Der Zeichentheoretiker und Schriftsteller Roland Barthes (1915-80) steht wie kein anderer Intellektueller für die Entwicklungen des französischen Denkens zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus, Marxismus und Dekonstruktion, Erzähltheorie und Schreibkunst. Als enfant terrible der Kultur- und Literaturtheorie hat Barthes unsere Sicht der Welt verändert, indem er sie von Alltagsgegenständen bis zur haute couture, von der Literatur und Philosophie bis zu Massenkultur und Fotografie in ein "Reich der Zeichen" verwandelt hat. Im Zentrum stehen dabei stets die Zeichen des Lebens: im Diskurs der Liebe, im Abenteuer des Wissens, in der "Lust am Text". Die LebensZeichen Barthes entwerfen eine Wissenschaft vom Leben, die diese Einführung in ihrer ganzen Dynamik erfassbar macht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2014Kultur ersetzt Natur
Ottmar Ette entziffert mit Roland Barthes die Welt
Guy de Maupassant soll häufig im Restaurant des Eiffelturms zu Gast gewesen sein, aber es war nicht etwa die gute Küche, die ihn anzog: "Das ist der einzige Ort in Paris", so pflegte er zu sagen, "wo ich ihn nicht sehen muss." Mit dieser Anekdote eröffnet Roland Barthes einen Essay über den Eiffelturm, dieses von den Zeitgenossen als Monstrum wahrgenommene Eisenkonstrukt. Mit dem Turm wird freilich eine Vision Realität, die zuvor nur in der Literatur ausbuchstabiert worden war - der weit ausgreifende Panoramablick über die Stadt, wie er in der französischen Literatur vor allem seit Hugos "Glöckner von Notre-Dame" immer wieder imaginiert worden war. Dieser Turm nun, der selbst nichts darstellt und nichts beherbergt, an sich nutzlos und damit ein Nicht-Ort ist, übernimmt auf den ersten Blick die Funktion eines Belvedere, er legt dem Besucher die Stadt zu Füßen. Die Stadt wird zur Landschaft.
Doch Landschaft ist nicht gleichzusetzen mit Natur, so hat es bereits Joachim Ritter in seinem klassischen Aufsatz von 1963 deutlich gemacht: Landschaft ist eine Anschauungsform. Das Erklimmen eines erhöhten Aussichtspunkts, wie es Francesco Petrarca in seiner Besteigung des Mont Ventoux erstmals und exemplarisch vorexerzierte, bedeutet auch das Einnehmen eines distanzierten Standpunkts gegenüber dem Alltäglichen. Hier liegt die gemeinsame Wurzel des, wie Ritter formulierte, "inneren Zusammenhangs" von Landschaft und Theorie. Landschaft und Theorie sind immer schon eng geführt durch den ihnen jeweils zugrundeliegenden Wechsel der Perspektive.
Für Barthes geht es bei der Verknüpfung von Landschaft und Theorie aber um mehr. Gerade das Beispiel des Eiffelturms zeigt, dass mit dem Blick auf die Stadt Paris an die Stelle der Natur die menschliche Zivilisation tritt. Es ist nun nicht Natur, sondern Kultur, die sich als Panorama vor dem schweifenden Auge aufspannt. Und es ist nicht allein Theorie, sondern seine Theorie, die sich auf diese Weise manifestiert: der Strukturalismus. Der erhabene Blick, die Vogelschau, legt die Welt als geschichtlich gewordene zur Lektüre und nicht einfach zur Betrachtung vor - er provoziert die Entzifferung der Welt mit den Augen des Semiologen. So wird die Denkfigur der Landschaft zu einem Aufhänger für eine der zentralen Operationen in Barthes' Denken: das, was wir für Natur halten, als kulturell codiert zu enthüllen.
Der Romanist Ottmar Ette hat nun einen kleinen Band vorgelegt, der eine Zusammenschau jener Essays von Barthes bietet, denen der Entwurf einer Theorie-Landschaft gemeinsam ist. Es ist dabei ein Verdienst Ettes, ebenden - trotz der Barthes-Renaissance der letzten Jahre - kaum gelesenen und noch weniger diskutierten Essay über den Eiffelturm von 1964 neu vorzustellen. Ette stellt ihn in eine Reihe mit Texten, die in Zehnjahresabständen erschienen sind. Den Anfang macht eine Sammlung von Kürzesttexten über Griechenland ("En Grèce") aus dem Jahr 1944. Schon dort zeigt sich, dass der intellektuelle Zugriff auf die Landschaft von Verfremdungseffekten geprägt ist und damit quer steht zu traditionellen Techniken des Weltverstehens wie etwa dem Reisebericht. Ein Essay von 1955 über das überschwemmte Paris bürstet die Katastrophenberichterstattung der Medien gegen den Strich, behauptet schon im Titel "Paris wurde nicht überschwemmt" und versucht sich an einer Lesart der Überflutung als Ausnahmezustand der anderen Art: Barthes deutet sie als Fest. Die semiologische Analyse fördert gerade das zutage, was dem Common Sense gewiss nicht aufgefallen wäre.
Den Schlusspunkt bildet "Das Reich der Zeichen" von 1970. Barthes reflektiert hier die Eindrücke einer Japan-Reise, verweigert sich aber wiederum der traditionellen Formensprache der Reiseliteratur. Die westliche Logik der Aneignung des Fremden soll hier außer Kraft gesetzt werden, tritt damit aber natürlich umso deutlicher hervor. Realitätsdarstellung ist kein Anliegen, Zeichendekodierung umso mehr. Wiederum ist der paradoxe Effekt der radikalen Distanzierung, dass kaum je so präzise und anregend über die japanische Kultur gehandelt worden ist wie hier.
Etwas schief sitzt in Ettes Auswahl das Kapitel über den berühmten Essay über den Citroën DS ("La nouvelle Citroën") aus den "Mythen des Alltags". Das Auto, das auf Französisch natürlich weiblich ist und dessen Typenbezeichnung einen göttlichen Beiklang hat (Déesse), wird von Barthes als Objekt sinnlichen Begehrens interpretiert. Hier wird freilich die Analyseperspektive des distanzierten Blicks verlassen und durch eine haptische Erfahrung ersetzt, es ist nun eine "göttliche Körperlandschaft", so Ettes Formulierung, die hier zur Debatte steht. Ettes Band ist ein anregender Führer durch Barthes' Landschaften, "die sich uns dann erschließen, wenn wir bereit sind, scheinbar ,natürliche' Setzungen und Scheidungen nicht länger als gegeben hinzunehmen".
ANITA TRANINGER
Ottmar Ette: "Roland Barthes". Landschaften der Theorie. Konstanz University Press, Konstanz 2013. 153 S., Abb., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ottmar Ette entziffert mit Roland Barthes die Welt
Guy de Maupassant soll häufig im Restaurant des Eiffelturms zu Gast gewesen sein, aber es war nicht etwa die gute Küche, die ihn anzog: "Das ist der einzige Ort in Paris", so pflegte er zu sagen, "wo ich ihn nicht sehen muss." Mit dieser Anekdote eröffnet Roland Barthes einen Essay über den Eiffelturm, dieses von den Zeitgenossen als Monstrum wahrgenommene Eisenkonstrukt. Mit dem Turm wird freilich eine Vision Realität, die zuvor nur in der Literatur ausbuchstabiert worden war - der weit ausgreifende Panoramablick über die Stadt, wie er in der französischen Literatur vor allem seit Hugos "Glöckner von Notre-Dame" immer wieder imaginiert worden war. Dieser Turm nun, der selbst nichts darstellt und nichts beherbergt, an sich nutzlos und damit ein Nicht-Ort ist, übernimmt auf den ersten Blick die Funktion eines Belvedere, er legt dem Besucher die Stadt zu Füßen. Die Stadt wird zur Landschaft.
Doch Landschaft ist nicht gleichzusetzen mit Natur, so hat es bereits Joachim Ritter in seinem klassischen Aufsatz von 1963 deutlich gemacht: Landschaft ist eine Anschauungsform. Das Erklimmen eines erhöhten Aussichtspunkts, wie es Francesco Petrarca in seiner Besteigung des Mont Ventoux erstmals und exemplarisch vorexerzierte, bedeutet auch das Einnehmen eines distanzierten Standpunkts gegenüber dem Alltäglichen. Hier liegt die gemeinsame Wurzel des, wie Ritter formulierte, "inneren Zusammenhangs" von Landschaft und Theorie. Landschaft und Theorie sind immer schon eng geführt durch den ihnen jeweils zugrundeliegenden Wechsel der Perspektive.
Für Barthes geht es bei der Verknüpfung von Landschaft und Theorie aber um mehr. Gerade das Beispiel des Eiffelturms zeigt, dass mit dem Blick auf die Stadt Paris an die Stelle der Natur die menschliche Zivilisation tritt. Es ist nun nicht Natur, sondern Kultur, die sich als Panorama vor dem schweifenden Auge aufspannt. Und es ist nicht allein Theorie, sondern seine Theorie, die sich auf diese Weise manifestiert: der Strukturalismus. Der erhabene Blick, die Vogelschau, legt die Welt als geschichtlich gewordene zur Lektüre und nicht einfach zur Betrachtung vor - er provoziert die Entzifferung der Welt mit den Augen des Semiologen. So wird die Denkfigur der Landschaft zu einem Aufhänger für eine der zentralen Operationen in Barthes' Denken: das, was wir für Natur halten, als kulturell codiert zu enthüllen.
Der Romanist Ottmar Ette hat nun einen kleinen Band vorgelegt, der eine Zusammenschau jener Essays von Barthes bietet, denen der Entwurf einer Theorie-Landschaft gemeinsam ist. Es ist dabei ein Verdienst Ettes, ebenden - trotz der Barthes-Renaissance der letzten Jahre - kaum gelesenen und noch weniger diskutierten Essay über den Eiffelturm von 1964 neu vorzustellen. Ette stellt ihn in eine Reihe mit Texten, die in Zehnjahresabständen erschienen sind. Den Anfang macht eine Sammlung von Kürzesttexten über Griechenland ("En Grèce") aus dem Jahr 1944. Schon dort zeigt sich, dass der intellektuelle Zugriff auf die Landschaft von Verfremdungseffekten geprägt ist und damit quer steht zu traditionellen Techniken des Weltverstehens wie etwa dem Reisebericht. Ein Essay von 1955 über das überschwemmte Paris bürstet die Katastrophenberichterstattung der Medien gegen den Strich, behauptet schon im Titel "Paris wurde nicht überschwemmt" und versucht sich an einer Lesart der Überflutung als Ausnahmezustand der anderen Art: Barthes deutet sie als Fest. Die semiologische Analyse fördert gerade das zutage, was dem Common Sense gewiss nicht aufgefallen wäre.
Den Schlusspunkt bildet "Das Reich der Zeichen" von 1970. Barthes reflektiert hier die Eindrücke einer Japan-Reise, verweigert sich aber wiederum der traditionellen Formensprache der Reiseliteratur. Die westliche Logik der Aneignung des Fremden soll hier außer Kraft gesetzt werden, tritt damit aber natürlich umso deutlicher hervor. Realitätsdarstellung ist kein Anliegen, Zeichendekodierung umso mehr. Wiederum ist der paradoxe Effekt der radikalen Distanzierung, dass kaum je so präzise und anregend über die japanische Kultur gehandelt worden ist wie hier.
Etwas schief sitzt in Ettes Auswahl das Kapitel über den berühmten Essay über den Citroën DS ("La nouvelle Citroën") aus den "Mythen des Alltags". Das Auto, das auf Französisch natürlich weiblich ist und dessen Typenbezeichnung einen göttlichen Beiklang hat (Déesse), wird von Barthes als Objekt sinnlichen Begehrens interpretiert. Hier wird freilich die Analyseperspektive des distanzierten Blicks verlassen und durch eine haptische Erfahrung ersetzt, es ist nun eine "göttliche Körperlandschaft", so Ettes Formulierung, die hier zur Debatte steht. Ettes Band ist ein anregender Führer durch Barthes' Landschaften, "die sich uns dann erschließen, wenn wir bereit sind, scheinbar ,natürliche' Setzungen und Scheidungen nicht länger als gegeben hinzunehmen".
ANITA TRANINGER
Ottmar Ette: "Roland Barthes". Landschaften der Theorie. Konstanz University Press, Konstanz 2013. 153 S., Abb., geb., 16,90 [Euro].
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