Die Biographie des Londoner Malers und Kunstkritikers Roger Fry ist Virginia Woolfs letztes Buch, veröffentlicht ein Jahr vor ihrem Tod. Dass sie es schrieb, war Frys ausdrücklicher Wunsch: Ihr Leben lang hatte die Schriftstellerin sich nicht nur literarisch - etwa in der fiktiven Biographie Orlando und in Flush, der Lebensgeschichte eines Cocker spaniels -, sondern auch in Essays mit der Frage auseinandergesetzt, wie man über das Leben eines Menschen schreiben könne. Ihr Freund Roger Fry schlug ihr vor, ihre Überlegungen an seiner Biographie auszuprobieren. Entstanden ist das Porträt einer der prägendsten Figuren der avantgardistischen Bloomsbury-Group: Mit der Ausstellung Manet und die Postimpressionisten in den Londoner Grafton Galleries, die 1910 einen Skandal auslöste, läutete Fry die Klassische Moderne in England ein. Fry, der eine Zeit lang Kurator des New Yorker Metropolitan Museum war, gilt bis heute als Schlüsselfigur der Kunstgeschichte.
»Roger Fry, der in England zweifelsfrei als einer der wichtigsten Kunstvermittler des 20. Jahrhunderts gilt, ist bei uns ziemlich unbekannt. Dass es sich dabei um eine absurde Leerstelle handelt - das begreift man nach der Lektüre dieser großartigen 400-Seiten-Biographie.« Manuela Reichart / rbb Kultur
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2023Dank ihm sind wir vergleichbar mit Athen zu dessen Blütezeit
Erstmals auf Deutsch: Virginia Woolfs Biographie des Malers und Kritikers Roger Fry ist auch eine Geschichte der modernen Kunst.
Von Niklas Maak
Von Niklas Maak
Es gibt ein Gemälde, das die Schriftstellerin Virginia Woolf im Alter von etwa 35 Jahren zeigt: Ihr Oberkörper steckt in einer hellbraunen Jacke und scheint mit dem ebenfalls bräunlichen Hintergrund zu verschmelzen; es wirkt fast, als ob der pointillistisch getupfte Körper sich auflöste oder gerade erst manifestierte. Dagegen sind die Konturen des Kopfes wie bei einem Bild von Modigliani umso deutlicher mit klaren schwarzen Pinselstrichen umrissen. Die Fragilität des Körpers kontrastiert sozusagen mit der Schärfe und Klarheit des Geistes.
Gemalt hat dieses Porträt ein Mann, der in Deutschland kaum bekannt ist: der zu Lebzeiten einflussreiche Künstler und Kunstkritiker Roger Fry, geboren 1866 in London als Sohn einer wohlhabenden und strengen Quäker-Familie. 1910 hatte er sich der avantgardistischen Bloomsbury Group angeschlossen, im selben Jahr kuratierte er die Ausstellung "Manet and the Post-Impressionists", mit der er Cézanne, van Gogh, aber auch den jungen Picasso einem breiten und schockierten englischen Publikum bekannt machte; die britische Presse verurteilte die Ausstellung damals fast einhellig als "Irrenmalerei". Zuvor war Fry als Kurator am New Yorker Metropolitan Museum tätig gewesen.
Woolf hatte ihn über ihre ältere Schwester, die Malerin und Innenarchitektin Vanessa Bell, kennengelernt, als diese eine kurze Beziehung mit ihm hatte, und sie selbst verehrte den Kritiker und Maler. Fry war, obwohl heute außerhalb von Fachkreisen fast vergessen, zu jener Zeit eine hoch angesehene Person des britischen Kulturbetriebs. "Wenn Du so weitermachst, werden sie innerhalb eines Jahrhunderts einen Christus aus Dir machen", schrieb ihm Virginia Woolf: "Ich bin ein wenig alarmiert über die Größe und Leuchtkraft Deines Heiligenscheins." Die so treffend von ihm porträtierte Schriftstellerin revanchierte sich später mit einem geschriebenen Porträt des Freundes: Woolfs Biographie von Fry war das letzte zu ihren Lebzeiten veröffentlichte Werk. Es erschien 1940, und ein Jahr später brachte sich Woolf, die zeitlebens unter Depressionen und Angstzuständen litt, in einem Fluss um.
Die Ode an ihren Freund und Mentor Fry wurde lange nicht ins Deutsche übersetzt; jetzt aber hat Tobias Schwartz das Werk sensibel und präzise übertragen. "Roger Fry" ist ein Werk, das formal weniger experimentell ist als Woolfs berühmte Romane - aber es ist umso interessanter, wie sie anhand dieses individuellen Lebens den Epochenwandel um 1910, die Befreiung aus der Enge des viktorianischen und auch des edwardianischen Zeitalters und den Aufbruch in die Moderne beschreibt - und damit auch die kulturellen Voraussetzungen ihrer eigenen künstlerischen und persönlichen Emanzipation.
Fry war das, was die Kunsthistoriker eine Sattelfigur nennen, mit einem Bein noch im Impressionismus des neunzehnten Jahrhunderts, mit dem anderen schon in der Welt der Abstraktion und der künstlerischen Experimente des zwanzigsten. Woolf erzählt Frys Geschichte chronologisch, und es ist interessant zu sehen, wie sich ihre Sprache mit der von Fry verwebt, den sie ausgiebig zu Wort kommen lässt, wenn es etwa darum geht, ein Bild von Frys strengem Vater zu schaffen: "Beim Schlittschuhlaufen war er immer in Hochstimmung und noch liebenswürdiger und zuvorkommender als gewöhnlich [. . .]. Ihm war erst bestimmt, immer besorgter zu werden, als wir heranwuchsen und uns in eigenständige Persönlichkeiten verwandelten, die zunehmend weniger gewillt waren, sich in die starren Gepflogenheiten viktorianischer Häuslichkeit zu fügen", zitiert Woolf Fry, um dann selbst eindrücklich dessen frühe Jahre zu beschreiben, in denen er Frederic Leightons Malerei verehrt, ins Theater geht und sich sogar einmal schon als Kunstkritiker versucht - was aber nur zu einem halb garen Text führt, weil Fry, wie Woolf erzählt, an diesem Tag, "auch wenn es erst halb neun war, vor Müdigkeit beinahe umfiel und unverzüglich ins Bett" musste. So lässt Woolf mit dem für sie eigenen feinen Humor das Bild eines fast wie im Schlaf etwas somnambul in die Moderne hineinstolpernden jungen Mannes entstehen.
Fry reiste mit einem Freund, Pip Hughes, nach Italien. Woolfs Beschreibung ihrer gemeinsamen Fahrt ist ein typisches Beispiel für die spezielle Zweistimmigkeit dieser Biographie. Fry fuhr allein weiter, schreibt Woolf, "weil Pip, obwohl sie sich insgesamt recht gut verstanden hatten, eher träge und arbeitsscheu war; 'er leidet beinahe unentwegt an Melancholie, die bisweilen durch ein Aufblitzen kapriziöser Heiterkeit unterbrochen oder gemildert wird', lautet Rogers Interpretation von etwas, bei dem es sich vermutlich um nichts anderes als eine natürliche Unlust handelte, sich tagtäglich endlose Stunden lang Bilder anzusehen".
Woolf kannte diese Unlust nicht. Sie schaute sich unter Frys Anleitung vor allem die aktuelle Kunst sehr genau an - auch, um zu verstehen, wie in diesem Feld jene Sprünge hin zu einer Modernität vor sich gingen, die sie selbst in ihrem Essay "Modern Fiction" für das Schreiben einforderte. Fry war dabei für sie ein wichtiger Einfluss. Beide reisten mit ihren Partnern zusammen nach Venedig, wobei Frys Gattin von Woolf mit leicht boshaftem Unterton als "gekleidet wie ein ältlicher Yak in einem weißen Pelz" beschrieben wird. Oft liest die Biographie sich wie eine Erzählung, etwa dort, wo von Frys Hochzeitsreise die Rede ist: "Den ganzen Tag bummelten sie umher, zeichneten Skizzen, sahen sich Bilder an, sprachen abends mit Horatio Brown oder gingen baden, bis selbst ihnen die Hitze zu viel wurde. Das Fleisch schmolz ihnen förmlich von den Knochen, und sie flüchteten über die Alpen ins vergleichsweise kühle Frankreich."
Für Fry hat Woolf nur Bewunderung übrig - obwohl sie erwähnt, dass er zögerlicheren Naturen als "allzu rücksichtslos und diktatorisch" erscheinen könnte. Zu Unrecht: Fry, auf Fotos von 1915 ein hagerer Mann mit wild abstehenden Haaren und ausgetretenen Schuhen, ist für sie "der einzige zivilisierte Mann, den ich je kennengelernt habe", wie sie an ihre Schwester schreibt: "Ich halte ihn nach wie vor für unseren größten Gewinn, die Rechtfertigung, die Bestätigung für uns - und alles andere. Hätte Bloomsbury nur Roger hervorgebracht, wäre das vergleichbar mit Athen zu seiner Blütezeit." Er sei "der intelligenteste meiner Freunde" gewesen, schreibt sie einer Freundin: "Er konnte keine zwei Streichhölzer sehen, ohne ein Boot daraus zu basteln. Das war das Geheimnis seines Charmes und seines Genies."
Wie wichtig die Beschäftigung mit Kunst - und Frys Interpretationen - für Woolfs Schreiben ist, hat die literaturwissenschaftliche Forschung betont. In "To the Lighthouse" findet man die Malerin Lily Briscoe, deren Vorbild Cézanne ist, dessen Vereinigung von "Textur und Struktur" auch sie in ihrer Malerei erreichen will - zwei Begriffe, die direkt aus den Essays von Fry stammen. Hermione Lee, die eine Biographie Woolfs schrieb, sieht in deren Sprache einen "summenden, dunstigen Impressionismus" am Werk. Die der deutschen Ausgabe von "Roger Fry" angehängten, ebenfalls neu übersetzten Erzählungen "Montag oder Dienstag" "Blau & Grün" und "Der Suchscheinwerfer" belegen den Einfluss Frys auf Woolfs Schreiben ebenfalls sehr eindrücklich. Woolf betont, dass Fry auch zur Literatur eine deutliche Meinung hatte: Sie "leide an einer Überfülle unnötigen Ballasts. Cézanne und Picasso hätten einen Weg aufgezeigt, die Schriftsteller sollten ihre alten Darstellungsweisen in den Wind schießen und besser deren Beispiel folgen."
Woolf beschreibt Frys Kampf zwischen dem Wunsch, Maler zu sein, und seiner Erkenntnis, dass er als Kritiker und Essayist Bedeutenderes schaffen könne. "Der Kritiker, dem es auf eine so natürliche Weise leichtfiel, 'wilde Theorien' zu entwickeln und seine Eindrücke und Wahrnehmungen zu analysieren, sah sich stets von dem Künstler in sich dazu gedrängt, mit dem Notizenmachen aufzuhören und endlich die Leinwand herauszuholen." Aber "als es ihm endlich gelang, ein Bild auszustellen - ein Porträt von Mrs Widdrington -, erschien es ihm auf einmal ziemlich altmodisch . . ."
Fry wurde berühmt als Kurator und Kritiker der Zeitschrift "Athenaeum". Dass seiner Ansicht nach Künstler nicht von Kunstmarkt und Mäzenen abhängig werden sollten, führte 1913 zur Gründung der Omega-Werkstätten am Fitzroy Square. "Die jungen Künstler sollten Stühle, Tische, Teppiche und Keramik herstellen [. . .]. Auf diese Weise sollten sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, auf diese Weise besäßen sie die Freiheit, Bilder zu malen, wie die Dichter Gedichte schrieben - aus Vergnügen, nicht fürs Geld." Woolfs Schwester Vanessa entwarf für Omega Buchcover, es gab alles, von Möbeln bis hin zu Dekorationsgegenständen - die Omega-Werkstätten waren ein kleines, unideologisches Bauhaus auf Britisch. Dabei ging es Fry auch um die seiner Meinung nach unsinnige Trennung von "fine and decorative arts". 1934 starb der damals wichtigste Kritiker Großbritanniens nach einem Sturz in London an Herzversagen. Sechs Jahre später erzählte Woolf die Geschichte der modernen Kunst als Geschichte einer Person, der sie mehr zu verdanken hatte, als heute bekannt ist.
Virginia Woolf: "Roger Fry". Eine Biografie.
Hrsg, aus dem Englischen und Vorwort von Tobias Schwartz.
Aviva Verlag, Berlin 2023. 480 S., 16 Abb., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erstmals auf Deutsch: Virginia Woolfs Biographie des Malers und Kritikers Roger Fry ist auch eine Geschichte der modernen Kunst.
Von Niklas Maak
Von Niklas Maak
Es gibt ein Gemälde, das die Schriftstellerin Virginia Woolf im Alter von etwa 35 Jahren zeigt: Ihr Oberkörper steckt in einer hellbraunen Jacke und scheint mit dem ebenfalls bräunlichen Hintergrund zu verschmelzen; es wirkt fast, als ob der pointillistisch getupfte Körper sich auflöste oder gerade erst manifestierte. Dagegen sind die Konturen des Kopfes wie bei einem Bild von Modigliani umso deutlicher mit klaren schwarzen Pinselstrichen umrissen. Die Fragilität des Körpers kontrastiert sozusagen mit der Schärfe und Klarheit des Geistes.
Gemalt hat dieses Porträt ein Mann, der in Deutschland kaum bekannt ist: der zu Lebzeiten einflussreiche Künstler und Kunstkritiker Roger Fry, geboren 1866 in London als Sohn einer wohlhabenden und strengen Quäker-Familie. 1910 hatte er sich der avantgardistischen Bloomsbury Group angeschlossen, im selben Jahr kuratierte er die Ausstellung "Manet and the Post-Impressionists", mit der er Cézanne, van Gogh, aber auch den jungen Picasso einem breiten und schockierten englischen Publikum bekannt machte; die britische Presse verurteilte die Ausstellung damals fast einhellig als "Irrenmalerei". Zuvor war Fry als Kurator am New Yorker Metropolitan Museum tätig gewesen.
Woolf hatte ihn über ihre ältere Schwester, die Malerin und Innenarchitektin Vanessa Bell, kennengelernt, als diese eine kurze Beziehung mit ihm hatte, und sie selbst verehrte den Kritiker und Maler. Fry war, obwohl heute außerhalb von Fachkreisen fast vergessen, zu jener Zeit eine hoch angesehene Person des britischen Kulturbetriebs. "Wenn Du so weitermachst, werden sie innerhalb eines Jahrhunderts einen Christus aus Dir machen", schrieb ihm Virginia Woolf: "Ich bin ein wenig alarmiert über die Größe und Leuchtkraft Deines Heiligenscheins." Die so treffend von ihm porträtierte Schriftstellerin revanchierte sich später mit einem geschriebenen Porträt des Freundes: Woolfs Biographie von Fry war das letzte zu ihren Lebzeiten veröffentlichte Werk. Es erschien 1940, und ein Jahr später brachte sich Woolf, die zeitlebens unter Depressionen und Angstzuständen litt, in einem Fluss um.
Die Ode an ihren Freund und Mentor Fry wurde lange nicht ins Deutsche übersetzt; jetzt aber hat Tobias Schwartz das Werk sensibel und präzise übertragen. "Roger Fry" ist ein Werk, das formal weniger experimentell ist als Woolfs berühmte Romane - aber es ist umso interessanter, wie sie anhand dieses individuellen Lebens den Epochenwandel um 1910, die Befreiung aus der Enge des viktorianischen und auch des edwardianischen Zeitalters und den Aufbruch in die Moderne beschreibt - und damit auch die kulturellen Voraussetzungen ihrer eigenen künstlerischen und persönlichen Emanzipation.
Fry war das, was die Kunsthistoriker eine Sattelfigur nennen, mit einem Bein noch im Impressionismus des neunzehnten Jahrhunderts, mit dem anderen schon in der Welt der Abstraktion und der künstlerischen Experimente des zwanzigsten. Woolf erzählt Frys Geschichte chronologisch, und es ist interessant zu sehen, wie sich ihre Sprache mit der von Fry verwebt, den sie ausgiebig zu Wort kommen lässt, wenn es etwa darum geht, ein Bild von Frys strengem Vater zu schaffen: "Beim Schlittschuhlaufen war er immer in Hochstimmung und noch liebenswürdiger und zuvorkommender als gewöhnlich [. . .]. Ihm war erst bestimmt, immer besorgter zu werden, als wir heranwuchsen und uns in eigenständige Persönlichkeiten verwandelten, die zunehmend weniger gewillt waren, sich in die starren Gepflogenheiten viktorianischer Häuslichkeit zu fügen", zitiert Woolf Fry, um dann selbst eindrücklich dessen frühe Jahre zu beschreiben, in denen er Frederic Leightons Malerei verehrt, ins Theater geht und sich sogar einmal schon als Kunstkritiker versucht - was aber nur zu einem halb garen Text führt, weil Fry, wie Woolf erzählt, an diesem Tag, "auch wenn es erst halb neun war, vor Müdigkeit beinahe umfiel und unverzüglich ins Bett" musste. So lässt Woolf mit dem für sie eigenen feinen Humor das Bild eines fast wie im Schlaf etwas somnambul in die Moderne hineinstolpernden jungen Mannes entstehen.
Fry reiste mit einem Freund, Pip Hughes, nach Italien. Woolfs Beschreibung ihrer gemeinsamen Fahrt ist ein typisches Beispiel für die spezielle Zweistimmigkeit dieser Biographie. Fry fuhr allein weiter, schreibt Woolf, "weil Pip, obwohl sie sich insgesamt recht gut verstanden hatten, eher träge und arbeitsscheu war; 'er leidet beinahe unentwegt an Melancholie, die bisweilen durch ein Aufblitzen kapriziöser Heiterkeit unterbrochen oder gemildert wird', lautet Rogers Interpretation von etwas, bei dem es sich vermutlich um nichts anderes als eine natürliche Unlust handelte, sich tagtäglich endlose Stunden lang Bilder anzusehen".
Woolf kannte diese Unlust nicht. Sie schaute sich unter Frys Anleitung vor allem die aktuelle Kunst sehr genau an - auch, um zu verstehen, wie in diesem Feld jene Sprünge hin zu einer Modernität vor sich gingen, die sie selbst in ihrem Essay "Modern Fiction" für das Schreiben einforderte. Fry war dabei für sie ein wichtiger Einfluss. Beide reisten mit ihren Partnern zusammen nach Venedig, wobei Frys Gattin von Woolf mit leicht boshaftem Unterton als "gekleidet wie ein ältlicher Yak in einem weißen Pelz" beschrieben wird. Oft liest die Biographie sich wie eine Erzählung, etwa dort, wo von Frys Hochzeitsreise die Rede ist: "Den ganzen Tag bummelten sie umher, zeichneten Skizzen, sahen sich Bilder an, sprachen abends mit Horatio Brown oder gingen baden, bis selbst ihnen die Hitze zu viel wurde. Das Fleisch schmolz ihnen förmlich von den Knochen, und sie flüchteten über die Alpen ins vergleichsweise kühle Frankreich."
Für Fry hat Woolf nur Bewunderung übrig - obwohl sie erwähnt, dass er zögerlicheren Naturen als "allzu rücksichtslos und diktatorisch" erscheinen könnte. Zu Unrecht: Fry, auf Fotos von 1915 ein hagerer Mann mit wild abstehenden Haaren und ausgetretenen Schuhen, ist für sie "der einzige zivilisierte Mann, den ich je kennengelernt habe", wie sie an ihre Schwester schreibt: "Ich halte ihn nach wie vor für unseren größten Gewinn, die Rechtfertigung, die Bestätigung für uns - und alles andere. Hätte Bloomsbury nur Roger hervorgebracht, wäre das vergleichbar mit Athen zu seiner Blütezeit." Er sei "der intelligenteste meiner Freunde" gewesen, schreibt sie einer Freundin: "Er konnte keine zwei Streichhölzer sehen, ohne ein Boot daraus zu basteln. Das war das Geheimnis seines Charmes und seines Genies."
Wie wichtig die Beschäftigung mit Kunst - und Frys Interpretationen - für Woolfs Schreiben ist, hat die literaturwissenschaftliche Forschung betont. In "To the Lighthouse" findet man die Malerin Lily Briscoe, deren Vorbild Cézanne ist, dessen Vereinigung von "Textur und Struktur" auch sie in ihrer Malerei erreichen will - zwei Begriffe, die direkt aus den Essays von Fry stammen. Hermione Lee, die eine Biographie Woolfs schrieb, sieht in deren Sprache einen "summenden, dunstigen Impressionismus" am Werk. Die der deutschen Ausgabe von "Roger Fry" angehängten, ebenfalls neu übersetzten Erzählungen "Montag oder Dienstag" "Blau & Grün" und "Der Suchscheinwerfer" belegen den Einfluss Frys auf Woolfs Schreiben ebenfalls sehr eindrücklich. Woolf betont, dass Fry auch zur Literatur eine deutliche Meinung hatte: Sie "leide an einer Überfülle unnötigen Ballasts. Cézanne und Picasso hätten einen Weg aufgezeigt, die Schriftsteller sollten ihre alten Darstellungsweisen in den Wind schießen und besser deren Beispiel folgen."
Woolf beschreibt Frys Kampf zwischen dem Wunsch, Maler zu sein, und seiner Erkenntnis, dass er als Kritiker und Essayist Bedeutenderes schaffen könne. "Der Kritiker, dem es auf eine so natürliche Weise leichtfiel, 'wilde Theorien' zu entwickeln und seine Eindrücke und Wahrnehmungen zu analysieren, sah sich stets von dem Künstler in sich dazu gedrängt, mit dem Notizenmachen aufzuhören und endlich die Leinwand herauszuholen." Aber "als es ihm endlich gelang, ein Bild auszustellen - ein Porträt von Mrs Widdrington -, erschien es ihm auf einmal ziemlich altmodisch . . ."
Fry wurde berühmt als Kurator und Kritiker der Zeitschrift "Athenaeum". Dass seiner Ansicht nach Künstler nicht von Kunstmarkt und Mäzenen abhängig werden sollten, führte 1913 zur Gründung der Omega-Werkstätten am Fitzroy Square. "Die jungen Künstler sollten Stühle, Tische, Teppiche und Keramik herstellen [. . .]. Auf diese Weise sollten sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, auf diese Weise besäßen sie die Freiheit, Bilder zu malen, wie die Dichter Gedichte schrieben - aus Vergnügen, nicht fürs Geld." Woolfs Schwester Vanessa entwarf für Omega Buchcover, es gab alles, von Möbeln bis hin zu Dekorationsgegenständen - die Omega-Werkstätten waren ein kleines, unideologisches Bauhaus auf Britisch. Dabei ging es Fry auch um die seiner Meinung nach unsinnige Trennung von "fine and decorative arts". 1934 starb der damals wichtigste Kritiker Großbritanniens nach einem Sturz in London an Herzversagen. Sechs Jahre später erzählte Woolf die Geschichte der modernen Kunst als Geschichte einer Person, der sie mehr zu verdanken hatte, als heute bekannt ist.
Virginia Woolf: "Roger Fry". Eine Biografie.
Hrsg, aus dem Englischen und Vorwort von Tobias Schwartz.
Aviva Verlag, Berlin 2023. 480 S., 16 Abb., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Roger Fry war als Maler, Kurator und Mitglied des Bloomsbury Kreises um Virginia Woolf eine wichtige Figur im englischen Kulturbetrieb, erklärt Rezensent Niklas Maak. Er freut sich, dass Tobias Schwartz Woolfs Fry-Biografie nun erstmals "sensibel und präzise" ins Deutsche übersetzt hat, weil es eben nicht nur Biografie ist, sondern auch den britischen "Aufbruch in die Moderne" dokumentiert. Mit Fry lernte Woolf, den Impressionismus zu verstehen und damit auch ihre Gegenwart. Für sie war er wie der Begründer einer neuen Schule von Athen. Ob Maak das auch so sieht, sagt er nicht, aber der Einfluss Frys auf Woolf wird ihm mit diesem Buch erst so richtig deutlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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