Die schönsten Werke von Balzac in gründlich revidierten Übersetzungen und mit kompetenten Einführungen. Sieben Romane: 'Der Talisman oder Das Chagrinleder', 'Vater Goriot', 'Eugénie Grandet', 'Verlorene Illusionen', 'Glanz und Elend der Kurtisanen', 'Vetter Pons oder Die beiden Musiker', 'Tante Lisbeth'. Und sieben Erzählungen: 'Das rote Wirtshaus', 'Eine Leidenschaft in der Wüste', 'Sarrasine', 'Das unbekannte Meisterwerk', 'Colonel Chabert', 'Facino Cane', 'Das Mädchen mit den Goldaugen'.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2014Die Wiederkehr des großen Modernen
"Verlorene Illusionen" ist der berühmteste Roman von Honoré de Balzac - und auch der dickste. Wer das Werk in einer Übersetzung lesen will, die ihm gerecht wird, dem kann nun geholfen werden.
Von Felicitas von Lovenberg
Am Nachruhm war ihm nicht gelegen, das sei eine "Sonne für Tote", also Geld, das man nicht mehr ausgeben kann - für einen Verschwender wie ihn keine reizvolle Vorstellung. Er zog es vor, im Jetzt zu leben, seine Schulden in die Vergangenheit zu schieben und sich eine Zukunft als Auflagenkönig an der Seite einer schönen, klugen und vor allem vermögenden Frau auszumalen. Honoré de Balzac, der sich mit dreißig Jahren selbst adelte, mit Anfang vierzig seine Werke zu dem megalomanen Projekt der "Menschlichen Komödie" bündelte und mit nur 51 Jahren starb, war ein Meister der Verdrängung: von Rechnungen, Abgabeterminen und dem Namen der Dame von letzter Nacht ebenso wie von Neidern, Misserfolgen und schlechten Kritiken. Die einzige Währung, die er gelten ließ, war die harte.
Nachdem seine Absicht, es zum Erfolgsschriftsteller zu bringen, sich zunächst nicht ins Werk hatte setzen lassen, probierte er vieles, um der Fron zu entkommen, "Tinte in Gold" zu verwandeln. Doch als Verleger scheiterte er mit einer Klassiker-Edition, die Druckerei, für die er sich bis über beide Ohren verschuldete, schrieb nur rote Zahlen, und auf Sardinien fand er so wenig einen Silberschatz wie in seinem Garten eine einzige blaue Rose.
Aber er schrieb mehr als neunzig Romane, Erzählungen und Novellen, dazu Theaterstücke und Artikel. Ein sorgloses Auskommen konnte er auch damit nicht finanzieren. Umso mehr saß ein perfider Ausruf wie der des stilistisch überlegenen Flaubert, was dieser Mann für ein grandioser Autor hätte sein können, "wenn er doch nur hätte schreiben können". Dass der vorgebliche Berserker es aber höchst genau nahm, zeigt sein vielfaches Umschreiben von Texten und die akribische Nachbearbeitung von Korrekturbögen.
Nun ist seine Zeit abermals gekommen. Nach den großen Dostojewski-, Tschechow- und Tolstoi-Übersetzungen, nach Stendhal, Melville und Stevenson ist endlich Balzac an der Reihe, wieder gelesen zu werden. Anlässe dazu geben Politik und Wirtschaft ständig (jüngst mit dem Bekanntwerden der erweiterten Maschmeyer-Schröder-Connection), doch einen besseren Grund bietet eine neue Übersetzung von "Verlorene Illusionen", jenem Hauptwerk, in dem der Autor mit den Betrachtungen seiner Epoche unserer Gegenwart am nächsten kommt.
In "Ein großer Mann vom Land in Paris", dem mittleren der drei Bücher, aus denen dieser umfangreichste Roman Balzacs besteht, schildert er den rasanten Aufstieg und dramatischen Absturz des ehrgeizigen Lucien Chardon. Die rauschende Erbarmungslosigkeit, mit der Balzac den Kulturbetrieb als verkommen darstellt, hat den Titel zum geflügelten Wort werden lassen und den Roman zu einem Klassiker, den jeder zu kennen glaubt, auch ohne ihn gelesen zu haben.
Die Wahrheit auf dem Papier ist ungleich komplexer und spannender. Lucien, ein gutaussehender und talentierter junger Mann aus der südfranzösischen Provinz, kommt mit dem Herz voller Poesie, dem Kopf voller Prosa und den Ersparnissen von Schwester und Schwager in der Tasche nach Paris. Doch der ersehnte soziale und literarische Aufstieg bleibt zunächst aus. Binnen weniger Tage verliert er Bewunderung und Protektion seiner Madame de Bargeton, in deren Windschatten er Stadt und Gesellschaft erobern wollte, das baldige Erscheinen seiner mitgebrachten Werke rückt in weite Ferne, und der Großteil des Geldes ist für einen Anzug draufgegangen, den er nun nicht braucht. Doch sein Ego ist größer als die Enttäuschung, und so macht Lucien de Rubempré, wie er sich fortan nennt, Karriere nicht als Schriftsteller, sondern im Metier der schnellen Befriedigung von Publikum wie Autor: als Journalist. Bald ist er in die Spielregeln eingeweiht: Meinungen sind zum Wechseln da, und Rezensionen werden nicht um des Gegenstandes willen verfasst, sondern einzig, um eine (am besten die eigene) Karriere zu fördern und Konkurrenten zu schaden.
Doch auch, wenn Karl Kraus allein aus Zitaten dieses Teils der "Verlorenen Illusionen" einen geharnischten Leitartikel für seine "Fackel" vom 26. Juni 1909 schöpfte - Balzac malt die Welt keineswegs in Schwarz und Weiß, sondern in allen Schattierungen, die seine Palette hergibt. Und was die technischen Möglichkeiten und moralischen Gefahren der beschleunigten Zirkulation von Texten, Nachrichten und Geld anging, wohnten mindestens zwei Herzen in seiner Brust. Zwar gibt es den aufrechten Schriftsteller Daniel d'Arthez, jenen Freund, der Lucien vor dem Warencharakter von Zeitungstexten warnt und dessen Manuskripte in wahre Literatur verwandelt, doch lässt Balzac den Leser ebenso teilhaben an Luciens fulminantem Debüt als Theaterkritiker, das man widerwillig bewundern muss. Luciens Fluch ist nicht sein Beruf, sondern sein Charakter.
Aber in diesem großen, hellsichtigen Roman steckt noch viel mehr. Mindestens so sehr wie vom Journalismus und vom literarischen Leben handelt "Verlorene Illusionen" von den Intrigen und den Strategien anderer Geschäftszweige. Er erklärt die Herausforderungen des Druckereigewerbes, denunziert die Übermacht der Banken und die gerissenen Methoden der Anwälte. Er schildert das erbarmungslose soziale Gefälle zwischen Hauptstadt und Provinz. In wie vielen Tonarten Balzac das Titelmotiv der Desillusion im Roman variiert, führt die Übersetzerin Melanie Walz in ihrem Nachwort lebhaft vor Augen, das die Lektüre gerade nach 850 Dünndruck-Seiten Balzac ebenso lohnt wie ihre diskreten Anmerkungen.
Dass sich der Roman trotz seines Umfangs so federleicht und frisch liest, verdankt sich der schönen, klaren Sprache, in die Melanie Walz ihn gebracht hat. Ganz gleich, ob es sich um einen Exkurs zur Papierherstellung oder um das Wochenmenü bei Flicoteaux handelt, alles wird von Balzac mit Verve inszeniert. Melanie Walz ist mit diesem Tonfall und der Zeit, der er entstammt, insofern vertraut, als dass sie mit Dickens und Jane Austen zwei Autoren übersetzt hat, die viel mit Balzac verbindet. Nun hat sie sich in französischer Sprache nach Alexandre Dumas, Jules Michelet und ein wenig Proust jenes Werk Balzacs vorgenommen, das zwar in zig verschiedenen Ausgaben von Rowohlt bis Diogenes vorliegt, aber meist nur in der Übersetzung von Otto Flake aus dem Jahr 1920. In den siebziger Jahren folgte im Aufbau Verlag noch jene von Udo Wolf.
Fast hundert Jahre nach der ersten und gut vierzig nach der zweiten hat Melanie Walz den großen Modernen Balzac nun auch sprachlich in unsere Zeit geholt. Wird etwa bei Flake lapidar über Lucien gesagt: "Das ist kein Dichter, das ist schon ein laufender Roman", heißt es bei Udo Wolf immerhin: "Dieser Junge ist kein Dichter, sondern ein fortlaufender Roman." Melanie Walz macht daraus endlich einen Satz, den jeder versteht: "Dieser Bursche ist kein Dichter, er ist ein veritabler Fortsetzungsroman." Solche Beispiele gibt es zuhauf. So spricht Flake bei den Freunden um d'Arthez abwechselnd von einem Kreis und einem Bund; Melanie Walz erklärt den Zirkel von Schriftstellern und Philosophen resolut zur "Tafelrunde", was seine Geschlossenheit unterstreicht und Lucien als Gegenbild seiner eigenen Entscheidungen immer wieder sinnfällig vor Augen tritt.
Die Tafelrunde verstößt ihn schließlich, nachdem er ihren Artus verraten hat. Balzac aber hatte Lucien Chardon mit diesem wuchtigen Roman noch nicht abgeschrieben, sondern ihn in "Glanz und Elend der Kurtisanen" einen weiteren faustischen Pakt eingehen lassen.
Honoré de Balzac: "Verlorene Illusionen". Roman.
Aus dem Französischen von Melanie Walz. Carl Hanser Verlag, München 2014. 959 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Verlorene Illusionen" ist der berühmteste Roman von Honoré de Balzac - und auch der dickste. Wer das Werk in einer Übersetzung lesen will, die ihm gerecht wird, dem kann nun geholfen werden.
Von Felicitas von Lovenberg
Am Nachruhm war ihm nicht gelegen, das sei eine "Sonne für Tote", also Geld, das man nicht mehr ausgeben kann - für einen Verschwender wie ihn keine reizvolle Vorstellung. Er zog es vor, im Jetzt zu leben, seine Schulden in die Vergangenheit zu schieben und sich eine Zukunft als Auflagenkönig an der Seite einer schönen, klugen und vor allem vermögenden Frau auszumalen. Honoré de Balzac, der sich mit dreißig Jahren selbst adelte, mit Anfang vierzig seine Werke zu dem megalomanen Projekt der "Menschlichen Komödie" bündelte und mit nur 51 Jahren starb, war ein Meister der Verdrängung: von Rechnungen, Abgabeterminen und dem Namen der Dame von letzter Nacht ebenso wie von Neidern, Misserfolgen und schlechten Kritiken. Die einzige Währung, die er gelten ließ, war die harte.
Nachdem seine Absicht, es zum Erfolgsschriftsteller zu bringen, sich zunächst nicht ins Werk hatte setzen lassen, probierte er vieles, um der Fron zu entkommen, "Tinte in Gold" zu verwandeln. Doch als Verleger scheiterte er mit einer Klassiker-Edition, die Druckerei, für die er sich bis über beide Ohren verschuldete, schrieb nur rote Zahlen, und auf Sardinien fand er so wenig einen Silberschatz wie in seinem Garten eine einzige blaue Rose.
Aber er schrieb mehr als neunzig Romane, Erzählungen und Novellen, dazu Theaterstücke und Artikel. Ein sorgloses Auskommen konnte er auch damit nicht finanzieren. Umso mehr saß ein perfider Ausruf wie der des stilistisch überlegenen Flaubert, was dieser Mann für ein grandioser Autor hätte sein können, "wenn er doch nur hätte schreiben können". Dass der vorgebliche Berserker es aber höchst genau nahm, zeigt sein vielfaches Umschreiben von Texten und die akribische Nachbearbeitung von Korrekturbögen.
Nun ist seine Zeit abermals gekommen. Nach den großen Dostojewski-, Tschechow- und Tolstoi-Übersetzungen, nach Stendhal, Melville und Stevenson ist endlich Balzac an der Reihe, wieder gelesen zu werden. Anlässe dazu geben Politik und Wirtschaft ständig (jüngst mit dem Bekanntwerden der erweiterten Maschmeyer-Schröder-Connection), doch einen besseren Grund bietet eine neue Übersetzung von "Verlorene Illusionen", jenem Hauptwerk, in dem der Autor mit den Betrachtungen seiner Epoche unserer Gegenwart am nächsten kommt.
In "Ein großer Mann vom Land in Paris", dem mittleren der drei Bücher, aus denen dieser umfangreichste Roman Balzacs besteht, schildert er den rasanten Aufstieg und dramatischen Absturz des ehrgeizigen Lucien Chardon. Die rauschende Erbarmungslosigkeit, mit der Balzac den Kulturbetrieb als verkommen darstellt, hat den Titel zum geflügelten Wort werden lassen und den Roman zu einem Klassiker, den jeder zu kennen glaubt, auch ohne ihn gelesen zu haben.
Die Wahrheit auf dem Papier ist ungleich komplexer und spannender. Lucien, ein gutaussehender und talentierter junger Mann aus der südfranzösischen Provinz, kommt mit dem Herz voller Poesie, dem Kopf voller Prosa und den Ersparnissen von Schwester und Schwager in der Tasche nach Paris. Doch der ersehnte soziale und literarische Aufstieg bleibt zunächst aus. Binnen weniger Tage verliert er Bewunderung und Protektion seiner Madame de Bargeton, in deren Windschatten er Stadt und Gesellschaft erobern wollte, das baldige Erscheinen seiner mitgebrachten Werke rückt in weite Ferne, und der Großteil des Geldes ist für einen Anzug draufgegangen, den er nun nicht braucht. Doch sein Ego ist größer als die Enttäuschung, und so macht Lucien de Rubempré, wie er sich fortan nennt, Karriere nicht als Schriftsteller, sondern im Metier der schnellen Befriedigung von Publikum wie Autor: als Journalist. Bald ist er in die Spielregeln eingeweiht: Meinungen sind zum Wechseln da, und Rezensionen werden nicht um des Gegenstandes willen verfasst, sondern einzig, um eine (am besten die eigene) Karriere zu fördern und Konkurrenten zu schaden.
Doch auch, wenn Karl Kraus allein aus Zitaten dieses Teils der "Verlorenen Illusionen" einen geharnischten Leitartikel für seine "Fackel" vom 26. Juni 1909 schöpfte - Balzac malt die Welt keineswegs in Schwarz und Weiß, sondern in allen Schattierungen, die seine Palette hergibt. Und was die technischen Möglichkeiten und moralischen Gefahren der beschleunigten Zirkulation von Texten, Nachrichten und Geld anging, wohnten mindestens zwei Herzen in seiner Brust. Zwar gibt es den aufrechten Schriftsteller Daniel d'Arthez, jenen Freund, der Lucien vor dem Warencharakter von Zeitungstexten warnt und dessen Manuskripte in wahre Literatur verwandelt, doch lässt Balzac den Leser ebenso teilhaben an Luciens fulminantem Debüt als Theaterkritiker, das man widerwillig bewundern muss. Luciens Fluch ist nicht sein Beruf, sondern sein Charakter.
Aber in diesem großen, hellsichtigen Roman steckt noch viel mehr. Mindestens so sehr wie vom Journalismus und vom literarischen Leben handelt "Verlorene Illusionen" von den Intrigen und den Strategien anderer Geschäftszweige. Er erklärt die Herausforderungen des Druckereigewerbes, denunziert die Übermacht der Banken und die gerissenen Methoden der Anwälte. Er schildert das erbarmungslose soziale Gefälle zwischen Hauptstadt und Provinz. In wie vielen Tonarten Balzac das Titelmotiv der Desillusion im Roman variiert, führt die Übersetzerin Melanie Walz in ihrem Nachwort lebhaft vor Augen, das die Lektüre gerade nach 850 Dünndruck-Seiten Balzac ebenso lohnt wie ihre diskreten Anmerkungen.
Dass sich der Roman trotz seines Umfangs so federleicht und frisch liest, verdankt sich der schönen, klaren Sprache, in die Melanie Walz ihn gebracht hat. Ganz gleich, ob es sich um einen Exkurs zur Papierherstellung oder um das Wochenmenü bei Flicoteaux handelt, alles wird von Balzac mit Verve inszeniert. Melanie Walz ist mit diesem Tonfall und der Zeit, der er entstammt, insofern vertraut, als dass sie mit Dickens und Jane Austen zwei Autoren übersetzt hat, die viel mit Balzac verbindet. Nun hat sie sich in französischer Sprache nach Alexandre Dumas, Jules Michelet und ein wenig Proust jenes Werk Balzacs vorgenommen, das zwar in zig verschiedenen Ausgaben von Rowohlt bis Diogenes vorliegt, aber meist nur in der Übersetzung von Otto Flake aus dem Jahr 1920. In den siebziger Jahren folgte im Aufbau Verlag noch jene von Udo Wolf.
Fast hundert Jahre nach der ersten und gut vierzig nach der zweiten hat Melanie Walz den großen Modernen Balzac nun auch sprachlich in unsere Zeit geholt. Wird etwa bei Flake lapidar über Lucien gesagt: "Das ist kein Dichter, das ist schon ein laufender Roman", heißt es bei Udo Wolf immerhin: "Dieser Junge ist kein Dichter, sondern ein fortlaufender Roman." Melanie Walz macht daraus endlich einen Satz, den jeder versteht: "Dieser Bursche ist kein Dichter, er ist ein veritabler Fortsetzungsroman." Solche Beispiele gibt es zuhauf. So spricht Flake bei den Freunden um d'Arthez abwechselnd von einem Kreis und einem Bund; Melanie Walz erklärt den Zirkel von Schriftstellern und Philosophen resolut zur "Tafelrunde", was seine Geschlossenheit unterstreicht und Lucien als Gegenbild seiner eigenen Entscheidungen immer wieder sinnfällig vor Augen tritt.
Die Tafelrunde verstößt ihn schließlich, nachdem er ihren Artus verraten hat. Balzac aber hatte Lucien Chardon mit diesem wuchtigen Roman noch nicht abgeschrieben, sondern ihn in "Glanz und Elend der Kurtisanen" einen weiteren faustischen Pakt eingehen lassen.
Honoré de Balzac: "Verlorene Illusionen". Roman.
Aus dem Französischen von Melanie Walz. Carl Hanser Verlag, München 2014. 959 S., geb., 39,90 [Euro].
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