Corino zeichnet Stationen der Biographie, der Poesie und der Historie nach, entstanden ist dabei auch ein Dokument der politischen und kulturellen Zeitgeschichte, das photographierte Gesicht einer Epoche, der untergehenden k.u.k. Monarchie.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2003Generalsekretär für Genauigkeit und Seele
Diesem Mann war schwer zu helfen: Eine große und eine kleine Biographie zu Robert Musil
Müssen Lebensbeschreibungen so gewaltig sein? Karl Corino legt eine Musil-Biographie vor, die nach Inkubationszeit und Länge Musils unvollendetem Hauptwerk nahe kommt. Seit 1966 hat Corino sich mit Musil beschäftigt, hat 1988 auf halber Strecke den großen Band „Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten” publiziert, und nun liegt das Ergebnis von mehr als 35 Jahren Forschung auf 2026 Seiten endlich vor – das sind gerade hundert Seiten weniger, als der „Mann ohne Eigenschaften” einschließlich aller Entwürfe einnimmt. Als Parallelaktion zu Corinos großem Buch ist ein kleineres anzuzeigen. Es stammt von dem Münsteraner Germanisten Herbert Kraft und heißt schlicht und einfach „Musil”.
Fraglos will Corino alles über Musil wissen und alles, was er weiß, auch zur Kenntnis geben. Er hat nicht nur jeden erdenklichen Text von und über Musil in seine Arbeit einbezogen, er hat außerdem über die Jahrzehnte mit den meisten relevanten Personen aus Musils Lebenskreis selbst noch gesprochen. Das Wissen, das Corino über Robert Musils Leben und Werk angesammelt hat, ist schlechthin konkurrenzlos und wird sich allenfalls in manchen Einzelheiten, nicht aber im Blick aufs Große und Ganze überbieten lassen. Nun haben wir also die große, die wahrscheinlich unübertreffliche Musil-Biographie. Ein Monument, aber eines, an dem man Lesefreude empfindet. Keine öde Material-Halde, sondern eine unendlich interessante, meistenteils elegant geschriebene und nicht einmal nach 500 Seiten Anmerkungen ermüdende Lektüre.
Der bessere Thomas Mann
„Jetzt bin ich nicht berühmt, aber wenn ich einmal tot bin!”, mit diesem Musil-Wort, um 1930 an Rudolf Olden gerichtet, fängt Corinos Buch an. Dass Musil ruhmsüchtig war und dass sein Anspruch auf Ruhm größer war als der, welcher ihn zu Lebzeiten ereilte, ist bekannt. Folgt man Corino, dann bräuchte sich Musil heute nicht länger zu grämen. „Der Mann ohne Eigenschaften” wird regelmäßig zum größten deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts gewählt. Die Stücke „gehören zum Repertoire der großen Bühnen” und sind, wie die Prosa, in alle Weltsprachen übersetzt. Aber ganz so unzweifelhaft ist Musils Stellung sechzig Jahre nach seinem Tod nun auch wieder nicht. Nicht sein Ruhm steht in Frage, wohl aber, und immer wieder, sein Rang.
Kürzlich hat Marcel Reich-Ranicki den „Mann ohne Eigenschaften” als mehr oder minder „mißraten” abgetan, die Verkaufszahlen seiner Bücher hinken weiter hinter denen von Thomas Mann oder Hermann Hesse her (was Musil noch mehr erregt hätte), die Stücke werden selten oder nie gespielt, und überhaupt erntet Musils Œuvre bis heute mehr Respekt als Liebe. Manch einer lässt lieber ganz die Hände vom „Mann ohne Eigenschaften”, andere sind um die Seite 1000 ausgestiegen, wieder andere bei Seite 1500, und nur die wenigsten haben sich auch noch in die Entwürfe vertieft. Andererseits hat sich um Musil niemals ein Kultus der Unlesbarkeit wie bei Joyces „Finnegans Wake”, ein Dechiffrier-Syndikat wie bei Arno Schmidt gebildet. Vielleicht weil es bei Musil so viel nicht nicht zu verstehen gibt. Robert Musil, das macht Corinos Biographie deutlich, wollte der wahre, der bessere Thomas Mann sein; und das die lesenden Kreise ihm diesen Rang verwehrten (und verwehren), das verwand er nie.
In 45 Kapiteln entwirft Corino ein Bildnis des Künstlers, in dem sich Militär und Technik anfangs als prägende Elemente zeigen. Die Erfahrungen des K.u.K. Kadetten in Mährisch-Weißkirchen, gepaart mit einem frühen Interesse an Philosophie und (Gestalt-)Psychologie, fließen in den frühen Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß” ein, mit dem Musil ein Durchbruch gelingt, auf den lange Zeit nichts folgt. Mit einem „Genauigkeitsgen” sei Musil gesegnet oder geschlagen gewesen, schreibt Corino einmal, und das erklärt, warum ihm die zügige Produktion, wichtigste Voraussetzung einer freien Schriftstellerexistenz, so schwer fiel. Äußere Einflüsse tun das ihre, um Musil am Verfolg seines Lebenszwecks zu hindern: Der Erste Weltkrieg ruft ihn zu den Waffen, eine syphilitische Erkrankung beeinträchtigt die Gesundheit, Geldsorgen werden ihn ein Leben lang quälen.
Geldsorgen freilich, an denen Musils gehobener Lebensstil die Hauptschuld trägt. Im Jahr 1911 heiratet er Martha Marcovaldi, die ihm als liebende Ehefrau, praktischer Geist und Verbindungsoffizierin zur Wirklichkeit bis zu seinem Tod dienen wird. Auch wer von Musils späterem Schicksal, der Emigration, der völligen Verarmung, dem frühen Tod im Genfer Exil, nichts wüsste, der würde schon recht früh befürchten, es werde mit Robert und Martha Musil kein gutes Ende nehmen. Zu schroff, zu misstrauisch verhält sich Musil gegenüber der Außenwelt – sein Hochmut werde nur durch seine Höflichkeit im Zaum gehalten, bemerkt ein Beobachter –, so maßlos sind die Forderungen nach literarischer Anerkennung und finanzieller Sicherheit, mit denen er fast jeden verprellt, und zu unzuverlässig ist, bei aller generalstabsmäßigen Vorbereitung und Ausführung, der Ausstoß fertiger literarischer Werke. Musil, der Erfinder eines „Generalsekretariats für Genauigkeit und Seele” ließ es im Umgang mit seinen Verlegern an beidem fehlen und reagierte verständnislos, wenn man ihm auf nicht eingehaltene Fristen hin die Unterstützung entzog.
All dies und noch viel mehr kann man bei Corino aufs Genaueste nachlesen. Wenn es aber um eine ebenso knappe wie bündige Charakteristik des Besonderen und Eigentümlichen an Musils Werk geht, ist man mit Herbert Krafts vergleichsweise kurzem „Musil” vielleicht besser bedient. Auf den knapp fünfzig biographischen Seiten seines Buches (an die sich ausführliche Werkanalysen anschließen) wird ein ganz anderer Ton angeschlagen als bei Corino: nicht der explikative, materialgesättigte Duktus des Chronisten, sondern der Tonfall dessen, der alles, was er weiß oder ahnt, in einem einzigen Bild zusammenfassen will. „Die Alltage machten Robert Musils Leben aus, nicht die Festtage.
Glücklich wurde jeder Tag, an dem er schreiben konnte, schreiben und rauchen und mit der Frau, endlich seiner Frau schlafen, solang es hell war. Ein Leben der Wiederholungen, der Regelmäßigkeit und Gewohnheit.” Sätze, wie sie Corino nicht schreiben würde – zu impressionistisch, zu nah am Gegenstand? Aus dieser Haltung heraus gelingen Kraft indes viele glückliche, treffende Wendungen, die von großer Nähe zu und gebührendem Abstand gegenüber einem Mann zeugen, der auf nichts so viel Wert legte wie auf Abstand. Und der es schaffte, stets ganz besonders diejenigen vor den Kopf zu stoßen, die ihm Gutes wollten. Als sich die Frage stellte, für welches Land die Musils ein Visum erhalten könnten, kam Südamerika von vornherein nicht in Frage: „In Südamerika ist Stefan Zweig.” Diesem Manne, und hierin sind sich Corino und Kraft ganz einig, war auf Erden schwer zu helfen. Viele haben es doch getan, darunter an vorderster Stelle der von Musil beneidete und verlästerte Thomas Mann, der Musil jederzeit gern attestierte, für was für einen „außerordentlichen Mann” er ihn hielt. Zwei Bücher sind soeben über diesen außerordentlichen Mann erschienen, ein langes und ein kurzes, und wenn man das eine davon gelesen hat, sollte man unbedingt auch noch das andere lesen.
CHRISTOPH BARTMANN
KARL CORINO: Robert Musil. Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 2026 Seiten, 78 Euro.
HERBERT KRAFT: Musil. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2003. 358 Seiten, 23,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Diesem Mann war schwer zu helfen: Eine große und eine kleine Biographie zu Robert Musil
Müssen Lebensbeschreibungen so gewaltig sein? Karl Corino legt eine Musil-Biographie vor, die nach Inkubationszeit und Länge Musils unvollendetem Hauptwerk nahe kommt. Seit 1966 hat Corino sich mit Musil beschäftigt, hat 1988 auf halber Strecke den großen Band „Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten” publiziert, und nun liegt das Ergebnis von mehr als 35 Jahren Forschung auf 2026 Seiten endlich vor – das sind gerade hundert Seiten weniger, als der „Mann ohne Eigenschaften” einschließlich aller Entwürfe einnimmt. Als Parallelaktion zu Corinos großem Buch ist ein kleineres anzuzeigen. Es stammt von dem Münsteraner Germanisten Herbert Kraft und heißt schlicht und einfach „Musil”.
Fraglos will Corino alles über Musil wissen und alles, was er weiß, auch zur Kenntnis geben. Er hat nicht nur jeden erdenklichen Text von und über Musil in seine Arbeit einbezogen, er hat außerdem über die Jahrzehnte mit den meisten relevanten Personen aus Musils Lebenskreis selbst noch gesprochen. Das Wissen, das Corino über Robert Musils Leben und Werk angesammelt hat, ist schlechthin konkurrenzlos und wird sich allenfalls in manchen Einzelheiten, nicht aber im Blick aufs Große und Ganze überbieten lassen. Nun haben wir also die große, die wahrscheinlich unübertreffliche Musil-Biographie. Ein Monument, aber eines, an dem man Lesefreude empfindet. Keine öde Material-Halde, sondern eine unendlich interessante, meistenteils elegant geschriebene und nicht einmal nach 500 Seiten Anmerkungen ermüdende Lektüre.
Der bessere Thomas Mann
„Jetzt bin ich nicht berühmt, aber wenn ich einmal tot bin!”, mit diesem Musil-Wort, um 1930 an Rudolf Olden gerichtet, fängt Corinos Buch an. Dass Musil ruhmsüchtig war und dass sein Anspruch auf Ruhm größer war als der, welcher ihn zu Lebzeiten ereilte, ist bekannt. Folgt man Corino, dann bräuchte sich Musil heute nicht länger zu grämen. „Der Mann ohne Eigenschaften” wird regelmäßig zum größten deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts gewählt. Die Stücke „gehören zum Repertoire der großen Bühnen” und sind, wie die Prosa, in alle Weltsprachen übersetzt. Aber ganz so unzweifelhaft ist Musils Stellung sechzig Jahre nach seinem Tod nun auch wieder nicht. Nicht sein Ruhm steht in Frage, wohl aber, und immer wieder, sein Rang.
Kürzlich hat Marcel Reich-Ranicki den „Mann ohne Eigenschaften” als mehr oder minder „mißraten” abgetan, die Verkaufszahlen seiner Bücher hinken weiter hinter denen von Thomas Mann oder Hermann Hesse her (was Musil noch mehr erregt hätte), die Stücke werden selten oder nie gespielt, und überhaupt erntet Musils Œuvre bis heute mehr Respekt als Liebe. Manch einer lässt lieber ganz die Hände vom „Mann ohne Eigenschaften”, andere sind um die Seite 1000 ausgestiegen, wieder andere bei Seite 1500, und nur die wenigsten haben sich auch noch in die Entwürfe vertieft. Andererseits hat sich um Musil niemals ein Kultus der Unlesbarkeit wie bei Joyces „Finnegans Wake”, ein Dechiffrier-Syndikat wie bei Arno Schmidt gebildet. Vielleicht weil es bei Musil so viel nicht nicht zu verstehen gibt. Robert Musil, das macht Corinos Biographie deutlich, wollte der wahre, der bessere Thomas Mann sein; und das die lesenden Kreise ihm diesen Rang verwehrten (und verwehren), das verwand er nie.
In 45 Kapiteln entwirft Corino ein Bildnis des Künstlers, in dem sich Militär und Technik anfangs als prägende Elemente zeigen. Die Erfahrungen des K.u.K. Kadetten in Mährisch-Weißkirchen, gepaart mit einem frühen Interesse an Philosophie und (Gestalt-)Psychologie, fließen in den frühen Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß” ein, mit dem Musil ein Durchbruch gelingt, auf den lange Zeit nichts folgt. Mit einem „Genauigkeitsgen” sei Musil gesegnet oder geschlagen gewesen, schreibt Corino einmal, und das erklärt, warum ihm die zügige Produktion, wichtigste Voraussetzung einer freien Schriftstellerexistenz, so schwer fiel. Äußere Einflüsse tun das ihre, um Musil am Verfolg seines Lebenszwecks zu hindern: Der Erste Weltkrieg ruft ihn zu den Waffen, eine syphilitische Erkrankung beeinträchtigt die Gesundheit, Geldsorgen werden ihn ein Leben lang quälen.
Geldsorgen freilich, an denen Musils gehobener Lebensstil die Hauptschuld trägt. Im Jahr 1911 heiratet er Martha Marcovaldi, die ihm als liebende Ehefrau, praktischer Geist und Verbindungsoffizierin zur Wirklichkeit bis zu seinem Tod dienen wird. Auch wer von Musils späterem Schicksal, der Emigration, der völligen Verarmung, dem frühen Tod im Genfer Exil, nichts wüsste, der würde schon recht früh befürchten, es werde mit Robert und Martha Musil kein gutes Ende nehmen. Zu schroff, zu misstrauisch verhält sich Musil gegenüber der Außenwelt – sein Hochmut werde nur durch seine Höflichkeit im Zaum gehalten, bemerkt ein Beobachter –, so maßlos sind die Forderungen nach literarischer Anerkennung und finanzieller Sicherheit, mit denen er fast jeden verprellt, und zu unzuverlässig ist, bei aller generalstabsmäßigen Vorbereitung und Ausführung, der Ausstoß fertiger literarischer Werke. Musil, der Erfinder eines „Generalsekretariats für Genauigkeit und Seele” ließ es im Umgang mit seinen Verlegern an beidem fehlen und reagierte verständnislos, wenn man ihm auf nicht eingehaltene Fristen hin die Unterstützung entzog.
All dies und noch viel mehr kann man bei Corino aufs Genaueste nachlesen. Wenn es aber um eine ebenso knappe wie bündige Charakteristik des Besonderen und Eigentümlichen an Musils Werk geht, ist man mit Herbert Krafts vergleichsweise kurzem „Musil” vielleicht besser bedient. Auf den knapp fünfzig biographischen Seiten seines Buches (an die sich ausführliche Werkanalysen anschließen) wird ein ganz anderer Ton angeschlagen als bei Corino: nicht der explikative, materialgesättigte Duktus des Chronisten, sondern der Tonfall dessen, der alles, was er weiß oder ahnt, in einem einzigen Bild zusammenfassen will. „Die Alltage machten Robert Musils Leben aus, nicht die Festtage.
Glücklich wurde jeder Tag, an dem er schreiben konnte, schreiben und rauchen und mit der Frau, endlich seiner Frau schlafen, solang es hell war. Ein Leben der Wiederholungen, der Regelmäßigkeit und Gewohnheit.” Sätze, wie sie Corino nicht schreiben würde – zu impressionistisch, zu nah am Gegenstand? Aus dieser Haltung heraus gelingen Kraft indes viele glückliche, treffende Wendungen, die von großer Nähe zu und gebührendem Abstand gegenüber einem Mann zeugen, der auf nichts so viel Wert legte wie auf Abstand. Und der es schaffte, stets ganz besonders diejenigen vor den Kopf zu stoßen, die ihm Gutes wollten. Als sich die Frage stellte, für welches Land die Musils ein Visum erhalten könnten, kam Südamerika von vornherein nicht in Frage: „In Südamerika ist Stefan Zweig.” Diesem Manne, und hierin sind sich Corino und Kraft ganz einig, war auf Erden schwer zu helfen. Viele haben es doch getan, darunter an vorderster Stelle der von Musil beneidete und verlästerte Thomas Mann, der Musil jederzeit gern attestierte, für was für einen „außerordentlichen Mann” er ihn hielt. Zwei Bücher sind soeben über diesen außerordentlichen Mann erschienen, ein langes und ein kurzes, und wenn man das eine davon gelesen hat, sollte man unbedingt auch noch das andere lesen.
CHRISTOPH BARTMANN
KARL CORINO: Robert Musil. Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 2026 Seiten, 78 Euro.
HERBERT KRAFT: Musil. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2003. 358 Seiten, 23,50 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003Zur größten Schärfung des Möglichkeitssinns
Vermessungen des Dickichts: Zwei Biographien Robert Musils von Karl Corino und Herbert Kraft / Von Joachim Kalka
Es gibt ein nicht unberechtigtes Mißtrauen gegen die biographische Ergänzung des Kunsterlebnisses. Sagt es uns wirklich etwas, wenn wir erfahren, daß der Tag, an dem der "Ulysses" spielt, der berühmte Bloomsday des 16. Juni 1904, der Tag war, an dem Joyce seine spätere Frau Nora Barnacle kennenlernte? Ein großer Schriftsteller hat die Frage glatt verneint; als Nabokov seinen Studenten diesen biographischen Brosamen abfällig vorwarf, fügte er sardonisch hinzu: "So much for human interest". Denn eigentlich hat uns Derartiges nicht zu interessieren. Das Werk ist alles, das Leben nichts, hat Flaubert uns gelehrt; das Leben des Autors, des wie Gott "unsichtbaren und allmächtigen" Autors, hat im Werk zu verschwinden. Hat es nicht etwas Mediokres, dem Alltag, den Schwächen, den dummen Zufällen eines Lebens nachzugehen, aus dem ein großes Werk hervorgegangen ist?
Diese Haltung, die hierzulande oft vertreten wurde (nicht immer mit der Autorität Nabokovs), zeigt, wie gründlich wir die Ursprünge der biographischen Form vergessen haben. Deren eigentlicher Zweck war einst, ein Vorbild zu zeigen; sie spornte den Leser an. Der will von großen Menschen lesen, und unsere Zeit sucht diese eher unter Künstlern und Schriftstellern als unter Staatsmännern. Doch es geht um Größe. "Mir ekelt", murrt Karl Moor, "vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen." Schiller plante lange selbst einen "Deutschen Plutarch". Wir haben nun unser Interesse vorzugsweise den "Tintenklecksern" zugewandt, ihre Größe wollen wir erkennen. Daran mag viel leere Neugier sein, es steckt aber auch eine Sehnsucht darin, etwas vom richtigen Leben zu erfahren: der Künstler als Exempel. Nicht nur in seinem Gelingen, sondern auch in seinem heroischen Scheitern: Sartres Flaubert.
Die mißtrauische Frage nach der Berechtigung der literarischen Biographie scheint in den angelsächsischen Ländern unbekannt; die Biographie verfügt dort im Gegenteil über ein völlig unangefochtenes Prestige und ist - Zeichen ihrer Beliebtheit - in unseren Tagen selbst zum Gegenstand der Fiktion geworden, etwa in A. S. Byatt Roman "Besessen". Diese Inflation des Biographischen mag in der Tat ein gewisses Mißtrauen verdienen, aber es gibt in England und den Vereinigten Staaten eben nicht nur einen Biographiekultus, es gibt eine Biographiekultur. Vor wenigen Jahren noch hätte man sagen müssen: Es gibt dort eine Virtuosität im Umgang mit der Biographie als Form, die in Deutschland unbekannt ist oder bekannt nur durch wenige glänzende - fast stets längst historische - Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.
Die Biographie schien hier überhaupt etwas Zwieschlächtiges, Unsolides. Die Historiker sahen sie im wesentlichen als eine subalterne Form, die den Interessenten dort mit Anekdoten abspeist, wo eine Strukturanalyse einzusetzen hätte, und das scheint auch auf die Philologie stark abgefärbt zu haben. Das Biographische galt als eine Chimäre, an deren Stelle das Studium der sozialen und ökonomischen oder sprachlich-literarischen Strukturen zu treten hätte, des großen Netzes, in dem eine Biographie (die Form des Einzellebens) höchstens als bescheidener Knoten geduldet wurde. Nach und nach aber wurde ebendieses Bescheidene wieder sichtbar als das möglicherweise Interessantere. Dazu hat der Eindruck der großen Vorbilder wie Richard Ellmann beigetragen (dessen Joyce-Biographie schon früh einen wahrhaft mythischen Status erlangte); es wird auch ein sozusagen Bourdieuscher Mechanismus mitgespielt haben, ein modischer Paradigmenwechsel.
Jedenfalls darf man nun erleichtert und mit Bewunderung konstatieren: Die formal durchdachte, materiell souveräne Biographie ist in Deutschland kein exotisches Rarum mehr. Es ist in letzter Zeit eine noch vergleichsweise kleine Anzahl solcher Werke erschienen, aber sie scheinen eine Wende anzuzeigen: Rainer Stachs "Kafka", Jens Malte Fischers "Gustav Mahler: Der fremde Vertraute" und nun "Robert Musil: Eine Biographie" von Karl Corino. Die Formulierung "eine Biographie" wirkt hier wie eine stolze Mahnung angesichts viel leichter wiegender Bücher, die sich als "die" Biographie eines Autors ankündigt haben.
Das großartige Buch Corinos ist unerbittlich lang und von entschiedener Trockenheit. Das Leben Musils ist nicht im pittoresken, "interessanten" Sinne bewegt zu nennen - Corino schildert es als unauffällige, stockende Karriere vor dem breiten Bild der Epoche, zwischen Wien und Berlin. Die Kindheit, die Kadettenanstalt, in die man den renitenten Knaben abschiebt, die Studien (Technik, dann Philosophie) in Brünn und Berlin, die Freundschaften und Liebschaften, der Beginn des Schreibens: der "Törleß", die Novellen, die Dissertation über Mach, die ambitionierten und erfolglosen Theaterstücke, die wechselnden Tätigkeiten als Bibliothekar, Redakteur der "Neuen Rundschau", Journalist und so weiter, der Erste Weltkrieg. Die glückliche Ehe. Die Chronik der Schwierigkeiten: Der Entschluß dieses Technikers und Philosophen, als freier Schriftsteller zu leben, führte in die mühevolle und endlose Suche nach Mäzenen und Verdienstmöglichkeiten. Die obsessive Arbeit am großen Werk. Die Meinungen, dahinter: das Denken. Die notwendigerweise eintretende Hilflosigkeit angesichts des Dritten Reiches. Das Exil, der Tod in Genf; die Witwe zerstreut schließlich die Asche und wirft die leere Urne in die Arve. Das letzte Kapitel trägt den Untertitel "Marthas vergeblicher Kampf um die Auferstehung des Werks".
Exkurse wie etwa "Musil und der Sport" (ein faszinierendes Seitenstück zu dem, was wir mittlerweile in dieser Hinsicht über Kafka wissen) kommen hinzu, scharf konturierte Porträts der Freunde, Gegner, Mäzene, Geliebten, oft geschickt an Schlüsselpunkten eingefügt. So erscheint die Beziehung zu Karl Kraus zugespitzt und zusammengefaßt anläßlich der Diskussion der Aufführungsgeschichte von "Vinzenz oder Die Freundin bedeutender Männer". Einige Episoden scheinen von besonderer Aussagekraft; hierher gehört die tragikomische Teilnahme Musils am "Pariser Kongreß zur Verteidigung der Kultur" 1935, wo der Autor - der ähnlich wie Kraus seine unklare Hoffnung auf die austrofaschistische Regierung Dollfuß setzte, die als die letzte Möglichkeit erschien, die Nazis von Österreich fernzuhalten - in seiner Rede Politik und Kultur klar trennen wollte, dem Antifaschismus von Delegierten wie Egon Erwin Kisch in die Arme lief und dann von Bodo Uhse nicht nur bescheinigt bekam, seine Werke seien "ästhetische Dokumentationen für diese Zeit des bürgerlichen Verfalls" , sondern auch sein Schaffen sei "ein Element dieses Zerfalls selbst".
Corinos Buch hat monumentalen Charakter (erinnern wir uns, daß dieses Adjektiv vom Wort für "Denkmal" herkommt): 1450 Seiten Biographie, dazu vierhundert Seiten Fußnoten, prall vollgestopft mit Nachweisen, Exkursen und Spekulationen, "Zeittafel und Itinerar", Bibliographie und Register, dessen "Z" auf der Seite 2023 erreicht wird. Der gelegentlich kritisch angedeutete Vorwurf, dieses Buch sei einfach zu lang, ist naheliegend. Aber er geht an der Intention von Corinos Werk vorbei, aus mehreren Gründen. Einmal gibt es - ganz banal - immer Leser, die über einen bestimmten Zusammenhang, einen besonderen Punkt im Labyrinth des Lebens eines großen Produzenten Aufklärung suchen; diese Leser will das Werk zufriedenstellen, indem es den Charakter des enzyklopädischen Handbuchs annimmt, in dem man nachschlagen kann.
Am 6. November 1939 war Musil in Genf im Kino; es läßt sich zwar nicht feststellen, welchen Film er gesehen hat, aber Corino hat recherchiert, was in den zwanzig Kinos von Genf lief und welcher Kinobesuch angesichts der relativen Distanz zwischen Café und Kino der wahrscheinlichste hätte sein können. Ist dies der Leerlauf der Unersättlichkeit? Nein, denn jener Kinobesuch hat seine Bedeutung. Musil ist an diesem Tag, seinem neunundfünfzigsten Geburtstag, unruhig umhergegangen, ist schließlich im Dunkel des Kinos gelandet und hat dort das Erlebnis einer "faulenzenden", widerwärtigen Nichtigkeit: "zu schlimm". Den Film zu identifizieren, der dieses Gefühl bei einem eigentlich eifrigen Kinogänger ausgelöst hat, wäre - für manchen Leser - in der Tat von großem Interesse.
Zum anderen zeigt das ruhige, gleichmäßig "malende" Tempo, das zwar keine Mimese der Romanepik anstrebt, aber eine vergleichbare Dichte erzielt, dem Leser nicht nur panoramatisch die Lebenswelt des Dargestellten, sie läßt auch das Quälende, Stockende, Hilflose an einem Leben scharf hervortreten: die immer neuen vergeblichen Anläufe. Zum dritten handelt es sich hier eben um einen besonderen Fall. Um die Biographie Robert Musils, also - vermittelt - auch um ein Buch über das riesenhafte Romanfragment "Der Mann ohne Eigenschaften". Zwar hätte eine Biographie Sternes sich nicht unbedingt am "Tristram Shandy" zu modellieren, aber daß eine Biographie Musils den Ehrgeiz hat, bei ihrer Erzählung nicht unter dem theoretischen Niveau seines Hauptwerk zu bleiben, dürfte begreiflich sein.
Musil hat gelebt, "alles für die Vollendung seines Hauptwerkes opfernd" - wie er selbst einmal in der dritten Person eines Lebenslaufs über sich schrieb. Es blieb unvollendet; die Hoffnung des Autors, drei Tage vor seinem Tod ausgedrückt, er werde in wenigen Wochen damit beginnen können, "die erste Hälfte des Schlußbands ins Reine zu schreiben", hat sich nicht erfüllt, die komplizierte Editionsgeschichte dessen, was wir nun besitzen, hat lange gedauert. In diesem Buch nimmt ein junger Mann kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein Jahr "Urlaub von seinem Leben", um über sich und seine Möglichkeiten nachzudenken; die Bewegung des Romans erfaßt die große Welt und die vielen kleinen Welten einzelner Menschen. Charakteristisch sind das breite, ostentative, für viele Leser provozierende Hervortreten der Reflexion (einer Reflexion, die ironisch ist und nicht auratisch wie bei Proust) und die labyrinthische Wucherung von Potentialität ("die bekannte Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihre Verzweigung ohne Mittelpunkt, die für die Gegenwart kennzeichnend ist"). Corino hat keine Schneisen geschlagen, er hat unerschütterlich das Dickicht kartographiert. Darf man auf die Arbeit dieses Biographen ein Musil-, genauer ein Ulrich-Zitat beziehen? "Es muß der Mensch in seinen Möglichkeiten, Plänen und Gefühlen zuerst durch Vorurteile, Überlieferungen, Schwierigkeiten und Beschränkungen jeder Art eingeengt werden wie ein Narr in einer Zwangsjacke, und erst dann hat, was er hervorzubringen vermag, vielleicht Wert, Gewachsenheit und Bestand." Corino hat alles darangesetzt, sich einengen zu lassen, als Weiser in der Zwangsjacke seines Gegenstandes.
Fast gleichzeitig ist ein ganz anderes Buch über denselben Autor herausgekommen. Wäre Herbert Krafts "Musil" nicht quasi im Windschatten des Riesenbuches von Corino erschienen, hätte es sicher größeres Aufsehen erregt, denn es ist eine sehr beachtliche Studie. Es ist eine knappe, manches bewußt auslassende, stark mit großartig orchestrierten Zitaten Musils operierende Narration. Anders als das bewußt langsame, alles ausschöpfende Vorgehen Corinos setzt dieser Text stark auf die eindringliche, zwingende, raffende Geschwindigkeit von Entwicklungen. Die Werke werden in sicheren Vignetten gezeichnet. Corinos Werk wird den Lesern Musils alle Wünsche erfüllen; das Werk von Herbert Kraft wird Musil neue Leser zuführen.
In einem hübschen Rollentausch schreibt Kraft, Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte in Münster, weniger professoral als der studierte Germanist Corino. Die Details sind dort, wo kleine Divergenzen auftauchen, sicher bei Corino zuverlässiger: Die Delegierten in Paris 1935 stimmten nach Musils Rede wohl kein "Pfeifkonzert" (Kraft) an, schon deshalb, weil sie Musils Deutsch zum größten Teil nicht verstanden hatten, wie Corino schreibt. Aber die knappe, bündige Analyse dieser Konfrontation findet man bei Herbert Kraft. Er zitiert Musil: "Was Kisch geschrieben hat, bedarf keiner anderen Widerlegung, als meine Bücher zu verstehen." Kraft fügt hinzu: "Damit hatte er recht, allerdings aus dem Grund, weil seine Bücher das Gegenteil von dem enthielten, was er in Paris vorgetragen hatte. Mit seinen literarischen Texten schuf er die genauen Abbildungen, erkannte aber manchmal in ihnen die Wirklichkeit nicht mehr, die sie abbildeten."
Wenn es einen fundamentalen inhaltlichen Unterschied zwischen diesen beiden schönen Büchern gibt, dann ist es der Umstand, daß in der knapperen, schnelleren Narration Krafts die Liebe zwischen Martha und Robert Musil als zweites großes Thema neben der Anstrengung des Riesenromans viel deutlicher hervortritt. Ansonsten spiegeln die rasche Erzählung wie die longue durée der enzyklopädischen Ausschweifung je auf ihre Art das Konjunktivisch-Labyrinthische von Musils Werk. Und von dem Leben, das sich der Rechtfertigung des Konjunktivischen gewidmet hat, der Privilegierung des Noch-Nicht und Nicht-Mehr im Roman. Beide Autoren haben darauf verzichtet, eine andere Logik als die der Kontingenz und des Scheiterns zu konstruieren. Dieser Verzicht stellt ins Zentrum die große schöpferische Leistung Musils: sein großartiges Scheitern, dessen Fragment einen der größten Romane seines Jahrhunderts abgibt.
Karl Corino: "Robert Musil". Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003. 2026 S., geb., 78,- [Euro].
Herbert Kraft: "Musil". Zsolnay Verlag, Wien 2003. 357 S., geb., 23,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vermessungen des Dickichts: Zwei Biographien Robert Musils von Karl Corino und Herbert Kraft / Von Joachim Kalka
Es gibt ein nicht unberechtigtes Mißtrauen gegen die biographische Ergänzung des Kunsterlebnisses. Sagt es uns wirklich etwas, wenn wir erfahren, daß der Tag, an dem der "Ulysses" spielt, der berühmte Bloomsday des 16. Juni 1904, der Tag war, an dem Joyce seine spätere Frau Nora Barnacle kennenlernte? Ein großer Schriftsteller hat die Frage glatt verneint; als Nabokov seinen Studenten diesen biographischen Brosamen abfällig vorwarf, fügte er sardonisch hinzu: "So much for human interest". Denn eigentlich hat uns Derartiges nicht zu interessieren. Das Werk ist alles, das Leben nichts, hat Flaubert uns gelehrt; das Leben des Autors, des wie Gott "unsichtbaren und allmächtigen" Autors, hat im Werk zu verschwinden. Hat es nicht etwas Mediokres, dem Alltag, den Schwächen, den dummen Zufällen eines Lebens nachzugehen, aus dem ein großes Werk hervorgegangen ist?
Diese Haltung, die hierzulande oft vertreten wurde (nicht immer mit der Autorität Nabokovs), zeigt, wie gründlich wir die Ursprünge der biographischen Form vergessen haben. Deren eigentlicher Zweck war einst, ein Vorbild zu zeigen; sie spornte den Leser an. Der will von großen Menschen lesen, und unsere Zeit sucht diese eher unter Künstlern und Schriftstellern als unter Staatsmännern. Doch es geht um Größe. "Mir ekelt", murrt Karl Moor, "vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen." Schiller plante lange selbst einen "Deutschen Plutarch". Wir haben nun unser Interesse vorzugsweise den "Tintenklecksern" zugewandt, ihre Größe wollen wir erkennen. Daran mag viel leere Neugier sein, es steckt aber auch eine Sehnsucht darin, etwas vom richtigen Leben zu erfahren: der Künstler als Exempel. Nicht nur in seinem Gelingen, sondern auch in seinem heroischen Scheitern: Sartres Flaubert.
Die mißtrauische Frage nach der Berechtigung der literarischen Biographie scheint in den angelsächsischen Ländern unbekannt; die Biographie verfügt dort im Gegenteil über ein völlig unangefochtenes Prestige und ist - Zeichen ihrer Beliebtheit - in unseren Tagen selbst zum Gegenstand der Fiktion geworden, etwa in A. S. Byatt Roman "Besessen". Diese Inflation des Biographischen mag in der Tat ein gewisses Mißtrauen verdienen, aber es gibt in England und den Vereinigten Staaten eben nicht nur einen Biographiekultus, es gibt eine Biographiekultur. Vor wenigen Jahren noch hätte man sagen müssen: Es gibt dort eine Virtuosität im Umgang mit der Biographie als Form, die in Deutschland unbekannt ist oder bekannt nur durch wenige glänzende - fast stets längst historische - Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.
Die Biographie schien hier überhaupt etwas Zwieschlächtiges, Unsolides. Die Historiker sahen sie im wesentlichen als eine subalterne Form, die den Interessenten dort mit Anekdoten abspeist, wo eine Strukturanalyse einzusetzen hätte, und das scheint auch auf die Philologie stark abgefärbt zu haben. Das Biographische galt als eine Chimäre, an deren Stelle das Studium der sozialen und ökonomischen oder sprachlich-literarischen Strukturen zu treten hätte, des großen Netzes, in dem eine Biographie (die Form des Einzellebens) höchstens als bescheidener Knoten geduldet wurde. Nach und nach aber wurde ebendieses Bescheidene wieder sichtbar als das möglicherweise Interessantere. Dazu hat der Eindruck der großen Vorbilder wie Richard Ellmann beigetragen (dessen Joyce-Biographie schon früh einen wahrhaft mythischen Status erlangte); es wird auch ein sozusagen Bourdieuscher Mechanismus mitgespielt haben, ein modischer Paradigmenwechsel.
Jedenfalls darf man nun erleichtert und mit Bewunderung konstatieren: Die formal durchdachte, materiell souveräne Biographie ist in Deutschland kein exotisches Rarum mehr. Es ist in letzter Zeit eine noch vergleichsweise kleine Anzahl solcher Werke erschienen, aber sie scheinen eine Wende anzuzeigen: Rainer Stachs "Kafka", Jens Malte Fischers "Gustav Mahler: Der fremde Vertraute" und nun "Robert Musil: Eine Biographie" von Karl Corino. Die Formulierung "eine Biographie" wirkt hier wie eine stolze Mahnung angesichts viel leichter wiegender Bücher, die sich als "die" Biographie eines Autors ankündigt haben.
Das großartige Buch Corinos ist unerbittlich lang und von entschiedener Trockenheit. Das Leben Musils ist nicht im pittoresken, "interessanten" Sinne bewegt zu nennen - Corino schildert es als unauffällige, stockende Karriere vor dem breiten Bild der Epoche, zwischen Wien und Berlin. Die Kindheit, die Kadettenanstalt, in die man den renitenten Knaben abschiebt, die Studien (Technik, dann Philosophie) in Brünn und Berlin, die Freundschaften und Liebschaften, der Beginn des Schreibens: der "Törleß", die Novellen, die Dissertation über Mach, die ambitionierten und erfolglosen Theaterstücke, die wechselnden Tätigkeiten als Bibliothekar, Redakteur der "Neuen Rundschau", Journalist und so weiter, der Erste Weltkrieg. Die glückliche Ehe. Die Chronik der Schwierigkeiten: Der Entschluß dieses Technikers und Philosophen, als freier Schriftsteller zu leben, führte in die mühevolle und endlose Suche nach Mäzenen und Verdienstmöglichkeiten. Die obsessive Arbeit am großen Werk. Die Meinungen, dahinter: das Denken. Die notwendigerweise eintretende Hilflosigkeit angesichts des Dritten Reiches. Das Exil, der Tod in Genf; die Witwe zerstreut schließlich die Asche und wirft die leere Urne in die Arve. Das letzte Kapitel trägt den Untertitel "Marthas vergeblicher Kampf um die Auferstehung des Werks".
Exkurse wie etwa "Musil und der Sport" (ein faszinierendes Seitenstück zu dem, was wir mittlerweile in dieser Hinsicht über Kafka wissen) kommen hinzu, scharf konturierte Porträts der Freunde, Gegner, Mäzene, Geliebten, oft geschickt an Schlüsselpunkten eingefügt. So erscheint die Beziehung zu Karl Kraus zugespitzt und zusammengefaßt anläßlich der Diskussion der Aufführungsgeschichte von "Vinzenz oder Die Freundin bedeutender Männer". Einige Episoden scheinen von besonderer Aussagekraft; hierher gehört die tragikomische Teilnahme Musils am "Pariser Kongreß zur Verteidigung der Kultur" 1935, wo der Autor - der ähnlich wie Kraus seine unklare Hoffnung auf die austrofaschistische Regierung Dollfuß setzte, die als die letzte Möglichkeit erschien, die Nazis von Österreich fernzuhalten - in seiner Rede Politik und Kultur klar trennen wollte, dem Antifaschismus von Delegierten wie Egon Erwin Kisch in die Arme lief und dann von Bodo Uhse nicht nur bescheinigt bekam, seine Werke seien "ästhetische Dokumentationen für diese Zeit des bürgerlichen Verfalls" , sondern auch sein Schaffen sei "ein Element dieses Zerfalls selbst".
Corinos Buch hat monumentalen Charakter (erinnern wir uns, daß dieses Adjektiv vom Wort für "Denkmal" herkommt): 1450 Seiten Biographie, dazu vierhundert Seiten Fußnoten, prall vollgestopft mit Nachweisen, Exkursen und Spekulationen, "Zeittafel und Itinerar", Bibliographie und Register, dessen "Z" auf der Seite 2023 erreicht wird. Der gelegentlich kritisch angedeutete Vorwurf, dieses Buch sei einfach zu lang, ist naheliegend. Aber er geht an der Intention von Corinos Werk vorbei, aus mehreren Gründen. Einmal gibt es - ganz banal - immer Leser, die über einen bestimmten Zusammenhang, einen besonderen Punkt im Labyrinth des Lebens eines großen Produzenten Aufklärung suchen; diese Leser will das Werk zufriedenstellen, indem es den Charakter des enzyklopädischen Handbuchs annimmt, in dem man nachschlagen kann.
Am 6. November 1939 war Musil in Genf im Kino; es läßt sich zwar nicht feststellen, welchen Film er gesehen hat, aber Corino hat recherchiert, was in den zwanzig Kinos von Genf lief und welcher Kinobesuch angesichts der relativen Distanz zwischen Café und Kino der wahrscheinlichste hätte sein können. Ist dies der Leerlauf der Unersättlichkeit? Nein, denn jener Kinobesuch hat seine Bedeutung. Musil ist an diesem Tag, seinem neunundfünfzigsten Geburtstag, unruhig umhergegangen, ist schließlich im Dunkel des Kinos gelandet und hat dort das Erlebnis einer "faulenzenden", widerwärtigen Nichtigkeit: "zu schlimm". Den Film zu identifizieren, der dieses Gefühl bei einem eigentlich eifrigen Kinogänger ausgelöst hat, wäre - für manchen Leser - in der Tat von großem Interesse.
Zum anderen zeigt das ruhige, gleichmäßig "malende" Tempo, das zwar keine Mimese der Romanepik anstrebt, aber eine vergleichbare Dichte erzielt, dem Leser nicht nur panoramatisch die Lebenswelt des Dargestellten, sie läßt auch das Quälende, Stockende, Hilflose an einem Leben scharf hervortreten: die immer neuen vergeblichen Anläufe. Zum dritten handelt es sich hier eben um einen besonderen Fall. Um die Biographie Robert Musils, also - vermittelt - auch um ein Buch über das riesenhafte Romanfragment "Der Mann ohne Eigenschaften". Zwar hätte eine Biographie Sternes sich nicht unbedingt am "Tristram Shandy" zu modellieren, aber daß eine Biographie Musils den Ehrgeiz hat, bei ihrer Erzählung nicht unter dem theoretischen Niveau seines Hauptwerk zu bleiben, dürfte begreiflich sein.
Musil hat gelebt, "alles für die Vollendung seines Hauptwerkes opfernd" - wie er selbst einmal in der dritten Person eines Lebenslaufs über sich schrieb. Es blieb unvollendet; die Hoffnung des Autors, drei Tage vor seinem Tod ausgedrückt, er werde in wenigen Wochen damit beginnen können, "die erste Hälfte des Schlußbands ins Reine zu schreiben", hat sich nicht erfüllt, die komplizierte Editionsgeschichte dessen, was wir nun besitzen, hat lange gedauert. In diesem Buch nimmt ein junger Mann kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein Jahr "Urlaub von seinem Leben", um über sich und seine Möglichkeiten nachzudenken; die Bewegung des Romans erfaßt die große Welt und die vielen kleinen Welten einzelner Menschen. Charakteristisch sind das breite, ostentative, für viele Leser provozierende Hervortreten der Reflexion (einer Reflexion, die ironisch ist und nicht auratisch wie bei Proust) und die labyrinthische Wucherung von Potentialität ("die bekannte Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihre Verzweigung ohne Mittelpunkt, die für die Gegenwart kennzeichnend ist"). Corino hat keine Schneisen geschlagen, er hat unerschütterlich das Dickicht kartographiert. Darf man auf die Arbeit dieses Biographen ein Musil-, genauer ein Ulrich-Zitat beziehen? "Es muß der Mensch in seinen Möglichkeiten, Plänen und Gefühlen zuerst durch Vorurteile, Überlieferungen, Schwierigkeiten und Beschränkungen jeder Art eingeengt werden wie ein Narr in einer Zwangsjacke, und erst dann hat, was er hervorzubringen vermag, vielleicht Wert, Gewachsenheit und Bestand." Corino hat alles darangesetzt, sich einengen zu lassen, als Weiser in der Zwangsjacke seines Gegenstandes.
Fast gleichzeitig ist ein ganz anderes Buch über denselben Autor herausgekommen. Wäre Herbert Krafts "Musil" nicht quasi im Windschatten des Riesenbuches von Corino erschienen, hätte es sicher größeres Aufsehen erregt, denn es ist eine sehr beachtliche Studie. Es ist eine knappe, manches bewußt auslassende, stark mit großartig orchestrierten Zitaten Musils operierende Narration. Anders als das bewußt langsame, alles ausschöpfende Vorgehen Corinos setzt dieser Text stark auf die eindringliche, zwingende, raffende Geschwindigkeit von Entwicklungen. Die Werke werden in sicheren Vignetten gezeichnet. Corinos Werk wird den Lesern Musils alle Wünsche erfüllen; das Werk von Herbert Kraft wird Musil neue Leser zuführen.
In einem hübschen Rollentausch schreibt Kraft, Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte in Münster, weniger professoral als der studierte Germanist Corino. Die Details sind dort, wo kleine Divergenzen auftauchen, sicher bei Corino zuverlässiger: Die Delegierten in Paris 1935 stimmten nach Musils Rede wohl kein "Pfeifkonzert" (Kraft) an, schon deshalb, weil sie Musils Deutsch zum größten Teil nicht verstanden hatten, wie Corino schreibt. Aber die knappe, bündige Analyse dieser Konfrontation findet man bei Herbert Kraft. Er zitiert Musil: "Was Kisch geschrieben hat, bedarf keiner anderen Widerlegung, als meine Bücher zu verstehen." Kraft fügt hinzu: "Damit hatte er recht, allerdings aus dem Grund, weil seine Bücher das Gegenteil von dem enthielten, was er in Paris vorgetragen hatte. Mit seinen literarischen Texten schuf er die genauen Abbildungen, erkannte aber manchmal in ihnen die Wirklichkeit nicht mehr, die sie abbildeten."
Wenn es einen fundamentalen inhaltlichen Unterschied zwischen diesen beiden schönen Büchern gibt, dann ist es der Umstand, daß in der knapperen, schnelleren Narration Krafts die Liebe zwischen Martha und Robert Musil als zweites großes Thema neben der Anstrengung des Riesenromans viel deutlicher hervortritt. Ansonsten spiegeln die rasche Erzählung wie die longue durée der enzyklopädischen Ausschweifung je auf ihre Art das Konjunktivisch-Labyrinthische von Musils Werk. Und von dem Leben, das sich der Rechtfertigung des Konjunktivischen gewidmet hat, der Privilegierung des Noch-Nicht und Nicht-Mehr im Roman. Beide Autoren haben darauf verzichtet, eine andere Logik als die der Kontingenz und des Scheiterns zu konstruieren. Dieser Verzicht stellt ins Zentrum die große schöpferische Leistung Musils: sein großartiges Scheitern, dessen Fragment einen der größten Romane seines Jahrhunderts abgibt.
Karl Corino: "Robert Musil". Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003. 2026 S., geb., 78,- [Euro].
Herbert Kraft: "Musil". Zsolnay Verlag, Wien 2003. 357 S., geb., 23,50 [Euro].
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