Die Allgegenwärtigkeit der Tropen Roms erschließt sich in den sprachlichen Strukturen, die von der Antike bis zur Moderne stets verborgen haben, wodurch sie sich konstituieren. Ob im politischen Körper oder im Gesetz der Buchstaben wirkt Rom mit seinen Bedeutungen manifest oder latent nach. Die in diesem Band vorgenommenen Lektüren zielen darauf, das anagrammatische Spiel, in das Roma seit je impliziert ist, zu nutzen, um im unvermeidlichen Bezug unserer Kultur auf Rom überraschende Wendungen und Inklinationen herauszuarbeiten. Die kommentierte Anthologie versammelt Essays zu ausgewählten Passagen aus den Werken von Lucan, Plutarch, Quintilian, Augustinus, Petrarca, Luther, Du Bellay, Gracián, Vico, Baudelaire, Zola, Saussure, Freud, Derrida und vielen anderen mehr, die Rom implizit oder explizit aufrufen, durchstreichen, affirmieren, traumhaft verstellen, wiederholen oder nachtragen. Mit Beiträgen von Barbara Natalie Nagel, Michèle Lowrie, Gianluca Solla, Edi Zollinger, Hans Ulrich Gumbrecht, Anselm Haverkamp u.a.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Uwe Walter entdeckt und überblättert auch manchmal in dieser von Judith Kasper und Cornelia Wild herausgegebenen Anthologie mit Kommentaren zu schlauen Rom-Ansichten von Ovid bis Kittler. In manchen der Beiträge scheinen ihm Hermeneutik und Dada zwar allzu wilde Allianzen einzugehen oder auch Säulenheilige wie Freud oder Foucault überstrapaziert zu werden. Wie allerdings Barbara Vinken Augustinus rezipiert oder Pablo Orozco Paul Valéry, das scheint ihm die Lektüre allemal wert. Ebenso John T. Hamiltons Petrarca-Lektüren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2016Hier wurde festgelegt, was kulturelles Erbe heißt
Von Romulus und Remus bis zu Friedrich Kittler - und viele Stationen dazwischen: Ein Band versammelt Miniaturen recht unterschiedlicher Art zur literarischen und philosophischen Wirkungsgeschichte Roms.
Jacques Derrida hat das Wort "Mundialatinisierung" geschöpft, als er von einer imperialen Mission der lateinischen Sprachen fabulierte. Aber tatsächlich benötigt die Sprache Latein heute beinahe schon Artenschutz. Das sagt aber noch nichts über die Spuren, die Rom als Zentrum der lateinischen Sprache und des römischen Denkens in den Gedächtnissen Europas hinterlassen hat. Sammelbände wie "Latein und Europa", "Rom als Idee" oder "The Legacy of Rome" zeugen davon. Mit dem Band "Rom rückwärts" erhalten sie literaturwissenschaftlich-postmodern grundierten Zuwachs.
Der Titel kommentiert ironisch Peter Sloterdijks beiläufigen Satz, die sogenannte Geistesgeschichte beruhe auf der Illusion der Rückwärtskompatibilität von Ideen. In Form einer kommentierten Anthologie werden hier gut dreißig Textpassagen aus der europäischen Literatur und Philosophie von Ovid bis Friedrich Kittler, die auf Rom rekurrieren, auf je vier bis neun Seiten interpretiert, dazu einige Bilder und Filme. Dabei wird der Begriff Interpretation gestreckt Einige Autoren, etwa die Altphilologen Susanna Elm und Michèle Lowrie, erschließen die Vorlage (Prudentius beziehungsweise Lucan) schulmäßig und nachvollziehbar, andere assoziieren und verfremden ebenso lustvoll wie ungezügelt.
Die großen Bögen der Rezeptionsgeschichte sind in diesem Format ohnehin nicht zu spannen, doch die Neigung mancher Autoren, Wortspielen, Spiegelungen und Inversionen, von "Roma" über "amor" zu "mora", tiefe Bedeutung abzugewinnen, überschreitet bisweilen die Grenze zum hermeneutischen Dadaismus. Wenn die Herausgeber außerdem das Feld der Referenz Rom zwischen Institution und Traum, Übersetzung und Übertragung, Grammatik und Anagrammatik zu bestimmen suchen oder sich gegen die im Dispositiv der Macht angeblich behauptete Lückenlosigkeit und Kontinuität verwahren, so wirkt der Aufstand gegen eine genealogische Meistererzählung eher müde: Aus Sigmund Freud und Michel Foucault als epistemologischen Säulenheiligen lassen sich kaum noch zündende Funken schlagen.
Allzu leicht abgetan oder angeklagt wird Rom als angeblich kühl-abstrakte Ordnungs- und Rechtsmacht. Der Brudermord des Romulus in der Gründungsgeschichte habe die exklusive und monogame Vaterschaft als Legitimation von Herrschaft begründet. Den Rivalen Remus zu töten und eine gesetzliche Ordnung zu schaffen seien für die Römer zwei Seiten derselben Medaille gewesen: Da das Rechtliche im Sinn einer Reduzierung der Zweiheit auf eine Einheit abziele, sei der Mord als eine "vorjuridische Szene des Juridischen" zu lesen. Solche Gedankenakrobatik fasziniert, verkennt aber einen zentralen Unterschied: Die Welt der Ideen und Deutungen liebt Ambivalenzen und Pluralitäten, während ein Richter am Ende entscheiden muss.
Diskutabler erscheint da schon, was Barbara Vinken Augustinus' Lesart des Brudermords abgewinnt: Gespalten-sein im Gleichen, Figur des gesellschaftlichen Körpers und unhintergehbare Hypothek der Weltgeschichte. Simone Weil verallgemeinerte den Gedanken, als sie in finsterer Zeit Rom als den historischen Knoten identifizierte, von dem aus immer wieder Gewebe von Macht und Gewalt geknüpft würden, wie Marco Tabacchini herausarbeitet. Eine Variante davon war das Schreckgemälde päpstlichen Allmachtstrebens, das Emile Zola kulturkämpferisch ausmalte.
Differenzierter urteilte Paul Valéry, wie Pablo Orozco in einem der besten Beiträge des Bandes zeigt: Rom als ewiges Vorbild des organisierten und stabilen Machtstaates widerstand eben auch lange dem Schicksal der Zivilisation, sterblich zu sein - und es schuf über seinen Untergang hinaus die Idee einer Übertragung (translatio) als Option der Späteren, über ein definiertes Erbe verfügen zu können. Die Krise des Geistes, die Valéry diagnostiziert, manifestiert sich in einem Überangebot von gleich Gültigem - wer vermöge zu sagen, was in Literatur, Philosophie, Ästhetik morgen noch lebendig sein werde? Die in der römischen translatio gesicherte Organisation ist einer namenlosen Kontingenz gewichen.
Zu viel der Ehre gibt Dagmar Stöferle einem späten Versuch von Carl Schmitt, Raum und Rom als dasselbe Wort zu erweisen, indem sie diese "komplette Ver-rücktheit" werkbiographisch und psychologisch deutet. Unbedingt lesenswert ist dagegen, wie John T. Hamilton anhand Petrarcas Schilderung eines imaginären Spaziergangs durch Rom die Bewegungsdimension im Akt des Zitierens herausarbeitet: Aus einer unruhigen Gegenwart werden Teile der Vergangenheit wachgerüttelt. Insgesamt: ein Band zum Entdecken und Überblättern.
UWE WALTER
"Rom rückwärts". Europäische Übertragungsschicksale. Hrsg. von Judith Kasper und Cornelia Wild.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015. 252 S., Abb., br., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Romulus und Remus bis zu Friedrich Kittler - und viele Stationen dazwischen: Ein Band versammelt Miniaturen recht unterschiedlicher Art zur literarischen und philosophischen Wirkungsgeschichte Roms.
Jacques Derrida hat das Wort "Mundialatinisierung" geschöpft, als er von einer imperialen Mission der lateinischen Sprachen fabulierte. Aber tatsächlich benötigt die Sprache Latein heute beinahe schon Artenschutz. Das sagt aber noch nichts über die Spuren, die Rom als Zentrum der lateinischen Sprache und des römischen Denkens in den Gedächtnissen Europas hinterlassen hat. Sammelbände wie "Latein und Europa", "Rom als Idee" oder "The Legacy of Rome" zeugen davon. Mit dem Band "Rom rückwärts" erhalten sie literaturwissenschaftlich-postmodern grundierten Zuwachs.
Der Titel kommentiert ironisch Peter Sloterdijks beiläufigen Satz, die sogenannte Geistesgeschichte beruhe auf der Illusion der Rückwärtskompatibilität von Ideen. In Form einer kommentierten Anthologie werden hier gut dreißig Textpassagen aus der europäischen Literatur und Philosophie von Ovid bis Friedrich Kittler, die auf Rom rekurrieren, auf je vier bis neun Seiten interpretiert, dazu einige Bilder und Filme. Dabei wird der Begriff Interpretation gestreckt Einige Autoren, etwa die Altphilologen Susanna Elm und Michèle Lowrie, erschließen die Vorlage (Prudentius beziehungsweise Lucan) schulmäßig und nachvollziehbar, andere assoziieren und verfremden ebenso lustvoll wie ungezügelt.
Die großen Bögen der Rezeptionsgeschichte sind in diesem Format ohnehin nicht zu spannen, doch die Neigung mancher Autoren, Wortspielen, Spiegelungen und Inversionen, von "Roma" über "amor" zu "mora", tiefe Bedeutung abzugewinnen, überschreitet bisweilen die Grenze zum hermeneutischen Dadaismus. Wenn die Herausgeber außerdem das Feld der Referenz Rom zwischen Institution und Traum, Übersetzung und Übertragung, Grammatik und Anagrammatik zu bestimmen suchen oder sich gegen die im Dispositiv der Macht angeblich behauptete Lückenlosigkeit und Kontinuität verwahren, so wirkt der Aufstand gegen eine genealogische Meistererzählung eher müde: Aus Sigmund Freud und Michel Foucault als epistemologischen Säulenheiligen lassen sich kaum noch zündende Funken schlagen.
Allzu leicht abgetan oder angeklagt wird Rom als angeblich kühl-abstrakte Ordnungs- und Rechtsmacht. Der Brudermord des Romulus in der Gründungsgeschichte habe die exklusive und monogame Vaterschaft als Legitimation von Herrschaft begründet. Den Rivalen Remus zu töten und eine gesetzliche Ordnung zu schaffen seien für die Römer zwei Seiten derselben Medaille gewesen: Da das Rechtliche im Sinn einer Reduzierung der Zweiheit auf eine Einheit abziele, sei der Mord als eine "vorjuridische Szene des Juridischen" zu lesen. Solche Gedankenakrobatik fasziniert, verkennt aber einen zentralen Unterschied: Die Welt der Ideen und Deutungen liebt Ambivalenzen und Pluralitäten, während ein Richter am Ende entscheiden muss.
Diskutabler erscheint da schon, was Barbara Vinken Augustinus' Lesart des Brudermords abgewinnt: Gespalten-sein im Gleichen, Figur des gesellschaftlichen Körpers und unhintergehbare Hypothek der Weltgeschichte. Simone Weil verallgemeinerte den Gedanken, als sie in finsterer Zeit Rom als den historischen Knoten identifizierte, von dem aus immer wieder Gewebe von Macht und Gewalt geknüpft würden, wie Marco Tabacchini herausarbeitet. Eine Variante davon war das Schreckgemälde päpstlichen Allmachtstrebens, das Emile Zola kulturkämpferisch ausmalte.
Differenzierter urteilte Paul Valéry, wie Pablo Orozco in einem der besten Beiträge des Bandes zeigt: Rom als ewiges Vorbild des organisierten und stabilen Machtstaates widerstand eben auch lange dem Schicksal der Zivilisation, sterblich zu sein - und es schuf über seinen Untergang hinaus die Idee einer Übertragung (translatio) als Option der Späteren, über ein definiertes Erbe verfügen zu können. Die Krise des Geistes, die Valéry diagnostiziert, manifestiert sich in einem Überangebot von gleich Gültigem - wer vermöge zu sagen, was in Literatur, Philosophie, Ästhetik morgen noch lebendig sein werde? Die in der römischen translatio gesicherte Organisation ist einer namenlosen Kontingenz gewichen.
Zu viel der Ehre gibt Dagmar Stöferle einem späten Versuch von Carl Schmitt, Raum und Rom als dasselbe Wort zu erweisen, indem sie diese "komplette Ver-rücktheit" werkbiographisch und psychologisch deutet. Unbedingt lesenswert ist dagegen, wie John T. Hamilton anhand Petrarcas Schilderung eines imaginären Spaziergangs durch Rom die Bewegungsdimension im Akt des Zitierens herausarbeitet: Aus einer unruhigen Gegenwart werden Teile der Vergangenheit wachgerüttelt. Insgesamt: ein Band zum Entdecken und Überblättern.
UWE WALTER
"Rom rückwärts". Europäische Übertragungsschicksale. Hrsg. von Judith Kasper und Cornelia Wild.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015. 252 S., Abb., br., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main