Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.05.2000Auf den Menschen reimt sich die ganze Natur
Wilhelm Lehmanns autobiografische und vermischte Schriften / Von Ludwig Harig
„Früh lernte ich die Einrichtungen der Menschen hassen und verzehrte mich nach Freiheit, wie ich es noch heute tue. ” Dieses Bekenntnis eines elementaren Anarchismus aus einer biografischen Notiz des Dichters Wilhelm Lehmann ist für mich das Leitmotiv der autobiografischen und vermischten Schriften des achten Bandes seines, bei Klett-Cotta erscheinenden Œuvres. Wer war Wilhelm Lehmann, ein bedeutender, doch fast vergessener Schriftsteller der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts? Literaturwissenschaftler und -kritiker, vor allem aus der politisch engagierten Ecke, haben viel Kontroverses über ihn geschrieben, doch keiner hat wohl das, vom anfangs zitierten Leitwort geprägte, Werk des Dichters genauer beschrieben, als Kurt Pinthus 1917: „Ihm ist alles, was auf Erden lebt und sich ereignet, gleichwertig; ob Mensch oder Blume, ob Idee oder Wind – alles wird mit gleicher fantastischer Inbrunst umfasst und zur möglichst sinnfälligen Darstellung gebracht . . . Alles Geschehen zwischen Himmel und Erde wird durchaus vegetativ geschildert. ”
Lehmann, Zeit seines Lebens in der schwächeren Position des Einzelgängers – ob als avantgardistischer Lehrer, als desertierter Frontsoldat, als problematischer Staatsbürger oder gruppenfeindlicher Schriftsteller – hat sich nie vorgedrängt, nie Aufsehen erregt, nie Jünger um sich geschart. 1882 in Venezuela geboren, 1968 in Eckernförde gestorben, hat der sensible, jeder Ideologie abholde Mann, seinen Beruf als Berufung begriffen und ist, unfähig zu Kompromissen, seinen Weg des verkannten Außenseiters gegangen. Er war leidenschaftlicher Verfechter der Arbeitsschule, radikaler Vertreter einer aus sich selbst wirkenden Poesie, Grüner vor allen Grünen. Davon zeugen beispielhaft seine autobiografischen Skizzen, seine poetischen Darstellungen, pädagogischen Aufsätze, Geleitworte, Rezensionen, Fragen auf fix und fertige Antworten, Antworten auf neugierige Umfragen: 850 Druckseiten, von denen mir keine einzig überflüssig scheint.
Sorge ums Weltvokabular
Anmut des Besonderen. Charme des Außergewöhnlichen entführen den Leser in eine Welt, die, aus sorgsam erwogener Sprache gemacht, die vorhandene Wirklichkeit neu schafft. Realität in ein zweites Dasein überleitet. Im Bukolischen Tagebuch, von 1927 bis 1932 in der, bei Ullstein erschienenen Sonntagszeitung Die Grüne Post abgedruckt, lesen wir, ohne Fantasie gebe es keine Wirklichkeit: Hier feiert die mächtige Natur mit ihrer unbarmherzigen Lehre von Leben und Sterben ihr heidnisches Fest. Man liest von ergrauten Disteln und zottigen Klettenköpfen, vom regenwurmroten Stengel der Kuhblume und vom Maßliebchen, dem ewig Schönen, liest von des Kuckucks Wesen, des Kuckucks Fantasie, von Leib und Moral der Kreatur, die noch unbegriffen und unbeschrieben unserer Willkür ausgesetzt sei. „Jede Art Lebewesen, das ausstirbt, verdünnt das Weltvokabular, bringt uns weiter zurück von der Wahrheit, die nur aus dem Zusammenklang aller Wesen sich heraufarbeitet”, lesen wir über die Fledermaus.
Wir lesen, wie der Dichter auf einem seiner bukolischen Spaziergänge einen jungen Igel, seiner Herkunft nach „ein ganz altes Tier und wehrlos gegen die Welt der Maschine”, vor den Autoreifen der nahen Chaussee rettet, und immer wieder lesen wir vom Kuckuck, dem rätselumspukten Zaubervogel, dessen Ruf „Frag mir nicht nach!” stets wie aus verschollener Weite töne. Das heidnische Fest gründet sich in der Mythe: Im rasenden Gewisper der Mückenschwärme erscheint der Säbelschnäbler aus dem Lande der Scheherazade, das nirgendwo und überall liege. „Der Wanderer begibt sich in sein eigenes kleines Leben zurück”, erzählt Lehmann, „er hat es mit dem Leben des Weges geteilt, er ist in der Dichtung gewesen als der einzigen zweiten Welt in der hiesigen. ”
Das nachträgliche Wiedererkennen in der Sprache führt zu einem überraschenden Neuerkennen des Erfahrenen: Natur und Mythos sind ineinander verwoben, im schönen Schein des Gedichts wird sogar das Nichts zum Etwas. Poetisch beschworen ist es bei Wilhelm Lehmann ein „sommerliches Nichts”, das sich mit Geisterkraft erfüllt und dem Dichter selbst „die Wunde herrlich offen” lässt. Lehmanns Bukolisches Tagebuch von 1927 ist allerdings kein politisches Manifest der Grünen, das etwas fordert, sondern ein Bekenntnis zum Grünen an sich, ein modernes Vergilsches Hirtengedicht, das die Kräfte und Schönheiten der Natur beschwört.
So möge auch der Lehrer ein Rufer, ein Magier sein, dessen Unterrichtsstunde, wenn sie gelungen, einer Geisterbeschwörung gleichkomme: „Die Aufgabe des Lehrers ist, Flügel zu schaffen und diese Flügel gebrauchen zu lehren. ” In seinem Aufsatz „Zur Psychologie des Lehrers” beschreibt Wilhelm Lehmann den Lehrer als den Medizinmann, der es verstehe, jenen „schmalen, gefährlichen, zauberischen Weg” aufzuzeigen, der „vom Vorstellen zum Sein hinreicht”. Er selbst müsse den Weg der Fantasie mitgehen, der nötig sei, „Ideen in Existenzen umzuarbeiten”, einen Geistersprung zu vollführen, der von der Anschauung zum Begreifen hin leite. Es ist Lehmanns Credo der „Arbeitsschule”, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eines neuen Grundgedanken der Bildung entwickelte, „den Sinn der Erde darzustellen, nicht ihn zu erfragen und zu bereden”. Diese Methode – Lernen durch Selbsttätigkeit des Schülers – hat Lehmann jahrzehntelang praktiziert, zuerst als Lehrer an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, zuletzt als Studienrat an der Realschule in Eckernförde.
Ich selbst, leidenschaftlicher Anhänger der Arbeitsschule, bin so lange Lehrer gewesen, wie es durch die großzügigen Freiräume des Lehr- und Stoffplans noch möglich war, an die Produktivität des kindlichen Spiels anknüpfend Vorstellungen und Denkformen „so darzustellen, dass sie greifbar werden”. Lehmann zeigt die Methode auf. Er regt an, Pflanzen wie Wiesenschaumkraut, Goldlack und Levkoje miteinander zu vergleichen, Ähnlichkeiten zu erkennen und zu beschreiben, damit begreifbar werde, wie sich Übereinstimmendes in der Formenvielfalt als Verwandtes erweist. Denn „jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden”, auch Vorstellungen, auch Ideen. Wäre er noch am Leben und Zeuge der Entwicklung geblieben, hätte es Wilhelm Lehmann in seiner beharrlichen Verfechtung des Vielgestaltigen womöglich gefallen, das digitale Prinzip mit dem analogen zu vergleichen, um vielleicht einen Essay über das Einfältige und Vielfältige zu schreiben.
Wie seine Schriften über Pädagogik und Natur sind Lehmanns Rezensionen, Polemiken, Aufsätze und Interviews über die Souveränität der Poesie von unverführbarer Entschiedenheit geprägt. Immer wieder kommt er auf seine frühe Erkenntnis von der Autonomie der Poesie gegenüber allen sonstigen Versuchen der Wirklichkeitserfahrung und ihrer Politisierung zurück: „Es gibt wissenschaftliche und es gibt dichterische Genauigkeit. Ist es genial, die Natur des Wassers mit H2O zu bezeichnen, so ist es genial, zu sagen, dass es ,kühlt mit Liebesschauerlust in jauchzendem Gesange‘. Von der Poesie zur Politik, das bedeutet auch den Weg vom Einzelnen zur Abstraktion: Der Wissenschaft bedeutet das Allgemeine, der Dichtung das Einzelne alles. Der Dichtung als solcher hat die Einmischung ins Politische noch nie gut getan, sie erkauft den Tageserfolg mit dem Verlust des poetisch Gültigen. ”
So antwortet er – mit dem schönen, überzeugenden Zitat aus Mörikes Gedicht „Mein Fluß” – auf die Frage der Tübinger Südwestpresse in ihrer Weihnachtsbeilage 1964: „Wie beurteilen Sie die Situation der Zeit?” Schon in seinem Aufsatz über Elisabeth Langgässers Gedichtszyklus „Der Laubmann und die Rose” (geschrieben 1944) attackiert er die verblasene, ja menschenfeindliche Attitüde politischer Gleichmacherei: „Es ist die Aufgabe der Dichtung, im schrecklichen Kehraus der sogenannten ,allgemeinen Idee‘, der sogenannten ,großen geschichtlichen Ereignisse‘ das Konkrete, das Individuum aufzubewahren. ”
Nach der zweiten Sintflut
Die Radikalen der sechziger Jahre haben das im besten Wortsinn Radikale seiner Person und seines Werkes heftig bekämpft, nicht ahnend, dass die Gleichmacherei im Interkulturellen, im Interdisziplinären, im Interparlamentarischen dem alles verschlingenden Globalismus erst richtig Appetit gemacht hat. Geschichts- und Politikverdrossenheit steigerten sich bei Wilhelm Lehmann in den Jahren der totalen Politisierung von Literatur vor allem nach den wütenden Angriffen auf sein Gedicht „Nach der zweiten Sintflut” in eine äußerst kritische Gegnerschaft zu den Institutionen des Rundfunks, des Fernsehens und der Presse, die ihre öffentliche Respektlosigkeit vor dem Poetischen in der Forderung aussprächen, „das politische Zeitalter sollte das ästhetische ablösen”. Doch Wilhelm Lehmann, in bewundernswert respektloser Haltung, dreht den Spieß um und geißelte in einem Brief an einen jungen Dichter 1967 den Zynismus des öffentlichen Nivellierungsprogramms, bei dessen Konsum „Behaglichkeit im Publikum sich dann ausbreitet, wenn es sich die Verhöhnung seiner selbst süß eingehen lässt”.
In Geleitworten zu Buchausgaben von Schlegel und Hölderlin, Eichendorff und Gottfried Keller und einer Schallplattenausgabe von Gedichten Mörikes wirbt er um Leser und Hörer. Mit der Bedachtsamkeit und Zuneigung des Pädagogen öffnet er dem Leser verschlossene Gedankengänge, hellt ihm dunkle Bilder und Metaphern auf – und vergisst nicht, seine eigene Sympathie zu bekunden, ohne sich selbst beim Namen zu nennen. So zitiert er elf Zeilen des Sonetts „Am Walde” von Mörike, als seien es seinen eigenen, worin es heißt: „Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage,/den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen,/hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen. ”
WILHELM LEHMANN: Gesammelte Werke in acht Bänden. Band 8: Autobiographische und vermischte Schriften. Herausgegeben von Verena Kobel-Bänninger. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1999. 860 Seiten, 92 Mark.
Dichter, Lehrer und lebenslang Einzelgänger: Wilhelm Lehmann (1882 – 1968)
Foto: Ingrid Lockemann/SV Archiv
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Wilhelm Lehmanns autobiografische und vermischte Schriften / Von Ludwig Harig
„Früh lernte ich die Einrichtungen der Menschen hassen und verzehrte mich nach Freiheit, wie ich es noch heute tue. ” Dieses Bekenntnis eines elementaren Anarchismus aus einer biografischen Notiz des Dichters Wilhelm Lehmann ist für mich das Leitmotiv der autobiografischen und vermischten Schriften des achten Bandes seines, bei Klett-Cotta erscheinenden Œuvres. Wer war Wilhelm Lehmann, ein bedeutender, doch fast vergessener Schriftsteller der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts? Literaturwissenschaftler und -kritiker, vor allem aus der politisch engagierten Ecke, haben viel Kontroverses über ihn geschrieben, doch keiner hat wohl das, vom anfangs zitierten Leitwort geprägte, Werk des Dichters genauer beschrieben, als Kurt Pinthus 1917: „Ihm ist alles, was auf Erden lebt und sich ereignet, gleichwertig; ob Mensch oder Blume, ob Idee oder Wind – alles wird mit gleicher fantastischer Inbrunst umfasst und zur möglichst sinnfälligen Darstellung gebracht . . . Alles Geschehen zwischen Himmel und Erde wird durchaus vegetativ geschildert. ”
Lehmann, Zeit seines Lebens in der schwächeren Position des Einzelgängers – ob als avantgardistischer Lehrer, als desertierter Frontsoldat, als problematischer Staatsbürger oder gruppenfeindlicher Schriftsteller – hat sich nie vorgedrängt, nie Aufsehen erregt, nie Jünger um sich geschart. 1882 in Venezuela geboren, 1968 in Eckernförde gestorben, hat der sensible, jeder Ideologie abholde Mann, seinen Beruf als Berufung begriffen und ist, unfähig zu Kompromissen, seinen Weg des verkannten Außenseiters gegangen. Er war leidenschaftlicher Verfechter der Arbeitsschule, radikaler Vertreter einer aus sich selbst wirkenden Poesie, Grüner vor allen Grünen. Davon zeugen beispielhaft seine autobiografischen Skizzen, seine poetischen Darstellungen, pädagogischen Aufsätze, Geleitworte, Rezensionen, Fragen auf fix und fertige Antworten, Antworten auf neugierige Umfragen: 850 Druckseiten, von denen mir keine einzig überflüssig scheint.
Sorge ums Weltvokabular
Anmut des Besonderen. Charme des Außergewöhnlichen entführen den Leser in eine Welt, die, aus sorgsam erwogener Sprache gemacht, die vorhandene Wirklichkeit neu schafft. Realität in ein zweites Dasein überleitet. Im Bukolischen Tagebuch, von 1927 bis 1932 in der, bei Ullstein erschienenen Sonntagszeitung Die Grüne Post abgedruckt, lesen wir, ohne Fantasie gebe es keine Wirklichkeit: Hier feiert die mächtige Natur mit ihrer unbarmherzigen Lehre von Leben und Sterben ihr heidnisches Fest. Man liest von ergrauten Disteln und zottigen Klettenköpfen, vom regenwurmroten Stengel der Kuhblume und vom Maßliebchen, dem ewig Schönen, liest von des Kuckucks Wesen, des Kuckucks Fantasie, von Leib und Moral der Kreatur, die noch unbegriffen und unbeschrieben unserer Willkür ausgesetzt sei. „Jede Art Lebewesen, das ausstirbt, verdünnt das Weltvokabular, bringt uns weiter zurück von der Wahrheit, die nur aus dem Zusammenklang aller Wesen sich heraufarbeitet”, lesen wir über die Fledermaus.
Wir lesen, wie der Dichter auf einem seiner bukolischen Spaziergänge einen jungen Igel, seiner Herkunft nach „ein ganz altes Tier und wehrlos gegen die Welt der Maschine”, vor den Autoreifen der nahen Chaussee rettet, und immer wieder lesen wir vom Kuckuck, dem rätselumspukten Zaubervogel, dessen Ruf „Frag mir nicht nach!” stets wie aus verschollener Weite töne. Das heidnische Fest gründet sich in der Mythe: Im rasenden Gewisper der Mückenschwärme erscheint der Säbelschnäbler aus dem Lande der Scheherazade, das nirgendwo und überall liege. „Der Wanderer begibt sich in sein eigenes kleines Leben zurück”, erzählt Lehmann, „er hat es mit dem Leben des Weges geteilt, er ist in der Dichtung gewesen als der einzigen zweiten Welt in der hiesigen. ”
Das nachträgliche Wiedererkennen in der Sprache führt zu einem überraschenden Neuerkennen des Erfahrenen: Natur und Mythos sind ineinander verwoben, im schönen Schein des Gedichts wird sogar das Nichts zum Etwas. Poetisch beschworen ist es bei Wilhelm Lehmann ein „sommerliches Nichts”, das sich mit Geisterkraft erfüllt und dem Dichter selbst „die Wunde herrlich offen” lässt. Lehmanns Bukolisches Tagebuch von 1927 ist allerdings kein politisches Manifest der Grünen, das etwas fordert, sondern ein Bekenntnis zum Grünen an sich, ein modernes Vergilsches Hirtengedicht, das die Kräfte und Schönheiten der Natur beschwört.
So möge auch der Lehrer ein Rufer, ein Magier sein, dessen Unterrichtsstunde, wenn sie gelungen, einer Geisterbeschwörung gleichkomme: „Die Aufgabe des Lehrers ist, Flügel zu schaffen und diese Flügel gebrauchen zu lehren. ” In seinem Aufsatz „Zur Psychologie des Lehrers” beschreibt Wilhelm Lehmann den Lehrer als den Medizinmann, der es verstehe, jenen „schmalen, gefährlichen, zauberischen Weg” aufzuzeigen, der „vom Vorstellen zum Sein hinreicht”. Er selbst müsse den Weg der Fantasie mitgehen, der nötig sei, „Ideen in Existenzen umzuarbeiten”, einen Geistersprung zu vollführen, der von der Anschauung zum Begreifen hin leite. Es ist Lehmanns Credo der „Arbeitsschule”, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eines neuen Grundgedanken der Bildung entwickelte, „den Sinn der Erde darzustellen, nicht ihn zu erfragen und zu bereden”. Diese Methode – Lernen durch Selbsttätigkeit des Schülers – hat Lehmann jahrzehntelang praktiziert, zuerst als Lehrer an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, zuletzt als Studienrat an der Realschule in Eckernförde.
Ich selbst, leidenschaftlicher Anhänger der Arbeitsschule, bin so lange Lehrer gewesen, wie es durch die großzügigen Freiräume des Lehr- und Stoffplans noch möglich war, an die Produktivität des kindlichen Spiels anknüpfend Vorstellungen und Denkformen „so darzustellen, dass sie greifbar werden”. Lehmann zeigt die Methode auf. Er regt an, Pflanzen wie Wiesenschaumkraut, Goldlack und Levkoje miteinander zu vergleichen, Ähnlichkeiten zu erkennen und zu beschreiben, damit begreifbar werde, wie sich Übereinstimmendes in der Formenvielfalt als Verwandtes erweist. Denn „jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden”, auch Vorstellungen, auch Ideen. Wäre er noch am Leben und Zeuge der Entwicklung geblieben, hätte es Wilhelm Lehmann in seiner beharrlichen Verfechtung des Vielgestaltigen womöglich gefallen, das digitale Prinzip mit dem analogen zu vergleichen, um vielleicht einen Essay über das Einfältige und Vielfältige zu schreiben.
Wie seine Schriften über Pädagogik und Natur sind Lehmanns Rezensionen, Polemiken, Aufsätze und Interviews über die Souveränität der Poesie von unverführbarer Entschiedenheit geprägt. Immer wieder kommt er auf seine frühe Erkenntnis von der Autonomie der Poesie gegenüber allen sonstigen Versuchen der Wirklichkeitserfahrung und ihrer Politisierung zurück: „Es gibt wissenschaftliche und es gibt dichterische Genauigkeit. Ist es genial, die Natur des Wassers mit H2O zu bezeichnen, so ist es genial, zu sagen, dass es ,kühlt mit Liebesschauerlust in jauchzendem Gesange‘. Von der Poesie zur Politik, das bedeutet auch den Weg vom Einzelnen zur Abstraktion: Der Wissenschaft bedeutet das Allgemeine, der Dichtung das Einzelne alles. Der Dichtung als solcher hat die Einmischung ins Politische noch nie gut getan, sie erkauft den Tageserfolg mit dem Verlust des poetisch Gültigen. ”
So antwortet er – mit dem schönen, überzeugenden Zitat aus Mörikes Gedicht „Mein Fluß” – auf die Frage der Tübinger Südwestpresse in ihrer Weihnachtsbeilage 1964: „Wie beurteilen Sie die Situation der Zeit?” Schon in seinem Aufsatz über Elisabeth Langgässers Gedichtszyklus „Der Laubmann und die Rose” (geschrieben 1944) attackiert er die verblasene, ja menschenfeindliche Attitüde politischer Gleichmacherei: „Es ist die Aufgabe der Dichtung, im schrecklichen Kehraus der sogenannten ,allgemeinen Idee‘, der sogenannten ,großen geschichtlichen Ereignisse‘ das Konkrete, das Individuum aufzubewahren. ”
Nach der zweiten Sintflut
Die Radikalen der sechziger Jahre haben das im besten Wortsinn Radikale seiner Person und seines Werkes heftig bekämpft, nicht ahnend, dass die Gleichmacherei im Interkulturellen, im Interdisziplinären, im Interparlamentarischen dem alles verschlingenden Globalismus erst richtig Appetit gemacht hat. Geschichts- und Politikverdrossenheit steigerten sich bei Wilhelm Lehmann in den Jahren der totalen Politisierung von Literatur vor allem nach den wütenden Angriffen auf sein Gedicht „Nach der zweiten Sintflut” in eine äußerst kritische Gegnerschaft zu den Institutionen des Rundfunks, des Fernsehens und der Presse, die ihre öffentliche Respektlosigkeit vor dem Poetischen in der Forderung aussprächen, „das politische Zeitalter sollte das ästhetische ablösen”. Doch Wilhelm Lehmann, in bewundernswert respektloser Haltung, dreht den Spieß um und geißelte in einem Brief an einen jungen Dichter 1967 den Zynismus des öffentlichen Nivellierungsprogramms, bei dessen Konsum „Behaglichkeit im Publikum sich dann ausbreitet, wenn es sich die Verhöhnung seiner selbst süß eingehen lässt”.
In Geleitworten zu Buchausgaben von Schlegel und Hölderlin, Eichendorff und Gottfried Keller und einer Schallplattenausgabe von Gedichten Mörikes wirbt er um Leser und Hörer. Mit der Bedachtsamkeit und Zuneigung des Pädagogen öffnet er dem Leser verschlossene Gedankengänge, hellt ihm dunkle Bilder und Metaphern auf – und vergisst nicht, seine eigene Sympathie zu bekunden, ohne sich selbst beim Namen zu nennen. So zitiert er elf Zeilen des Sonetts „Am Walde” von Mörike, als seien es seinen eigenen, worin es heißt: „Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage,/den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen,/hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen. ”
WILHELM LEHMANN: Gesammelte Werke in acht Bänden. Band 8: Autobiographische und vermischte Schriften. Herausgegeben von Verena Kobel-Bänninger. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1999. 860 Seiten, 92 Mark.
Dichter, Lehrer und lebenslang Einzelgänger: Wilhelm Lehmann (1882 – 1968)
Foto: Ingrid Lockemann/SV Archiv
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