgebung, sondern auch einen Vergleich der Detailabbildungen miteinander.
Detailaufnahmen in Originalgröße ermöglichen nicht nur ein genaues Studium der technisch vollendeten Malerei Campins und ihrer raffinierten Farbgebung, sondern auch einen Vergleich der Detailabbildungen miteinander.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.02.2003Trauernde Finanzbeamte
Robert Campin war lange vergessen, bis er als Begründer der altniederländischen Malerei wiederentdeckt wurde
Gelegentlich nimmt die Rezeptionsgeschichte eines Künstlers seltsame Verläufe. Der Maler Robert Campin aus Tournai, der heute als einer der Begründer der altniederländischen Malerei gilt, geriet schon hundert Jahre nach seinem Tod in Vergessenheit. Er hatte seine Werke nie signiert, und so begann der Ruhm seines ungleich mobileren Schülers Rogier van der Weyden den seinen bald zu überstrahlen. Mit Beginn der positivistischen Forschung im 19. Jahrhundert wurden seine Gemälde in die Œuvre Jan van Eycks, Hans Memlings und vor allem Rogier van der Weydens eingegliedert.
Erst um die Jahrhundertwende gelang es Hugo von Tschudi, in ihnen eine eigenständige künstlerische Persönlichkeit auszumachen, die er nach drei, angeblich aus einer Abtei bei Flémalle stammenden Tafeln im Frankfurter Städel mit dem Notnamen „Meister von Flémalle” belegte. Dieser Name findet sich noch heute gelegentlich auf den Werkbeschriftungen in den Museen, obwohl nur wenige Jahre nach Tschudis Entdeckung Hulin de Loo den „Meister von Flémalle” als Robert Campin, den urkundlich belegten Lehrer von Jacques Daret und Rogier van der Weyden, identifizieren konnte.
Über das Leben und soziale Umfeld Campins sind wir gut informiert: Er erhielt im Jahr 1410 das Bürgerrecht von Tournai und war Zeit seines Lebens in Rechtsstreitigkeiten verwickelt. Doch wie es der Zufall wollte, lässt sich kein einziges der immerhin knapp siebzig erhaltenen Dokumente, die sich mit ihm verbinden lassen, auf eines seiner noch erhaltenen Gemälde beziehen. Es liegt auf der Hand, dass diese Umstände Kontroversen um sein malerisches Profil und die Abgrenzung seines Œuvres – gerade zu dem von Rogier – auslösen mussten.
In einer neuen Künstlermonographie mit Werkkatalog nebst umfangreichem Dokumentenanhang bezieht Felix Thürlemann nun noch einmal pointiert in dieser Debatte Stellung. Dabei greift er teilweise auf frühere Publikationen in Aufsatzform zurück und stellt die Ergebnisse in einen Werkzusammenhang. So sieht er in einigen Tapisserien aus dem Chor der Kathedrale von Tournai mit Szenen aus den Viten der Stadtheiligen Piatus und Eleutherius den noch jungen Campin am Werk, der seine Fähigkeit, zahlreiche Motive in ein komplexes und doch gut lesbares Handlungsgefüge zu integrieren, ausbildet.
Thürlemanns Rekonstruktionen der ursprünglichen Entstehungsumstände von Campins Werk sind durchaus attraktiv, auch wenn sie vorerst Hypothesen bleiben müssen; so sein Vorschlag, in der exzellenten Federzeichnung mit der „Grablegung Christi” im Louvre die Entwurfszeichnung für einen Altar zu sehen, den Barthélemy Alatruye bei Campin in Auftrag gab. Die Familie Alatruye besaß eine Grabkapelle in der Pfarrkirche La Madeleine in Lille, und möglicherweise war das postulierte Altarbild für sie gedacht. Dafür spricht, dass die Figur der expressiv trauernden Magdalena, der Titelheiligen der Kirche, in Campins Zeichnung besonders hervorgehoben ist. Den Liller Finanzbeamten und Vertrauten des burgundischen Herrscherhauses hatte Campin bereits in einem Ehepaardiptychon porträtiert, und seine Gesichtszüge möchte Thürlemann auch in der Figur des Nikodemus im Pariser Blatt wiedererkennen. Träfe dies zu, hätten wir hier den ältesten Beleg für ein Rollenporträt in der Gestalt des Nikodemus, das nicht nur in der altniederländischen Malerei große Verbreitung finden sollte.
Sicher ist, dass in der Pariser Zeichnung bereits eine Bildidee vorformuliert ist, die in einem ungleich bekannteren Gemälde konzeptuell dominant wird, und zwar in der großen Madrider „Kreuzabnahme Christi”, die zu Recht als eines der Hauptwerke der altniederländischen Malerei gilt. Sie schmückte ursprünglich den Altar der Großen Gilde der Armbrustschützen in der Marienkirche von Löwen. Hier ist ganz ähnlich wie in der Pariser Zeichnung ein goldener Schreinkasten fingiert, mit dem auf die üblichen Gestaltungsmerkmale von Altären dieser Zeit rekurriert wird. Die Figuren im Bild sind jedoch nicht in Grisaille-Technik ausgeführt, sondern buntfarbig und wirken durch diesen ungewöhnlichen Medienwechsel umso lebendiger. Wie in einem Bewegungsablauf erfasst, schwingt der Mantel des Johannes, der der ohnmächtig niedersinkenden Maria zu Hilfe eilen will, aus, und Nikodemus tritt beim Ergreifen der Beine Christi in einer spontanen Drehbewegung auf das Kleid von Magdalena. Durch solche Momente der dramatischen Zuspitzung des Geschehens wird auf die unmittelbare Vergegenwärtigung des Dargestellten gezielt. Dies geht einher mit deutlichen Zeichen des Mitleidens der Figuren im Bild: Nikodemus blickt tränenüberströmt auf den Leichnam Christi und fordert so den Betrachter zur Empathie mit dem Gekreuzigten auf. Doch wer hat dieses Meisterwerk, das um die Mitte des 16. Jahrhunderts als „das beste Stück ... in der ganzen Welt” gerühmt wurde, gemalt? Zeitgenössische Quellen gibt es nicht, und hundert Jahre nach ihrer Entstehung hält man die Tafel für ein Werk Rogiers. Dem hat sich der größere Teil der Forschung angeschlossen. Immer wieder wurde jedoch auch der Name Campins genannt, denn es schien nur schwer vorstellbar, dass der junge Rogier zu einem solchen Geniestreich imstande war. Die in dieser Kontroverse vermittelnden Positionen von Hans Belting und Christiane Kruse, die die Bildidee der „Kreuzabnahme” Campin und ihre Ausarbeitung Rogier zuweisen, möchte Thürlemann nicht akzeptieren; für ihn ist das Madrider Gemälde Campins letztes Meisterwerk, dem er die drei Frankfurter Tafeln des „Meisters von Flémalle” als Seitentafeln zuordnet. Man wird sehen, ob die Diskussion um Rogier und Campin noch einmal in Gang zu bringen ist. VALESKA VON ROSEN
FELIX THÜRLEMANN: Robert Campin. Eine Monographie mit Werkkatalog. Prestel Verlag, München 2002. 388 Seiten, 99 Euro.
Die Madrider Kreuzabnahme von Robert Campin, um 1430. Foto: Prado Museum Madrid / Prestel Verlag
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Robert Campin war lange vergessen, bis er als Begründer der altniederländischen Malerei wiederentdeckt wurde
Gelegentlich nimmt die Rezeptionsgeschichte eines Künstlers seltsame Verläufe. Der Maler Robert Campin aus Tournai, der heute als einer der Begründer der altniederländischen Malerei gilt, geriet schon hundert Jahre nach seinem Tod in Vergessenheit. Er hatte seine Werke nie signiert, und so begann der Ruhm seines ungleich mobileren Schülers Rogier van der Weyden den seinen bald zu überstrahlen. Mit Beginn der positivistischen Forschung im 19. Jahrhundert wurden seine Gemälde in die Œuvre Jan van Eycks, Hans Memlings und vor allem Rogier van der Weydens eingegliedert.
Erst um die Jahrhundertwende gelang es Hugo von Tschudi, in ihnen eine eigenständige künstlerische Persönlichkeit auszumachen, die er nach drei, angeblich aus einer Abtei bei Flémalle stammenden Tafeln im Frankfurter Städel mit dem Notnamen „Meister von Flémalle” belegte. Dieser Name findet sich noch heute gelegentlich auf den Werkbeschriftungen in den Museen, obwohl nur wenige Jahre nach Tschudis Entdeckung Hulin de Loo den „Meister von Flémalle” als Robert Campin, den urkundlich belegten Lehrer von Jacques Daret und Rogier van der Weyden, identifizieren konnte.
Über das Leben und soziale Umfeld Campins sind wir gut informiert: Er erhielt im Jahr 1410 das Bürgerrecht von Tournai und war Zeit seines Lebens in Rechtsstreitigkeiten verwickelt. Doch wie es der Zufall wollte, lässt sich kein einziges der immerhin knapp siebzig erhaltenen Dokumente, die sich mit ihm verbinden lassen, auf eines seiner noch erhaltenen Gemälde beziehen. Es liegt auf der Hand, dass diese Umstände Kontroversen um sein malerisches Profil und die Abgrenzung seines Œuvres – gerade zu dem von Rogier – auslösen mussten.
In einer neuen Künstlermonographie mit Werkkatalog nebst umfangreichem Dokumentenanhang bezieht Felix Thürlemann nun noch einmal pointiert in dieser Debatte Stellung. Dabei greift er teilweise auf frühere Publikationen in Aufsatzform zurück und stellt die Ergebnisse in einen Werkzusammenhang. So sieht er in einigen Tapisserien aus dem Chor der Kathedrale von Tournai mit Szenen aus den Viten der Stadtheiligen Piatus und Eleutherius den noch jungen Campin am Werk, der seine Fähigkeit, zahlreiche Motive in ein komplexes und doch gut lesbares Handlungsgefüge zu integrieren, ausbildet.
Thürlemanns Rekonstruktionen der ursprünglichen Entstehungsumstände von Campins Werk sind durchaus attraktiv, auch wenn sie vorerst Hypothesen bleiben müssen; so sein Vorschlag, in der exzellenten Federzeichnung mit der „Grablegung Christi” im Louvre die Entwurfszeichnung für einen Altar zu sehen, den Barthélemy Alatruye bei Campin in Auftrag gab. Die Familie Alatruye besaß eine Grabkapelle in der Pfarrkirche La Madeleine in Lille, und möglicherweise war das postulierte Altarbild für sie gedacht. Dafür spricht, dass die Figur der expressiv trauernden Magdalena, der Titelheiligen der Kirche, in Campins Zeichnung besonders hervorgehoben ist. Den Liller Finanzbeamten und Vertrauten des burgundischen Herrscherhauses hatte Campin bereits in einem Ehepaardiptychon porträtiert, und seine Gesichtszüge möchte Thürlemann auch in der Figur des Nikodemus im Pariser Blatt wiedererkennen. Träfe dies zu, hätten wir hier den ältesten Beleg für ein Rollenporträt in der Gestalt des Nikodemus, das nicht nur in der altniederländischen Malerei große Verbreitung finden sollte.
Sicher ist, dass in der Pariser Zeichnung bereits eine Bildidee vorformuliert ist, die in einem ungleich bekannteren Gemälde konzeptuell dominant wird, und zwar in der großen Madrider „Kreuzabnahme Christi”, die zu Recht als eines der Hauptwerke der altniederländischen Malerei gilt. Sie schmückte ursprünglich den Altar der Großen Gilde der Armbrustschützen in der Marienkirche von Löwen. Hier ist ganz ähnlich wie in der Pariser Zeichnung ein goldener Schreinkasten fingiert, mit dem auf die üblichen Gestaltungsmerkmale von Altären dieser Zeit rekurriert wird. Die Figuren im Bild sind jedoch nicht in Grisaille-Technik ausgeführt, sondern buntfarbig und wirken durch diesen ungewöhnlichen Medienwechsel umso lebendiger. Wie in einem Bewegungsablauf erfasst, schwingt der Mantel des Johannes, der der ohnmächtig niedersinkenden Maria zu Hilfe eilen will, aus, und Nikodemus tritt beim Ergreifen der Beine Christi in einer spontanen Drehbewegung auf das Kleid von Magdalena. Durch solche Momente der dramatischen Zuspitzung des Geschehens wird auf die unmittelbare Vergegenwärtigung des Dargestellten gezielt. Dies geht einher mit deutlichen Zeichen des Mitleidens der Figuren im Bild: Nikodemus blickt tränenüberströmt auf den Leichnam Christi und fordert so den Betrachter zur Empathie mit dem Gekreuzigten auf. Doch wer hat dieses Meisterwerk, das um die Mitte des 16. Jahrhunderts als „das beste Stück ... in der ganzen Welt” gerühmt wurde, gemalt? Zeitgenössische Quellen gibt es nicht, und hundert Jahre nach ihrer Entstehung hält man die Tafel für ein Werk Rogiers. Dem hat sich der größere Teil der Forschung angeschlossen. Immer wieder wurde jedoch auch der Name Campins genannt, denn es schien nur schwer vorstellbar, dass der junge Rogier zu einem solchen Geniestreich imstande war. Die in dieser Kontroverse vermittelnden Positionen von Hans Belting und Christiane Kruse, die die Bildidee der „Kreuzabnahme” Campin und ihre Ausarbeitung Rogier zuweisen, möchte Thürlemann nicht akzeptieren; für ihn ist das Madrider Gemälde Campins letztes Meisterwerk, dem er die drei Frankfurter Tafeln des „Meisters von Flémalle” als Seitentafeln zuordnet. Man wird sehen, ob die Diskussion um Rogier und Campin noch einmal in Gang zu bringen ist. VALESKA VON ROSEN
FELIX THÜRLEMANN: Robert Campin. Eine Monographie mit Werkkatalog. Prestel Verlag, München 2002. 388 Seiten, 99 Euro.
Die Madrider Kreuzabnahme von Robert Campin, um 1430. Foto: Prado Museum Madrid / Prestel Verlag
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2003Ist der Eifer missionarisch, folgen Thesen gerne nach
Entschlackt wächst alles zusammen: Felix Thürlemann will den Streit um Robert Campin entscheiden
Seit mehr als hundertfünfzig Jahren versucht die Kunstgeschichte erfolglos, zwei der dringendsten und zugleich hartnäckigsten Forschungskomplexe altniederländischer Kunst zu entwirren. Die Gelehrten scheiterten daran, den Anteil von Hubert und Jan van Eyck am Genter Altar zu trennen, und auch die Frage nach dem Frühwerk von Rogier van der Weyden und der Beziehung zu dem mit seinem Lehrer Campin zu identifizierenden "Meister von Flèmalle" darf, allen Anstrengungen zum Trotz, weiter als offen gelten. Mangel an Ambition und origineller Auffassung kann man denen, die sich eifrig am Durchschlagen beider gordischer Knoten versuchten, sicher nicht unterstellen, doch wird man vollmundig vorgetragenen "Antworten" heute besser mit Skepsis begegnen.
Nun hat Felix Thürlemann eine üppig bebilderte Monographie zu Robert Campin vorgelegt, die zwingend natürlich auch dessen Verhältnis zu Rogier van der Weyden berührt. Thürlemanns Buch enthält einen Essay, der die Biographie des in Tournai wirkenden Malers sowie dessen künstlerischen Werdegang anhand vermeintlicher Werkgruppen behandelt. Ausführlich widmet sich der Autor Campins kunsthistorischer Stellung, untersucht dessen Beziehung zu Van Eyck, erkennt den Einfluß italienischer Kunst, macht sich über das Verhältnis des Meisters zu dessen Schülern Gedanken und erörtert Ausstrahlung sowie das Nachleben seiner Kompositionen.
Es folgt ein Werkkatalog mit den hier als original angesehenen oder aus Kopien rekonstruierten Werken Campins, der andere Tafeln ausscheidet sowie ein Verzeichnis der als Arbeiten von Campins Schülern angesehenen Gemälde bietet. Schließlich werden die Dokumente abgedruckt, die Campin erwähnen. Überall im neuen Buch spürt man den missionarischen Eifer des Autors, jenen bald nach seinem Tode vergessenen Meister als einen der bahnbrechenden Neuerer der frühneuzeitlichen Kunst neben den Gebrüdern Van Eyck und noch vor Van der Weyden zu situieren, und man fragt sich unweigerlich, warum.
Denn es ist ja keineswegs so, daß man den wesentlichen Beitrag des zunächst in der Abgrenzung zu Rogier als "Meister von Flèmalle" in die Kunstgeschichte eingeführten Künstlers für die Entwicklung der niederländischen Malerei bislang verkannt hätte. Zuletzt 1996 veröffentlichte Albert Châtelet eine opulente Studie, die provokante Hypothesen zu Chronologie und künstlerischer Herkunft Campins enthielt sowie, auf Grundlage des Corpus von Unterzeichnungen der Flèmalle- und der Van der Weyden-Gruppe, den umstrittenen Versuch unternahm, dessen Leistung von der seiner Schüler und Nachahmer zu trennen und so den Flèmaller "Ur-Meister" zu restituieren. Auch Stephan Kemperdick stellte 1997 eine vielbeachtete Studie über die Werkstatt Robert Campins vor, in der er Rogier, dem Gesellen Campins, einen wesentlichen Anteil an der malerischen Ausführung von einigen der bis dahin als Hauptwerke seines Meisters geltenden Gemälde, darunter Teile der Frankfurter Flèmalle-Tafeln, zuwies.
Thürlemann zeigt sich von den bisherigen Thesen der Forschung wenig beeindruckt, die er bewußt selektiv verarbeitet. Dies ist im Prinzip legitim, denn so wird die Argumentation entschlackt, treten die Hauptthesen des Autors pointiert hervor, denen man, um es gelinde zu sagen, mit allergrößter Vorsicht zu begegnen hat.
So liest man eingangs etwa, daß der Autor seine Studie als einen methodenkritischen Beitrag zur kennerschaftlichen Praxis verstanden wissen will, da er neben der Betrachtung des eigentlichen Malstils auch mit Nachdruck die Bestimmung der künstlerischen Konzepte Campins beabsichtigt; spätestens seit Otto Pächts scharfsinnigen Analysen altniederländischer Meister hätte deutlich sein müssen, daß sich Kennerschaft längst nicht mehr nur auf Morelli beruft. Entgegen der postulierten Methodenkritik vermeidet es der Autor indes sorgsam, die konventionellen Kriterien der Stilkritik durch wirklich innovative, historisch fundierte Beurteilungsmaßstäbe zu ersetzen, die vielleicht zu einer umfassenden Neubewertung der Kunst Campins hätten führen können; statt dessen argumentiert er selbst über weite Strecken vom Standpunkt kennerhafter Unfehlbarkeit, was heutzutage eher irritiert und einen zwiespältigen Eindruck hinterläßt.
Eloquent, und dies beginnt bereits in der "Biographie" Campins, wird Thürlemann nämlich oft das zur Gewißheit, was bestenfalls als kaum gesicherte Hypothese gelten darf. Der Umstand etwa, daß Campin 1410 das Bürgerrecht der Stadt Tournai erwarb, spricht laut Thürlemann nicht etwa für einen Zuzug des Malers aus der Fremde; die - im übrigen teuer bezahlte - Anerkennung des Bürgerrechtes ist ihm vielmehr Zeugnis der künstlerischen Reputation Campins, die er mit dessen Tätigkeit als Stadtmaler begründet. Daß es das Amt in Tournai gar nicht gab, wird mit dem Hinweis auf Aufträge der Stadt beiseite gefegt, obwohl Campins Werkstatt ja nicht allein von Tournais öffentlicher Hand berücksichtigt wurde. Auch daß es in den Büchern der burgundischen Rechnungskammern keinen einzigen Hinweis auf Vergütungen an Campin gibt, welche die hier vehement vertretene Neuzuschreibung der Entwürfe der berühmten Stickereien auf den Wiener Chormänteln des Vliesordens stützen könnten, hätte eigentlich einer Erklärung bedurft.
Man könnte hierüber hinwegsehen, läge dem von Thürlemann gezeichneten Bild von Campin nicht ein fundamentales Mißverständnis zugrunde, an dem das ganze Buch letztlich scheitert. Denn Thürlemanns Restitution Campins erfolgt weitgehend auf Kosten von Rogier van der Weyden. Thürlemann will dessen frühes Meisterwerk, die Kreuzabnahme in Madrid, jetzt als ein Hauptwerk Campins begreifen. Daß die Tafel erst ab Mitte des sechzehnten Jahrhunderts sicher als ein Werk Rogiers bekannt war, läßt gewiß Zweifel zu, kann die Zuschreibung an Campin - an der 1966 bereits Mojimir Frinta scheiterte - deshalb indes noch lange nicht begründen. Denn mit dem Berliner Miraflores-Altar existiert noch ein zweites, früh beglaubigtes Werk Rogiers, das auch dessen Autorschaft der Kreuzabnahme zweifelsfrei befestigt.
So offenbart das Buch eine gründliche Fehleinschätzung der Kunst Rogier van der Weydens, die freilich zugleich ein alarmierendes Verkennen der Persönlichkeit Campins bedeutet. Denn hier wird auch noch ernstlich der Vorschlag unterbreitet, die Kreuzabnahme mit den "Flèmaller Tafeln" als Flügelbilder zu ergänzen. Man darf sich an dieser Stelle in Erinnerung rufen, daß es ja gerade die Unvereinbarkeit des Stils beider Werke war, die erst zu der Restitution Campins führte - die hervorragenden Abbildungen des Buches verdeutlichen unmittelbar, warum.
Thürlemann läßt zusammenwachsen, was niemals zusammengehörte, wenn er Rogiers Kreuzabnahme, die "Flèmalle-Tafeln" und den von Mitarbeitern geschaffenen "Mérode-Altar" gleichermaßen als künstlerische Leistungen Campins zu erkennen glaubt. Hier wie übrigens auch in Thürlemanns eklatanten Fehlzuschreibungen dreier Zeichnungen an Campin führt sich der Anspruch eines methodenkritischen Beitrages zur kennerschaftlichen Praxis wohl selbst ad absurdum.
TILL-HOLGER BORCHERT
Felix Thürlemann: "Robert Campin". Eine Monographie mit Werkkatalog. Prestel Verlag, München 2002. 387 S., 350 Farb- u. S/W-Abb., geb., 129,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Entschlackt wächst alles zusammen: Felix Thürlemann will den Streit um Robert Campin entscheiden
Seit mehr als hundertfünfzig Jahren versucht die Kunstgeschichte erfolglos, zwei der dringendsten und zugleich hartnäckigsten Forschungskomplexe altniederländischer Kunst zu entwirren. Die Gelehrten scheiterten daran, den Anteil von Hubert und Jan van Eyck am Genter Altar zu trennen, und auch die Frage nach dem Frühwerk von Rogier van der Weyden und der Beziehung zu dem mit seinem Lehrer Campin zu identifizierenden "Meister von Flèmalle" darf, allen Anstrengungen zum Trotz, weiter als offen gelten. Mangel an Ambition und origineller Auffassung kann man denen, die sich eifrig am Durchschlagen beider gordischer Knoten versuchten, sicher nicht unterstellen, doch wird man vollmundig vorgetragenen "Antworten" heute besser mit Skepsis begegnen.
Nun hat Felix Thürlemann eine üppig bebilderte Monographie zu Robert Campin vorgelegt, die zwingend natürlich auch dessen Verhältnis zu Rogier van der Weyden berührt. Thürlemanns Buch enthält einen Essay, der die Biographie des in Tournai wirkenden Malers sowie dessen künstlerischen Werdegang anhand vermeintlicher Werkgruppen behandelt. Ausführlich widmet sich der Autor Campins kunsthistorischer Stellung, untersucht dessen Beziehung zu Van Eyck, erkennt den Einfluß italienischer Kunst, macht sich über das Verhältnis des Meisters zu dessen Schülern Gedanken und erörtert Ausstrahlung sowie das Nachleben seiner Kompositionen.
Es folgt ein Werkkatalog mit den hier als original angesehenen oder aus Kopien rekonstruierten Werken Campins, der andere Tafeln ausscheidet sowie ein Verzeichnis der als Arbeiten von Campins Schülern angesehenen Gemälde bietet. Schließlich werden die Dokumente abgedruckt, die Campin erwähnen. Überall im neuen Buch spürt man den missionarischen Eifer des Autors, jenen bald nach seinem Tode vergessenen Meister als einen der bahnbrechenden Neuerer der frühneuzeitlichen Kunst neben den Gebrüdern Van Eyck und noch vor Van der Weyden zu situieren, und man fragt sich unweigerlich, warum.
Denn es ist ja keineswegs so, daß man den wesentlichen Beitrag des zunächst in der Abgrenzung zu Rogier als "Meister von Flèmalle" in die Kunstgeschichte eingeführten Künstlers für die Entwicklung der niederländischen Malerei bislang verkannt hätte. Zuletzt 1996 veröffentlichte Albert Châtelet eine opulente Studie, die provokante Hypothesen zu Chronologie und künstlerischer Herkunft Campins enthielt sowie, auf Grundlage des Corpus von Unterzeichnungen der Flèmalle- und der Van der Weyden-Gruppe, den umstrittenen Versuch unternahm, dessen Leistung von der seiner Schüler und Nachahmer zu trennen und so den Flèmaller "Ur-Meister" zu restituieren. Auch Stephan Kemperdick stellte 1997 eine vielbeachtete Studie über die Werkstatt Robert Campins vor, in der er Rogier, dem Gesellen Campins, einen wesentlichen Anteil an der malerischen Ausführung von einigen der bis dahin als Hauptwerke seines Meisters geltenden Gemälde, darunter Teile der Frankfurter Flèmalle-Tafeln, zuwies.
Thürlemann zeigt sich von den bisherigen Thesen der Forschung wenig beeindruckt, die er bewußt selektiv verarbeitet. Dies ist im Prinzip legitim, denn so wird die Argumentation entschlackt, treten die Hauptthesen des Autors pointiert hervor, denen man, um es gelinde zu sagen, mit allergrößter Vorsicht zu begegnen hat.
So liest man eingangs etwa, daß der Autor seine Studie als einen methodenkritischen Beitrag zur kennerschaftlichen Praxis verstanden wissen will, da er neben der Betrachtung des eigentlichen Malstils auch mit Nachdruck die Bestimmung der künstlerischen Konzepte Campins beabsichtigt; spätestens seit Otto Pächts scharfsinnigen Analysen altniederländischer Meister hätte deutlich sein müssen, daß sich Kennerschaft längst nicht mehr nur auf Morelli beruft. Entgegen der postulierten Methodenkritik vermeidet es der Autor indes sorgsam, die konventionellen Kriterien der Stilkritik durch wirklich innovative, historisch fundierte Beurteilungsmaßstäbe zu ersetzen, die vielleicht zu einer umfassenden Neubewertung der Kunst Campins hätten führen können; statt dessen argumentiert er selbst über weite Strecken vom Standpunkt kennerhafter Unfehlbarkeit, was heutzutage eher irritiert und einen zwiespältigen Eindruck hinterläßt.
Eloquent, und dies beginnt bereits in der "Biographie" Campins, wird Thürlemann nämlich oft das zur Gewißheit, was bestenfalls als kaum gesicherte Hypothese gelten darf. Der Umstand etwa, daß Campin 1410 das Bürgerrecht der Stadt Tournai erwarb, spricht laut Thürlemann nicht etwa für einen Zuzug des Malers aus der Fremde; die - im übrigen teuer bezahlte - Anerkennung des Bürgerrechtes ist ihm vielmehr Zeugnis der künstlerischen Reputation Campins, die er mit dessen Tätigkeit als Stadtmaler begründet. Daß es das Amt in Tournai gar nicht gab, wird mit dem Hinweis auf Aufträge der Stadt beiseite gefegt, obwohl Campins Werkstatt ja nicht allein von Tournais öffentlicher Hand berücksichtigt wurde. Auch daß es in den Büchern der burgundischen Rechnungskammern keinen einzigen Hinweis auf Vergütungen an Campin gibt, welche die hier vehement vertretene Neuzuschreibung der Entwürfe der berühmten Stickereien auf den Wiener Chormänteln des Vliesordens stützen könnten, hätte eigentlich einer Erklärung bedurft.
Man könnte hierüber hinwegsehen, läge dem von Thürlemann gezeichneten Bild von Campin nicht ein fundamentales Mißverständnis zugrunde, an dem das ganze Buch letztlich scheitert. Denn Thürlemanns Restitution Campins erfolgt weitgehend auf Kosten von Rogier van der Weyden. Thürlemann will dessen frühes Meisterwerk, die Kreuzabnahme in Madrid, jetzt als ein Hauptwerk Campins begreifen. Daß die Tafel erst ab Mitte des sechzehnten Jahrhunderts sicher als ein Werk Rogiers bekannt war, läßt gewiß Zweifel zu, kann die Zuschreibung an Campin - an der 1966 bereits Mojimir Frinta scheiterte - deshalb indes noch lange nicht begründen. Denn mit dem Berliner Miraflores-Altar existiert noch ein zweites, früh beglaubigtes Werk Rogiers, das auch dessen Autorschaft der Kreuzabnahme zweifelsfrei befestigt.
So offenbart das Buch eine gründliche Fehleinschätzung der Kunst Rogier van der Weydens, die freilich zugleich ein alarmierendes Verkennen der Persönlichkeit Campins bedeutet. Denn hier wird auch noch ernstlich der Vorschlag unterbreitet, die Kreuzabnahme mit den "Flèmaller Tafeln" als Flügelbilder zu ergänzen. Man darf sich an dieser Stelle in Erinnerung rufen, daß es ja gerade die Unvereinbarkeit des Stils beider Werke war, die erst zu der Restitution Campins führte - die hervorragenden Abbildungen des Buches verdeutlichen unmittelbar, warum.
Thürlemann läßt zusammenwachsen, was niemals zusammengehörte, wenn er Rogiers Kreuzabnahme, die "Flèmalle-Tafeln" und den von Mitarbeitern geschaffenen "Mérode-Altar" gleichermaßen als künstlerische Leistungen Campins zu erkennen glaubt. Hier wie übrigens auch in Thürlemanns eklatanten Fehlzuschreibungen dreier Zeichnungen an Campin führt sich der Anspruch eines methodenkritischen Beitrages zur kennerschaftlichen Praxis wohl selbst ad absurdum.
TILL-HOLGER BORCHERT
Felix Thürlemann: "Robert Campin". Eine Monographie mit Werkkatalog. Prestel Verlag, München 2002. 387 S., 350 Farb- u. S/W-Abb., geb., 129,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Heutzutage gilt Robert Campin als Begründer der altniederländischen Malerei, schickt Valeska von Rosen ihrer Rezension voraus und erläutert, dass wir diese Tatsache Hugo von Tschudi verdanken, der Anfang des 20. Jahrhunderts die prinzipiell nicht signierten Bilder Campins als eigenständige Werke identifizierte und aus der altniederländischen Schule herauslösen konnte. Vorher wurden Campins Werke dem Oeuvre Jan van Eycks, Hans Memlings oder seines Schülers Rogier van der Weydens zugeschrieben. Die vorliegende Monographie wartet laut von Rosen mit umfangreichen Dokumenten über das Leben Campins auf, die sich größtenteils seinen vielen Rechtsstreitigkeiten verdanken. Dummerweise, so die Rezensentin, lassen sich diese Dokumente nicht auf Campins Bilder beziehen, so dass der Autor seine Thesen als Hypothesen stehen lassen muss. Von Rosen findet Thürlemanns Hypo-Thesen dennoch attraktiv. In erster Linie geht es um das in Madrid befindliche Gemälde "Kreuzabnahme Christi", das als eines der Hauptwerke der altniederländischen Malerei gilt und das bislang eher Rogier van der Weyden zugesprochen wurde. Thürlemann bezieht unter Berücksichtigung früherer Publikationen zu diesem Thema so dezidiert Stellung, sagt von Rosen, dass sie ihrer Hoffnung Ausdruck verleiht, die Diskussion um die Campin zugeschriebenen Bilder könnte noch einmal in Gang kommen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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