Roland Barthes hat die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Lesen gelehrt. Er hat vorgeführt, wie die alltäglichen Dinge, die Mythen des Alltags, zu verstehen sind; er hat das Alphabet der Sprache der Liebe vorbuchstabiert; er hat die Lust am Text propagiert; er hat die Stellung des Autors untergraben - und in seinem letzten Seminar, der »Vorbereitung des Romans«, gestanden, er hätte sich gewünscht, Romancier zu werden.1915 in Cherbourg geboren, geht er in den Dreißiger Jahren zum Studium nach Paris. Hier sammelt er erst politische Erfahrung, entdeckt die Freundschaft und seine Homosexualität - und am Ende des Jahrzehnts befällt ihn eine Tuberkulose, die in ihn zu langjährigen Sanatoriumsaufenthalten zwingt. Dieser Abbruch einer normalen akademischen Karriere erklärt das späte Erscheinen seines Buches, Am »Nullpunkt der Literatur« (1957) und ist zugleich verantwortlich für seine Schreib- und Forscherhaltung: die überkommenen unverrückbaren universitären Wahrheiten enthüllt er als eine Form des Nicht-Wissens, an deren Stelle er eine neue Wissensform entfaltet.Die Schriftstellerin und Literaturhistorikerin Tiphaine Samoyault entwirft unter Rückgriff auf bisher unzugängliche persönliche Dokumente von Roland Barthes die erste umfassende, alle Aspekte von Werk und Leben ausleuchtende, Biographie. Als Wissenschaftlerin und Literatin liest sie die Person Roland Barthes und dessen Schreiben - und damit die Bedeutung dieses Autors für unsere Zeit.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Als Kritik kann man Barbara Vinkens schönen kleinen Essay zu Tiphaine Samoyault und den von ihr angeschnittenen Themen kaum definieren, aber man kann annehmen, dass sie zu ihrem gedanklichen Höhenflug ohne die Vorgaben dieses Buchs kaum abgehoben hätte. Bei Samoyault selbst scheint es einen essayistischen Ansatz zu geben, denn Vinken erwähnt, dass der Tod der Mutter der Autorin Auslöser für diese Biografie war - und der Tod der Mutter war bekanntlich ein umstürzendes Ereignis in Barthes' Leben. Inwieweit Vinkens Reflexionen über Barthes Verhältnis' zu seiner Mutter und über die Knabenliebe von der Biografie getragen sind, lässt sich aus der Lektüre ihres Textes nicht sagen. Immerhin merkt sie an, dass Samoyault durch viel bisher unbekanntes Material - vor allem die Lektüre seines tagebuchartigen Terminkalenders - neue Erkenntnisse über Barthes' Leben aufschließt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.201520. Wie zusammen leben?
"Wessen Zeitgenosse bin ich? Mit wem lebe ich?", fragte Roland Barthes 1977 in seiner ersten Vorlesung am Collège de France, die auf Deutsch unter dem Titel "Wie zusammen leben" erschienen ist. Als Barthes die Fragen stellte, war er gerade im Olymp des französischen Wissenschaftssystems angekommen. In Sicherheit wiegt ihn das aber nicht, im Gegenteil wird er gerade in diesem Moment von Selbstzweifeln befallen. Zweifel, die sich aber nicht um das Ich dieses Professors für Semiologie drehen und auch nicht um die Wörter und ihre Bedeutungen, für die er beruflich zuständig ist. Es sind Zweifel, die sich mehr oder weniger direkt auf das beziehen, was die Worte und Zeichen versuchen einzufangen: Auf die Wirklichkeit und die Gleichwertigkeit der in ihr vorkommenden Gegenstände. Wird er es schaffen, in seinen Vorlesungen zum Beispiel durch die Küche in seinem Sommerhaus zu gehen und allen Gegenständen, Zuständen, Gerüchen und Lichtverhältnissen in der ihnen gemäßen Gleichwertigkeit zu begegnen, und nicht etwa das Teesieb übersehen?
Es geht in Barthes' von Zweifeln durchzogenen Überlegungen also um nichts weniger als das Ganze in seinen Erscheinungen. Oder anders gesagt: Für Barthes war die von den Wissenschaften bevorzugte Komplexitätsreduktion nie ein Weg. Die Welt war und ist immer in jedem ihrer Winkel komplex, auch deshalb trifft man ständig auf unentscheidbare Dinge oder Situationen, denen man angemessen nur unentschlossen begegnen kann. Komplexität, Unentschlossenheit und das Unentscheidbare werden deshalb zu Begriffen und Haltungen im Leben Barthes', die er gegen das etablierte Wissen der Universitäten in seine Texte einführt. Und es ist die große Leistung von Tiphaine Samoyaults Biographie, dass sie diese Spannung in jeder Lebenssituation aufscheinen lässt.
Den Zweifel als Konstante im Leben dieses Glückskinds und Spezialisten des Glücks, der, aus einer mediterranen, afrikanisch-römischen Familie stammend, unter der römischen Sonne geboren wurde. Einer Sonne, "die den Menschen überflutet wie eine absolute Erkenntnis und ihm jegliche Zuflucht im weichen, dunklen Betrug verwehrt, ihn zu einer Art harten Glücks zwingt, zu einer Luziditätswut, die den Menschen nur in die Wüste versetzen kann", wie Barthes in einem Brief schrieb. Dass Barthes mit seiner "Klarheitswut" zu einem der bedeutendsten Intellektuellen des letzten Jahrhunderts wurde, der von Gide über Sartre bis zu Foucault die Heroen des französischen Denkens begleitete, tritt auf der Folie seiner zweifelnden Selbstbefangenheit zwar nicht in den Hintergrund. Barthes' Denken wird von Samoyault im Nachvollzug seines Lebens aber so grundiert, dass die Vereinnahmung des Namens Barthes aus der Biographie heraus nicht um sein kompromissloses Gleichheitsgebot herumkommt. Effizient ist das natürlich, wenn es ums Schreiben geht, nicht.
Cord Riechelmann
Tiphaine Samoyault: "Roland Barthes - Die Biographie". Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle und Lis Künzli. Suhrkamp, 871 Seiten, 39,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Wessen Zeitgenosse bin ich? Mit wem lebe ich?", fragte Roland Barthes 1977 in seiner ersten Vorlesung am Collège de France, die auf Deutsch unter dem Titel "Wie zusammen leben" erschienen ist. Als Barthes die Fragen stellte, war er gerade im Olymp des französischen Wissenschaftssystems angekommen. In Sicherheit wiegt ihn das aber nicht, im Gegenteil wird er gerade in diesem Moment von Selbstzweifeln befallen. Zweifel, die sich aber nicht um das Ich dieses Professors für Semiologie drehen und auch nicht um die Wörter und ihre Bedeutungen, für die er beruflich zuständig ist. Es sind Zweifel, die sich mehr oder weniger direkt auf das beziehen, was die Worte und Zeichen versuchen einzufangen: Auf die Wirklichkeit und die Gleichwertigkeit der in ihr vorkommenden Gegenstände. Wird er es schaffen, in seinen Vorlesungen zum Beispiel durch die Küche in seinem Sommerhaus zu gehen und allen Gegenständen, Zuständen, Gerüchen und Lichtverhältnissen in der ihnen gemäßen Gleichwertigkeit zu begegnen, und nicht etwa das Teesieb übersehen?
Es geht in Barthes' von Zweifeln durchzogenen Überlegungen also um nichts weniger als das Ganze in seinen Erscheinungen. Oder anders gesagt: Für Barthes war die von den Wissenschaften bevorzugte Komplexitätsreduktion nie ein Weg. Die Welt war und ist immer in jedem ihrer Winkel komplex, auch deshalb trifft man ständig auf unentscheidbare Dinge oder Situationen, denen man angemessen nur unentschlossen begegnen kann. Komplexität, Unentschlossenheit und das Unentscheidbare werden deshalb zu Begriffen und Haltungen im Leben Barthes', die er gegen das etablierte Wissen der Universitäten in seine Texte einführt. Und es ist die große Leistung von Tiphaine Samoyaults Biographie, dass sie diese Spannung in jeder Lebenssituation aufscheinen lässt.
Den Zweifel als Konstante im Leben dieses Glückskinds und Spezialisten des Glücks, der, aus einer mediterranen, afrikanisch-römischen Familie stammend, unter der römischen Sonne geboren wurde. Einer Sonne, "die den Menschen überflutet wie eine absolute Erkenntnis und ihm jegliche Zuflucht im weichen, dunklen Betrug verwehrt, ihn zu einer Art harten Glücks zwingt, zu einer Luziditätswut, die den Menschen nur in die Wüste versetzen kann", wie Barthes in einem Brief schrieb. Dass Barthes mit seiner "Klarheitswut" zu einem der bedeutendsten Intellektuellen des letzten Jahrhunderts wurde, der von Gide über Sartre bis zu Foucault die Heroen des französischen Denkens begleitete, tritt auf der Folie seiner zweifelnden Selbstbefangenheit zwar nicht in den Hintergrund. Barthes' Denken wird von Samoyault im Nachvollzug seines Lebens aber so grundiert, dass die Vereinnahmung des Namens Barthes aus der Biographie heraus nicht um sein kompromissloses Gleichheitsgebot herumkommt. Effizient ist das natürlich, wenn es ums Schreiben geht, nicht.
Cord Riechelmann
Tiphaine Samoyault: "Roland Barthes - Die Biographie". Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle und Lis Künzli. Suhrkamp, 871 Seiten, 39,95 Euro
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»Leben, Werk und Schicksal des großen Zeichentheoretikers, der die Literatur liebte, ohne jemals den ersehnten Roman schreiben zu können. Enzyklopädisch entfaltet im Kontext seiner intellektuellen Zeitgenossen im Frankreich des 20. Jahrhunderts. Ideengeschichte par excellence.« Gregor Dotzauer Der Tagesspiegel 20151205