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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2012

Ein Buch zur Geschichte des Strebertums

Glaubt man dem Oxford English Dictionary, dann erobern "Nerds" erst seit den fünfziger Jahren die englische Sprache. Heute haben sie auch im deutschen Spottvokabular Hochkonjunktur - Obsessionen aller Art, vor allem aber zur Ersetzung des guten alten Strebers, der begrifflich nicht vor Ende des 19. Jahrhunderts auftaucht. Davor hießen kriechende und schleichende Begabungen eher Primus oder Bankerster.

Dieser Typus gab einst weniger Anlass zur Ausgrenzung als heute, zumal wenn die Besten auch andere an ihren guten Leistungen teilhaben ließen. Doch Rivalitäten und das Quälen von Klassenkameraden gehörten eigentlich schon immer zum Schulsport - "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz oder Musils "Verwirrungen des Zöglings Törleß" liegen noch schwer in unserem Lesegedächtnis.

Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth absolvierte 1913 das Gymnasium im galizischen Brody mit Auszeichnungen. Auf Fotos sieht man ihn in stolzer Haltung, wahlweise in fescher Schuluniform oder mit Geige, die er eigentlich gar nicht spielte. Nach den Mühen der Matura verkündet er recht altklug, er bereite sich jetzt auf das Leben als "größte aller Schulen" vor: "Hoffentlich werde ich auch diese Anstalt mit sehr gutem Erfolg besuchen." Mit bitterer Ironie porträtierte Roth 1916 in der kleinen Erzählung "Der Vorzugsschüler" (gerade neu herausgegeben von Stefan Rogal, Reclam Stuttgart 2012) einen Mann, der sich mit größter Skrupellosigkeit durchs Leben schlängelt.

Für den Schüler Anton Wanzl ist Lernen der einzige Lebensinhalt. "Ein brennender Ehrgeiz verzehrte ihn." Er ist Primus, dabei aber unglücklich. Den Aufseher der Klasse klagt er als bestechlich an und wird sein Nachfolger. Die neue Macht beflügelt ihn. Als er älter wird - eigentlich war er nie jung -, bezieht er die Universität, studiert Literatur, gibt den Professoren immer recht, promoviert, wirbt um die Tochter eines Hofrats. Darüber lässt er seine erste Geliebte sitzen, die eine Totgeburt hat und aus Verzweiflung zur Dirne wird. Für ihn sind das bloße Petitessen. Das Ziel, Direktor in seinem alten Gymnasium zu werden, erreicht er wie alles andere im Leben. Sein Motto: "Man muss es nur geschickt anstellen".

Anton Wanzl, Sohn eines Briefträgers, ist insgesamt ein Greuel, ein widerlicher Streber, schamloser Intrigant und beflissener Emporkömmling. Er stellt ein mindestens so weitsichtiges Zukunftsporträt des deutschen autoritären Charakters dar wie etwa Heinrich Manns Diederich Heßling. Doch im Innern befällt auch ihn jener "horror vacui", den Siegfried Kracauer vielen Figuren Joseph Roths bescheinigte. Erst in seinem Sarg lacht Anton Wanzl zum ersten Mal im Leben - vor allem über die Dummheit der Welt.

ALEXANDER KOSENINA

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