Kurz vor Weihnachten 1980 wird die Leiche der 17jährigen Lucy Asher frühmorgens am Strand von The Spit gefunden. In der Mitte dieser schmalen Landzunge vor Christchurch verläuft die Rocking Horse Road. Lucys Eltern haben ein Milchgeschäft an dieser Straße, und Lucy arbeitete oft dort, angeschwärmt von einer Gruppe 15jähriger Jungen. Einer von ihnen findet die Leiche, die anderen sind bald ebenfalls zur Stelle. Lucy wurde erwürgt. Für die Jungen ist damit ihre Kindheit zu einem traumatischen Ende gekommen. Die Suche nach dem Mörder schweißt sie zusammen - über 25 Jahre später sind sie ihm noch immer auf der Spur. Im Jahr nach dem Mord, 1981, macht der Staat Neuseeland eine traumatische Erfahrung: Die Springboks, das südafrikanische Rugby-Team, touren durch das Land. Protest gegen das Apartheidsregime erhebt sich. Es kommt zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes. Die Jungen sind Rugby-Fans und erleben das Geschehen hautnah mit: 'Wir hatten das Gefühl, daß da vor unseren Augen etwas sehr Wichtiges zerbrach. Wir konnten es nicht benennen, es war etwas, das uns zuvor selbstverständlich gewesen war und das, wie wir instinktiv wußten, niemals würde repariert werden können.' 'I know you'll never come to harm / Walking down Rocking Horse Road, it's so peaceful' Elvis Costello: Rocking Horse Road (1994)
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Insbesondere die Erzählperspektive von Carl Nixons Roman bewundert Felix Stephan in seiner wohlwollenden Kritik. In einer neuseeländischen Kleinstadt wird eine Schülerin umgebracht, worauf sich eine Gruppe von Jugendlichen daran macht, den Mörder zu finden, fasst der Rezensent zusammen. Hinter der Fassade der Kleinstadt-Normalität werde das Abgründige sichtbar, nicht zuletzt durch das ominöse "Wir", das die Erzählerstimme bilde. Wer sich dahinter verbirgt, ist nicht leicht auszumachen, Stephan vermutet, dass es der "common sense" ist, der sich hier artikuliert. Ein großartiger Einfall, findet der Rezensent, denn dadurch wird die Stimme entindividualisiert und so aus der "individuellen Haftung" entlassen. Auch wenn er Nixon so manches Motiv von Eugenides, David Lynch oder Wes Anderson aufgreifen sieht, fügt sich ihm der Roman doch zum äußerst schlüssigen, sehr spannenden und geradezu "zwangsläufigen" Ganzen. Faszinierend, mit welch leichter Hand der neuseeländische Autor seine Geschichte entspinnt, die auf jeder Seite "vollkommen nachvollziehbar" bleibt, lobt Stephan angetan.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2012Was die Hure weiß
Carl Nixon macht aus Neuseeland einen Abgrund
Vier Tage vor Weihnachten, am 21. Dezember 1980 wird die Leiche der Highschool-Schülerin Lucy Asher am Strand angespült, hinter den Dünen, auf einer Landzunge nahe der neuseeländischen Stadt Christchurch. Es ist ein ungewöhnlich heißer Morgen, Lucys Körper ist nackt. Die Würgemale auf ihrem Hals sind aus der Ferne nicht zu sehen, deshalb sieht es auf den ersten Blick aus, als würde sie sich sonnen. Von dem großen Sturm, der bald die ganze Stadt unter Wasser setzen, Straßen unterspülen und die Couchgarnituren der Bewohner von Christchurch unbrauchbar machen wird, kann man in diesem Moment freilich noch nichts ahnen.
Oder etwa doch? Vielleicht ist der Mord an Lucy Asher ja im Nachhinein auch als Zeichen zu lesen, als eine Art Ouvertüre zu einer ganzen Reihe von Ereignissen, die isoliert betrachtet keinerlei Bedeutung haben, zusammen aber vielleicht eine ganz große Geschichte erzählen. Vielleicht hätte man die Zusammenhänge erkennen können, wenn man aufmerksamer hingeschaut hätte.
Genau das machen die Kleinstadtbewohner in „Rocking Horse Road“, dem Debütroman des neuseeländischen Autors Carl Nixon, allerdings nicht. Nach dem Mord an dem Mädchen, das sie alle kannten, denn man kennt sich hier, flüchten sie hilflos ins Vertraute, verrichten ihre Alltag mit richtungsloser Unruhe. Als es allerdings kurz darauf einen zweiten Übergriff auf eine junge Schülerin gibt, schlägt die Stimmung in panischen Aktionismus um. Die Väter patrouillieren nachts die Strandpromenade entlang, im Kofferraum ihrer improvisierten Streifenwagen klappern Golf- und Baseballschläger.
Eine Gruppe von Teenagern nimmt unterdessen eigene Ermittlungen auf: Sie kennen Lucys Umfeld, sie sind mit ihr aufgewachsen. Die Polizei hat zu dem geschlossenen Kleinstadtsoziotop keinen Zugang, es wäre fahrlässig, ihr allein die Ermittlungen zu überlassen. Diese Teenagerjungs bilden die Erzählstimme des Romans, ein nebulöses „Wir“ mit großem Identifikationspotenzial.
Dass das Jeffrey Eugenides in seinem Debütroman „The Virgin Suicides“ schon so gemacht hat, dass auch in David Lynchs „Twin Peaks“ eine angespülte Mädchenleiche das ruhige Leben einer Kleinstadt durcheinander bringt, dass der finale, biblische Sturm ein arg strapaziertes Motiv ist, mit dem zuletzt Wes Anderson seinen Film „Moonrise Kingdom“ beschädigt hat: geschenkt. Denn bei Carl Nixon gerinnt das alles zu einer stringenten, fast zwangsläufigen Komposition, die sich liest, als könnte es sie nur in exakt dieser Form geben. Kein Satz mehr oder weniger. Der rätselhafte Wir-Erzähler spielt dabei eine wichtige Rolle, er schließt den impliziten Bedeutungsraum des Romans auf.
Bis zum Schluss lässt Nixon offen, wer hier eigentlich spricht. Es könnten die Teenager-Detektive sein, allerdings hat die These Schwächen, denn auch „wir“ werden bisweilen von ihnen überrascht. Außerdem sind sie schließlich kein Chor, der mit einer Stimme sprechen könnte, es sind ganz verschiedene Leute. Deshalb drängt sich ein Verdacht auf, der mit dem Theologie-Studium des Autors zu tun haben könnte: „Wir“ ist in „Rocking Horse Road“ der common sense, der allgemeine Anstand. Der Wir-Erzähler ist ein Mensch wie du und ich, er sieht die Dinge durch unsere Brille. Und weil diese Idee des allgemein Menschlichen, des unausgesprochen Gemeinsamen, das uns vor allen anderen Kreaturen auszeichnet, ein christliche Erfindung ist, tut sich in dieser Erzählperspektive eine historische Abgründigkeit auf, die Carl Nixon auf jeder Seite ausspielt, als wäre es ein Leichtes.
Die Selbstwahrnehmung als „Wir“ entindividualisiert den Einzelnen und lagert die Verantwortung für das eigene Tun in eine nebulöse Instanz aus, die die eigenen Handlungen als bloße Ausführung eines größeren Zusammenhangs darstellt. Wer „wir“ sagt, meint nicht sich selbst und ist damit nicht mehr haftbar zu machen. Er spricht für die anderen, die eigene Familie, die Nation, den Kegelverein oder gar für „den Menschen“ als moralisches Prinzip. Und im Namen dieses größeren Prinzips, das im Zweifelsfall nicht unbedingt formulierbar sein muss, solange es die Herzen bewegt, ist der Einzelne weit unbekümmerter grausam, als wenn er sich ins Bewusstsein ruft, dass er selbst und nur er selbst es ist, der gerade den Finger auf den Abzug legt.
Carl Nixon spielt diese Logik, die zivilisationsübergreifend den Beruf des Henkers legitimiert, in „Rocking Horse Road“ kühl, präzise und – was am schauderhaftesten ist – in jedem Moment vollkommen nachvollziehbar durch. Zum Beispiel wenn sich die adoleszenten Detektive an die einzige Prostituierte in der Gegend wenden, nur weil dem Mord an Lucy Asher eine Vergewaltigung vorausgegangen war und der Kriminalfall also gewissermaßen auch mit Sex zu tun hatte. Wenn es einen Perversen in der Gegend gebe, müsste die Hure das ja nun wirklich wissen: „Das zeugte von einer Logik, die uns allen einleuchtete.“
Jahrzehnte nach dem Mord treffen sich die Jungs an der Stelle, an der Lucys Leichnam angespült wurde, der Fall hat sie nie losgelassen. Obwohl es mittlerweile lange her ist, taucht Lucy immer noch in ihren Träumen auf: „Wir waren Männer mittleren Alters in Shorts und T-Shirts. Einer von uns war Bauarbeiter, einer Journalist. Ein Bibliothekar stand neben einem, der jahrelang Autos verkauft hatte, momentan aber ohne Arbeit war. Der Manager eines Supermarktes stand Schulter an Schulter mit einem Mann, der ein Malergeschäft hatte. Da war ein Polizist aus Wellington. Wir waren einfach ganz normale Typen, keiner von uns würde irgendwo auffallen.
“
FELIX STEPHAN
Nachts patrouillieren die Väter,
im Kofferraum ihrer Autos
klappern die Golfschläger
Wer „wir“ sagt, meint nicht
sich selbst, er entzieht sich
der individuellen Haftung
Carl Nixon:
Rocking Horse Road.
Aus dem Englischen von Stefan Weidle. Weidle Verlag, Bonn 2012.
240 Seiten, 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Carl Nixon macht aus Neuseeland einen Abgrund
Vier Tage vor Weihnachten, am 21. Dezember 1980 wird die Leiche der Highschool-Schülerin Lucy Asher am Strand angespült, hinter den Dünen, auf einer Landzunge nahe der neuseeländischen Stadt Christchurch. Es ist ein ungewöhnlich heißer Morgen, Lucys Körper ist nackt. Die Würgemale auf ihrem Hals sind aus der Ferne nicht zu sehen, deshalb sieht es auf den ersten Blick aus, als würde sie sich sonnen. Von dem großen Sturm, der bald die ganze Stadt unter Wasser setzen, Straßen unterspülen und die Couchgarnituren der Bewohner von Christchurch unbrauchbar machen wird, kann man in diesem Moment freilich noch nichts ahnen.
Oder etwa doch? Vielleicht ist der Mord an Lucy Asher ja im Nachhinein auch als Zeichen zu lesen, als eine Art Ouvertüre zu einer ganzen Reihe von Ereignissen, die isoliert betrachtet keinerlei Bedeutung haben, zusammen aber vielleicht eine ganz große Geschichte erzählen. Vielleicht hätte man die Zusammenhänge erkennen können, wenn man aufmerksamer hingeschaut hätte.
Genau das machen die Kleinstadtbewohner in „Rocking Horse Road“, dem Debütroman des neuseeländischen Autors Carl Nixon, allerdings nicht. Nach dem Mord an dem Mädchen, das sie alle kannten, denn man kennt sich hier, flüchten sie hilflos ins Vertraute, verrichten ihre Alltag mit richtungsloser Unruhe. Als es allerdings kurz darauf einen zweiten Übergriff auf eine junge Schülerin gibt, schlägt die Stimmung in panischen Aktionismus um. Die Väter patrouillieren nachts die Strandpromenade entlang, im Kofferraum ihrer improvisierten Streifenwagen klappern Golf- und Baseballschläger.
Eine Gruppe von Teenagern nimmt unterdessen eigene Ermittlungen auf: Sie kennen Lucys Umfeld, sie sind mit ihr aufgewachsen. Die Polizei hat zu dem geschlossenen Kleinstadtsoziotop keinen Zugang, es wäre fahrlässig, ihr allein die Ermittlungen zu überlassen. Diese Teenagerjungs bilden die Erzählstimme des Romans, ein nebulöses „Wir“ mit großem Identifikationspotenzial.
Dass das Jeffrey Eugenides in seinem Debütroman „The Virgin Suicides“ schon so gemacht hat, dass auch in David Lynchs „Twin Peaks“ eine angespülte Mädchenleiche das ruhige Leben einer Kleinstadt durcheinander bringt, dass der finale, biblische Sturm ein arg strapaziertes Motiv ist, mit dem zuletzt Wes Anderson seinen Film „Moonrise Kingdom“ beschädigt hat: geschenkt. Denn bei Carl Nixon gerinnt das alles zu einer stringenten, fast zwangsläufigen Komposition, die sich liest, als könnte es sie nur in exakt dieser Form geben. Kein Satz mehr oder weniger. Der rätselhafte Wir-Erzähler spielt dabei eine wichtige Rolle, er schließt den impliziten Bedeutungsraum des Romans auf.
Bis zum Schluss lässt Nixon offen, wer hier eigentlich spricht. Es könnten die Teenager-Detektive sein, allerdings hat die These Schwächen, denn auch „wir“ werden bisweilen von ihnen überrascht. Außerdem sind sie schließlich kein Chor, der mit einer Stimme sprechen könnte, es sind ganz verschiedene Leute. Deshalb drängt sich ein Verdacht auf, der mit dem Theologie-Studium des Autors zu tun haben könnte: „Wir“ ist in „Rocking Horse Road“ der common sense, der allgemeine Anstand. Der Wir-Erzähler ist ein Mensch wie du und ich, er sieht die Dinge durch unsere Brille. Und weil diese Idee des allgemein Menschlichen, des unausgesprochen Gemeinsamen, das uns vor allen anderen Kreaturen auszeichnet, ein christliche Erfindung ist, tut sich in dieser Erzählperspektive eine historische Abgründigkeit auf, die Carl Nixon auf jeder Seite ausspielt, als wäre es ein Leichtes.
Die Selbstwahrnehmung als „Wir“ entindividualisiert den Einzelnen und lagert die Verantwortung für das eigene Tun in eine nebulöse Instanz aus, die die eigenen Handlungen als bloße Ausführung eines größeren Zusammenhangs darstellt. Wer „wir“ sagt, meint nicht sich selbst und ist damit nicht mehr haftbar zu machen. Er spricht für die anderen, die eigene Familie, die Nation, den Kegelverein oder gar für „den Menschen“ als moralisches Prinzip. Und im Namen dieses größeren Prinzips, das im Zweifelsfall nicht unbedingt formulierbar sein muss, solange es die Herzen bewegt, ist der Einzelne weit unbekümmerter grausam, als wenn er sich ins Bewusstsein ruft, dass er selbst und nur er selbst es ist, der gerade den Finger auf den Abzug legt.
Carl Nixon spielt diese Logik, die zivilisationsübergreifend den Beruf des Henkers legitimiert, in „Rocking Horse Road“ kühl, präzise und – was am schauderhaftesten ist – in jedem Moment vollkommen nachvollziehbar durch. Zum Beispiel wenn sich die adoleszenten Detektive an die einzige Prostituierte in der Gegend wenden, nur weil dem Mord an Lucy Asher eine Vergewaltigung vorausgegangen war und der Kriminalfall also gewissermaßen auch mit Sex zu tun hatte. Wenn es einen Perversen in der Gegend gebe, müsste die Hure das ja nun wirklich wissen: „Das zeugte von einer Logik, die uns allen einleuchtete.“
Jahrzehnte nach dem Mord treffen sich die Jungs an der Stelle, an der Lucys Leichnam angespült wurde, der Fall hat sie nie losgelassen. Obwohl es mittlerweile lange her ist, taucht Lucy immer noch in ihren Träumen auf: „Wir waren Männer mittleren Alters in Shorts und T-Shirts. Einer von uns war Bauarbeiter, einer Journalist. Ein Bibliothekar stand neben einem, der jahrelang Autos verkauft hatte, momentan aber ohne Arbeit war. Der Manager eines Supermarktes stand Schulter an Schulter mit einem Mann, der ein Malergeschäft hatte. Da war ein Polizist aus Wellington. Wir waren einfach ganz normale Typen, keiner von uns würde irgendwo auffallen.
“
FELIX STEPHAN
Nachts patrouillieren die Väter,
im Kofferraum ihrer Autos
klappern die Golfschläger
Wer „wir“ sagt, meint nicht
sich selbst, er entzieht sich
der individuellen Haftung
Carl Nixon:
Rocking Horse Road.
Aus dem Englischen von Stefan Weidle. Weidle Verlag, Bonn 2012.
240 Seiten, 19,90 Euro.
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