»Europäischer gestimmt war man nie als in der Romantik, dieser Fortsetzung der Aufklärung mit anderen Mitteln und Themen.«Die Kunst der Romantik war von Anfang an dazu gedacht, Grenzen zu überschreiten - der Genres, der Kunstgattungen oder auch der Nationalstaaten. Dichter versuchten sich an der Musikalisierung des Empfindens und der Sprache, Schriftstellerinnen und Künstler aller Herren Länder begegneten einander in den Salons und auf den Reiserouten Europas. Manch schöpferischem Geist gelang es sogar, all dies in einer Person zu vereinen: E.T.A. Hoffmann etwa wurde nicht nur durch Übersetzungen in zahlreiche Sprachen zum europäischen Phänomen, seine Virtuosität umfasste neben dem Schreiben auch die Musik, das Zeichnen und die Wissenschaft. Rüdiger Görner fängt den Zauber einer Epoche ein, in der plötzlich alles möglich schien.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Lothar Müller liest zwei Neuerscheinungen zur Romantik im Vergleich: Sowohl die Darstellung des Literaturwissenschaftlers Rüdiger Görners als auch das Werk seines Kollegen Stefan Matuschek betten die deutsche Romantik in die europäische ein, erkennt der Kritiker. Die Autoren verfolgen allerdings unterschiedliche Ansätze: Görner geht von der Literatur aus, zieht von dort aus Verbindungen zur Musik und Malerei und verweist auf interessante Zusammenhänge, etwa wenn er die Figur der Tänzerin bis zu Gautier und Baudelaire verfolgt. Eine detailreiches Überblickswerk, dem ein großes Publikum zu wünschen ist, schließt der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.2021Kultureller Kontinent
Romantik als europäisches Phänomen in zwei Studien
Als 2007 Rüdiger Safranskis vielbeachtetes Buch "Romantik - Eine deutsche Affäre" erschien, forderte der Untertitel, wie zu erwarten, mancherlei Kritik heraus. So ganz und gar deutsch sollte diese Bewegung gewesen sein? Wo blieben da, bitte schön, die Franzosen und Engländer? Der Autor machte mit solchen Mängelrügen kurzen Prozess. "Kritiken, die einfach sagen, das und das fehlt noch", ließ er in einem Interview verlauten, "sind mit die fantasielosesten Kritiken, mit denen man nun gar nichts anfangen kann."
Als solcherart Auto-Immunisierter dürfte er es mit Gelassenheit hinnehmen, dass sein Name im Register zweier soeben erschienener Bücher, die auf der europäischen Dimension der Romantik bestehen, durch Abwesenheit glänzt. Stefan Matuschek ("Der gedichtete Himmel - Eine Geschichte der Romantik", bei C. H. Beck) gönnt ihm keine Zeile, Rüdiger Görner ("Romantik - Ein europäisches Ereignis"), von Reclam als "längst fällige Gegenthese zu Safranski" beworben, immerhin eine Fußnote, die seinen Ansatz als "verfehltes Konzept" abwertet. Ist es neuerdings kritischer Usus, zentrale Vorgänger in einem Orwell'schen Gedächtnisloch verschwinden zu lassen?
Wie dem auch sei, es spricht einiges dafür, solche verkaufsfördernden Gegensätze durch ein Sowohl-als-auch zu ersetzen. Als philosophisch-literarische Kenner der deutschen Genieepoche können hierzulande ohnehin nur wenige mit Safranski mithalten, wenn es gilt, das spezifisch Deutsche der Romantik zu erkennen und zu benennen. Dass er Wortlust, Enthusiasmus und eine nachdrückliche Ironie mit seinen Romantikern teilt, ist dabei durchaus von Vorteil. Und sein Untertitel lässt etwas von den zwielichtigen Folgen der "Affäre" ahnen.
Andererseits: "Europäischer gestimmt war man nie als in der (frühen) Romantik, dieser Fortsetzung der Aufklärung mit anderen Mitteln und Themen", so Görner. Am übernationalen Charakter einer alle Künste umgreifenden, philosophiegesättigten romantischen Bewegung kann es keinen Zweifel geben, auch wenn manche Verflechtungen nicht auf der Hand liegen, und wenn es, etwa in der Literatur unserer Nachbarn, noch einiges zu entdecken gibt. Hier sind Germanisten mit komparatistischem Horizont gefordert, wie Matuschek in der Romantiker-Stadt Jena oder Görner, der im fernen London lehrt. Die alte binnendeutsche Unterscheidung zwischen Klassik und Romantik verliert vor dem europäischen Horizont deutlich an Trennschärfe.
Beide Autoren wenden sich betont essayistisch an ihr Publikum. Textproben aus der Fremde werden leserfreundlich eingedeutscht (was der Lyrik als führender Gattung der Zeit nicht immer gut bekommt). Da die Vermessung eines ganzen kulturellen Kontinents auf dem Programm steht, ergeben sich komplexe Fragen der Grenzziehung: Welche Nationen, welche Künste werden eingeschlossen, wie lässt sich eine thematische Gliederung mit dem geschichtlichen Narrativ verbinden, wie das Verhältnis von Zentrum und Peripherie gewichten? England und Frankreich, das ist klar, sind neben Deutschland die Kernländer der Romantik. "Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es", lautet die bekannte Formel des Novalis für die poetische Rückverwandlung einer rational entzauberten Welt.
Fast mit den gleichen Worten drückt Coleridge das dichterische Streben seines Freundes Wordsworth aus, dem es darum gegangen sei, "den Dingen des gewöhnlichen Lebens den Reiz der Neuheit zu geben und damit ein Gefühl des gleichsam Übernatürlichen zu erzeugen". Der unendliche Schein, das gleichsam Übernatürliche: Das ist die "Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln" (Safranski), eine jenseitige Sehnsucht, die sich selbst unter Illusionsverdacht stellt. Matuschek verwendet für diese tiefironische Konstellation einen Begriff aus dem Bereich der optischen Täuschung: die Kippfigur, die den Betrachter einlädt, in einem Bild, je nach Blickwinkel, das vordergründig Dargestellte und/oder dessen Gegenteil zu erkennen; also etwa das Göttliche in der Natur und das Naturhafte im Göttlichen - die schöpferische Fantasie als säkulare Offenbarung.
Die metaphysische Kippfigur sei kein Generalschlüssel zur Romantik, betont der Autor, aber gerade dazu scheint er sie zu benützen, indem er permanent ihren Einsatz als die epochale Innovation feiert. Im Übrigen illustriert er die transzendentale Sehnsucht als Grundzug der Romantik an zahlreichen Beispielen aus Lyrik und Prosa mit den Mitteln einer Komparatistik, bei der Vertrautes und Fremdes, textuelle und bildende Kunst, sich gegenseitig erhellen. Es ist ein notwendig selektives, auch assoziatives Verfahren, das manchmal mit seinen zeitlichen Turbulenzen die im Untertitel versprochene Geschichte der Romantik aus dem Takt zu bringen droht.
Doch die historischen Bezüge von der Französischen Revolution bis zur chauvinistischen Wende der deutschen Romantik gegen Napoleon bleiben klar markiert. Auch die Visionen der schwarzen Romantik kommen zu ihrem Recht, denn Matuscheks "gedichteter" Himmel ist wie der "geteilte" von Christa Wolf, der bei der Namensgebung Pate stand, antithetisch gebaut. Am Ende geht es mit Baudelaire und Rilke etwas eilig in die Moderne, und Heinrich Heine darf (wie schon bei Safranski) im Bild des deutschen Donners Hitlers apokalyptische Romantik prophezeien: "Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher . . . und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht."
Schade, dass diese nützliche und ertragreiche Erweiterung des romantischen Horizonts im Stil einer Anfängervorlesung daherkommt, die dem Publikum gern Altbekanntes erklärt und ex cathedra ihre Zensuren verteilt: "geht in die falsche Richtung", "trifft ins Schwarze", "Heine hat recht. Doch übertreibt er . . ." Und dann dieses Schlusswort zur romantischen Transzendenz : "Was man nicht genau wissen kann, kann man sich vorstellen. Es ist eine verbreitete Gewohnheit, das zu tun." Eher ins Schwarze traf da wohl T. E. Hulme, der die Romantik aus der Sicht einer ernüchterten Moderne kurzerhand als spilt religion, verschüttete Religion, definierte.
Görners vielseitige "Annäherung an das Langzeitereignis europäische Romantik" bietet für stilistisches Unbehagen wenig Anlass. Sie beginnt mit fünf in die Thematik einstimmenden Préludes und widmet auch sonst der romantischen Musik ihre besondere Zuwendung, bis hin zum Ballett als symbolischer Kunstform. Es geht ihm dabei um einen empathischen Zugang zum Thema, gerade in Zeiten der Ernüchterung: "Man muss das Romantische quasi an Leib und Seele erfahren haben." Ein großes Überblickswissen wird auf gut romantische Art durch persönliche Einfühlung beglaubigt, etwa wenn der Autor in Keats' Sterbezimmer zu Rom Einkehr hält oder zu Leipzig in dankbarer Erinnerung an Philipp Reclams Verlagsgründung 1828 über die Stiftung von Lesergemeinschaften und Künstlergruppen (Serapionsbrüder, Davidsbündler) meditiert.
Seinen kulturellen Kontinent vermisst Görner, von der Chronologie unbeengt, weitgehend nach Gattungskriterien. Als historische Rahmung dienen ihm zwei deutsch-englische Begegnungen der besonderen Art: einmal, im nasskalten Winter 1798, die Harzreise der Geschwister Wordsworth mit ihrem Freund Coleridge, ein missglückter Brückenschlag zwischen zwei Kernländern der Romantik, und dann Wolfgang Hildesheimers historischer Roman "Marbot", mit einem europäisch gesinnten Kunst- und Literaturliebhaber als Helden, der endlich Weimar und den Lake District zusammenführt und so auf fiktionalem Gebiet das leistet, was die Wirklichkeit leider schuldig blieb.
Immer wieder begibt sich Görner auf reizvoll ungewöhnliches Terrain, etwa wenn er die romantische Erzählkunst unserer Nachbarn nicht nur mit den üblichen Kandidaten, sondern auch an aparten Texten von Andersen und Puschkin illustriert. Besonders angetan hat es ihm die Spiegelung der Künste in den jeweils anderen Medien, also etwa der Musik in der Erzählprosa oder der Malerei in der Dichtung. Hier, wie in vielem anderen, steht ihm E. T. A. Hoffmann, der international erfolgreichste deutsche Romantiker, besonders nahe. Gern vertraut man sich Görners kundiger Führung über die highways und byways der europäischen Romantik an und nimmt ein gelegentliches Informationsdickicht willig in Kauf. Nur wenn er auf "Heinrich von Afterdingen" als dem ursprünglichen Titel des Novalis besteht und Tiecks wohltätige Emendation zu "Ofterdingen" verwirft, wird man ihm die Gefolgschaft verweigern müssen.
Beide Autoren am Ende zu fragen, wo sie denn Burkes Konzept des Erhabenen gelassen haben, Rousseaus "Bekenntnisse" oder den epochalen deutschen Beitrag zu einer neuen Theorie und Praxis der Übersetzung, wäre undankbar, und zudem ein Verstoß gegen das Safranski'sche Interdikt (siehe oben). Unabschließbarkeit gehört nun einmal, da sind sich Matuschek und Görner einig, ganz wesentlich zum Projekt der Romantik. WERNER VON KOPPENFELS.
Rüdiger Görner: "Romantik". Ein europäisches Ereignis.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 360 S., geb., 28,- Euro.
Stefan Matuschek: "Der gedichtete Himmel". Eine Geschichte der Romantik.
Verlag C. H. Beck, München 2021. 400 S., geb. 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Romantik als europäisches Phänomen in zwei Studien
Als 2007 Rüdiger Safranskis vielbeachtetes Buch "Romantik - Eine deutsche Affäre" erschien, forderte der Untertitel, wie zu erwarten, mancherlei Kritik heraus. So ganz und gar deutsch sollte diese Bewegung gewesen sein? Wo blieben da, bitte schön, die Franzosen und Engländer? Der Autor machte mit solchen Mängelrügen kurzen Prozess. "Kritiken, die einfach sagen, das und das fehlt noch", ließ er in einem Interview verlauten, "sind mit die fantasielosesten Kritiken, mit denen man nun gar nichts anfangen kann."
Als solcherart Auto-Immunisierter dürfte er es mit Gelassenheit hinnehmen, dass sein Name im Register zweier soeben erschienener Bücher, die auf der europäischen Dimension der Romantik bestehen, durch Abwesenheit glänzt. Stefan Matuschek ("Der gedichtete Himmel - Eine Geschichte der Romantik", bei C. H. Beck) gönnt ihm keine Zeile, Rüdiger Görner ("Romantik - Ein europäisches Ereignis"), von Reclam als "längst fällige Gegenthese zu Safranski" beworben, immerhin eine Fußnote, die seinen Ansatz als "verfehltes Konzept" abwertet. Ist es neuerdings kritischer Usus, zentrale Vorgänger in einem Orwell'schen Gedächtnisloch verschwinden zu lassen?
Wie dem auch sei, es spricht einiges dafür, solche verkaufsfördernden Gegensätze durch ein Sowohl-als-auch zu ersetzen. Als philosophisch-literarische Kenner der deutschen Genieepoche können hierzulande ohnehin nur wenige mit Safranski mithalten, wenn es gilt, das spezifisch Deutsche der Romantik zu erkennen und zu benennen. Dass er Wortlust, Enthusiasmus und eine nachdrückliche Ironie mit seinen Romantikern teilt, ist dabei durchaus von Vorteil. Und sein Untertitel lässt etwas von den zwielichtigen Folgen der "Affäre" ahnen.
Andererseits: "Europäischer gestimmt war man nie als in der (frühen) Romantik, dieser Fortsetzung der Aufklärung mit anderen Mitteln und Themen", so Görner. Am übernationalen Charakter einer alle Künste umgreifenden, philosophiegesättigten romantischen Bewegung kann es keinen Zweifel geben, auch wenn manche Verflechtungen nicht auf der Hand liegen, und wenn es, etwa in der Literatur unserer Nachbarn, noch einiges zu entdecken gibt. Hier sind Germanisten mit komparatistischem Horizont gefordert, wie Matuschek in der Romantiker-Stadt Jena oder Görner, der im fernen London lehrt. Die alte binnendeutsche Unterscheidung zwischen Klassik und Romantik verliert vor dem europäischen Horizont deutlich an Trennschärfe.
Beide Autoren wenden sich betont essayistisch an ihr Publikum. Textproben aus der Fremde werden leserfreundlich eingedeutscht (was der Lyrik als führender Gattung der Zeit nicht immer gut bekommt). Da die Vermessung eines ganzen kulturellen Kontinents auf dem Programm steht, ergeben sich komplexe Fragen der Grenzziehung: Welche Nationen, welche Künste werden eingeschlossen, wie lässt sich eine thematische Gliederung mit dem geschichtlichen Narrativ verbinden, wie das Verhältnis von Zentrum und Peripherie gewichten? England und Frankreich, das ist klar, sind neben Deutschland die Kernländer der Romantik. "Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es", lautet die bekannte Formel des Novalis für die poetische Rückverwandlung einer rational entzauberten Welt.
Fast mit den gleichen Worten drückt Coleridge das dichterische Streben seines Freundes Wordsworth aus, dem es darum gegangen sei, "den Dingen des gewöhnlichen Lebens den Reiz der Neuheit zu geben und damit ein Gefühl des gleichsam Übernatürlichen zu erzeugen". Der unendliche Schein, das gleichsam Übernatürliche: Das ist die "Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln" (Safranski), eine jenseitige Sehnsucht, die sich selbst unter Illusionsverdacht stellt. Matuschek verwendet für diese tiefironische Konstellation einen Begriff aus dem Bereich der optischen Täuschung: die Kippfigur, die den Betrachter einlädt, in einem Bild, je nach Blickwinkel, das vordergründig Dargestellte und/oder dessen Gegenteil zu erkennen; also etwa das Göttliche in der Natur und das Naturhafte im Göttlichen - die schöpferische Fantasie als säkulare Offenbarung.
Die metaphysische Kippfigur sei kein Generalschlüssel zur Romantik, betont der Autor, aber gerade dazu scheint er sie zu benützen, indem er permanent ihren Einsatz als die epochale Innovation feiert. Im Übrigen illustriert er die transzendentale Sehnsucht als Grundzug der Romantik an zahlreichen Beispielen aus Lyrik und Prosa mit den Mitteln einer Komparatistik, bei der Vertrautes und Fremdes, textuelle und bildende Kunst, sich gegenseitig erhellen. Es ist ein notwendig selektives, auch assoziatives Verfahren, das manchmal mit seinen zeitlichen Turbulenzen die im Untertitel versprochene Geschichte der Romantik aus dem Takt zu bringen droht.
Doch die historischen Bezüge von der Französischen Revolution bis zur chauvinistischen Wende der deutschen Romantik gegen Napoleon bleiben klar markiert. Auch die Visionen der schwarzen Romantik kommen zu ihrem Recht, denn Matuscheks "gedichteter" Himmel ist wie der "geteilte" von Christa Wolf, der bei der Namensgebung Pate stand, antithetisch gebaut. Am Ende geht es mit Baudelaire und Rilke etwas eilig in die Moderne, und Heinrich Heine darf (wie schon bei Safranski) im Bild des deutschen Donners Hitlers apokalyptische Romantik prophezeien: "Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher . . . und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht."
Schade, dass diese nützliche und ertragreiche Erweiterung des romantischen Horizonts im Stil einer Anfängervorlesung daherkommt, die dem Publikum gern Altbekanntes erklärt und ex cathedra ihre Zensuren verteilt: "geht in die falsche Richtung", "trifft ins Schwarze", "Heine hat recht. Doch übertreibt er . . ." Und dann dieses Schlusswort zur romantischen Transzendenz : "Was man nicht genau wissen kann, kann man sich vorstellen. Es ist eine verbreitete Gewohnheit, das zu tun." Eher ins Schwarze traf da wohl T. E. Hulme, der die Romantik aus der Sicht einer ernüchterten Moderne kurzerhand als spilt religion, verschüttete Religion, definierte.
Görners vielseitige "Annäherung an das Langzeitereignis europäische Romantik" bietet für stilistisches Unbehagen wenig Anlass. Sie beginnt mit fünf in die Thematik einstimmenden Préludes und widmet auch sonst der romantischen Musik ihre besondere Zuwendung, bis hin zum Ballett als symbolischer Kunstform. Es geht ihm dabei um einen empathischen Zugang zum Thema, gerade in Zeiten der Ernüchterung: "Man muss das Romantische quasi an Leib und Seele erfahren haben." Ein großes Überblickswissen wird auf gut romantische Art durch persönliche Einfühlung beglaubigt, etwa wenn der Autor in Keats' Sterbezimmer zu Rom Einkehr hält oder zu Leipzig in dankbarer Erinnerung an Philipp Reclams Verlagsgründung 1828 über die Stiftung von Lesergemeinschaften und Künstlergruppen (Serapionsbrüder, Davidsbündler) meditiert.
Seinen kulturellen Kontinent vermisst Görner, von der Chronologie unbeengt, weitgehend nach Gattungskriterien. Als historische Rahmung dienen ihm zwei deutsch-englische Begegnungen der besonderen Art: einmal, im nasskalten Winter 1798, die Harzreise der Geschwister Wordsworth mit ihrem Freund Coleridge, ein missglückter Brückenschlag zwischen zwei Kernländern der Romantik, und dann Wolfgang Hildesheimers historischer Roman "Marbot", mit einem europäisch gesinnten Kunst- und Literaturliebhaber als Helden, der endlich Weimar und den Lake District zusammenführt und so auf fiktionalem Gebiet das leistet, was die Wirklichkeit leider schuldig blieb.
Immer wieder begibt sich Görner auf reizvoll ungewöhnliches Terrain, etwa wenn er die romantische Erzählkunst unserer Nachbarn nicht nur mit den üblichen Kandidaten, sondern auch an aparten Texten von Andersen und Puschkin illustriert. Besonders angetan hat es ihm die Spiegelung der Künste in den jeweils anderen Medien, also etwa der Musik in der Erzählprosa oder der Malerei in der Dichtung. Hier, wie in vielem anderen, steht ihm E. T. A. Hoffmann, der international erfolgreichste deutsche Romantiker, besonders nahe. Gern vertraut man sich Görners kundiger Führung über die highways und byways der europäischen Romantik an und nimmt ein gelegentliches Informationsdickicht willig in Kauf. Nur wenn er auf "Heinrich von Afterdingen" als dem ursprünglichen Titel des Novalis besteht und Tiecks wohltätige Emendation zu "Ofterdingen" verwirft, wird man ihm die Gefolgschaft verweigern müssen.
Beide Autoren am Ende zu fragen, wo sie denn Burkes Konzept des Erhabenen gelassen haben, Rousseaus "Bekenntnisse" oder den epochalen deutschen Beitrag zu einer neuen Theorie und Praxis der Übersetzung, wäre undankbar, und zudem ein Verstoß gegen das Safranski'sche Interdikt (siehe oben). Unabschließbarkeit gehört nun einmal, da sind sich Matuschek und Görner einig, ganz wesentlich zum Projekt der Romantik. WERNER VON KOPPENFELS.
Rüdiger Görner: "Romantik". Ein europäisches Ereignis.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 360 S., geb., 28,- Euro.
Stefan Matuschek: "Der gedichtete Himmel". Eine Geschichte der Romantik.
Verlag C. H. Beck, München 2021. 400 S., geb. 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2021Im Luftreich
des Traums
Zwei neue Bücher profilieren die Romantik
nicht mehr bloß als deutsche, sondern als
europäische Epoche. Zu Recht?
VON LOTHAR MÜLLER
Als vor Kurzem in Frankfurt am Main das Deutsche Romantikmuseum eröffnet wurde, führte der Parcours auch an den Genfer See, in die Villa Diodati, wo die junge Mary Wollstonecraft Godwin mit ihrer Stiefschwester Claire Clairmont, ihrem künftigen Ehegatten Percy Bysshe Shelley, dem Dichter Lord Byron und seinem Leibarzt John Polidori den überaus kühlen, regnerischen Sommer des Jahres 1816 verbrachten. Es wurde gelesen und vorgelesen, der Leibarzt schrieb an seinem Schauerroman „The Vampyr“, die künftige Mary Shelley am Manuskript von „Frankenstein or the Modern Prometheus“. In Weimar machte im Frühsommer des Jahres 1816 Johann Wolfgang Goethe seine erste Bekanntschaft mit dem Werk Lord Byrons durch die Lektüre der Vers-Erzählungen „The Corsair“ und „Lara“.
Das neue Romantikmuseum mit seinem markanten Neubau ist dem Goethe-Haus am Hirschgraben angegliedert und präsentiert die auf deutsche Quellen und Objekte fokussierte Sammlung des Freien Deutschen Hochstiftes. Doch erfolgt der Abstecher zum Genfer See nicht von ungefähr. Er wird mit dem Ziel unternommen, zur Europäisierung der Selbstwahrnehmung der Deutschen beizutragen, die sich selbst immer wieder eine Sonderbegabung zum Romantischen attestiert und die Romantik in Kunst, Literatur und Musik als zuvörderst deutsche Errungenschaft beschrieben haben. „Franzosen und Russen gehört das Land. Das Meer gehört den Briten. Wir aber besitzen im Luftreich des Traums die Herrschaft unbestritten“, schrieb Heinrich Heine 1844 in „Deutschland, ein Wintermärchen“, der spöttische Unterton war nicht zu überhören.
Längst umfasst der Begriff „European Romanticism“ in den angelsächsischen Ländern die Epoche insgesamt, der Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist wie die Brüder Schlegel, E. T. A. Hoffmann, und die Grimms in Deutschland angehörten, Lord Byron, William Blake, William Wordsworth oder John Keats in England, Victor Hugo und Balzac in Frankreich, Alessandro Manzoni in Italien oder Puschkin in Russland. Wenn die Deutschen nun diese Perspektive übernehmen, ist das auf kulturellem Gebiet ein ähnlicher Vorgang, wie er 2014 auf historisch-politischem Terrain zu beobachten war, als der Erste Weltkrieg, der in der kollektiven Erinnerung der Deutschen lange von seinem Nachfolger überlagert war, in Buchtiteln und Podiumsdiskussionen mehr und mehr als „Der große Krieg“ bezeichnet wurde, in Anlehnung an die lang etablierte angelsächsische Formel „The Great War“ und ihre französische Entsprechung „La Grande Guerre“.
Gleich zwei neue Überblicksdarstellungen treiben die Einbettung der deutschen in die europäische Romantik voran. „Romantik. Ein europäisches Ereignis“ titelt lapidar Rüdiger Görner, Professor für Neuere Deutsche und Vergleichende Literatur an der Queen Mary University in London, „Der gedichtete Himmel“ mit deutlicher Hommage an die Welt der Zauberworte Stefan Matuschek, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Literaturwissenschaft an der Universität Jena. Beide adressieren ihre Bücher an das allgemeine Publikum, beide liefern zahlreiche Detailinterpretationen von Romanen, Gedichten, Bildern, beide lassen sich weder die Geburt von Frankensteins Monster am Genfer See beim Wettstreit um die beste Gruselgeschichte entgehen noch den Hintergrund des kalten Sommers 1816, den Ausbruch des Vulkans Tambora auf einer Insel östlich von Java und Bali, der zur Verdunkelung der nördlichen Hemisphäre und Schneefall im Sommer führte.
Von Beginn an ist bei Stefan Matuschek die Romantik „der zweite Impuls der europäischen Moderne“, der sich von der europäischen Aufklärung nicht lediglich absetzt, sondern aus ihr hervorgeht. Den zeitlichen Rahmen der Romantik als Epoche setzen die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege, die Restauration und Revolutionen von 1830 und 1848. Die Statik und Stabilität der Ständegesellschaft erodiert langfristig, metaphysische Hintergrundgewissheiten gehen verloren, die Kantische Philosophie wird von den Zeitgenossen als Revolution im Reich des Geistes bezeichnet, die Erforschung des „ganzen Menschen“ mit allen seinen Sinnen, die in der Aufklärung begonnen hat, wird über alle Gewissheiten hinausgetrieben. Und nicht zuletzt potenzieren und intensivieren sich Lektüre und Autorschaft mit der Alphabetisierung und der Ausweitung des literarischen Marktes.
In diesem Szenario ist bei Matuschek wie generell in der neueren Germanistik kein Platz mehr für die „Weimarer Klassik“ als eigenständiger Epoche, die sich der Romantik verlässlich gegenüberstellen ließe. Ja, Goethe hat das Klassische als das Gesunde und das Romantische als das Kranke bezeichnet, er hat gegen die religiös inspirierte Kunst der Nazarener opponiert und gegen die Hypertrophie des Nationalen und der Nationalliteratur in und nach den napoleonischen Kriegen das Konzept der Weltliteratur gesetzt. Aber für die Frühromantiker um die Brüder Schlegel markiert sein „Wilhelm Meister“ wie die Französische Revolution die Tendenz der Epoche und bis in den „Faust II“ hinein steht er im Austausch mit Lord Byron und der europäischen Romantik insgesamt.
Das Expansive, Unabschließbare, die von Novalis ausgegebene Parole der Romantisierung der ganzen Welt, Friedrich Schlegels Konzept der „progressiven Universalpoesie“ ist Matuscheks Ausgangspunkt, die enge Verbindung des Romantischen mit dem Roman, dem Allesfresser, der jede Regelpoetik zersetzt, alle Formen neu mischt. Der Titel seines Buches enthält die Grundthese: der gedichtete, von Literatur und Kunst ausgestaltete, selbstgemachte Himmel tritt an die Stelle des metaphysisch-religiösen. In Eichendorffs „Mondnacht“ hat er die Transzendenz nicht verloren, aber sie ist nur noch von der Poesie selbst beglaubigt. Ob er die „neue Mythologie“ beim jungen Friedrich Schlegel oder bei Hölderlin erörtert, den Katholizismus Chateaubriands, die Gedichtsammlungen der englischen Lake Poets, das Fantastische bei E. T. A. Hoffman, die romantische Enzyklopädistik und Experimentalphysik oder die halb entdeckte, halb erfundene nordisch-germanische Mythologie, stets bringt Matuschek seinen Lieblingsbegriff ins Spiel, die „Kippfigur“.
Sie lässt das Wunderbare und den Alltag ineinander übergehen, lädt das scheinbar ätherische Faszinosum der blauen Blume mit sexuellen Energien auf, bewahrt den Kult der Volkspoesie und Volksmärchen vor dem Verdacht, notwendig und unausweichlich zum völkischen Nationalismus zu führen. Dass es ihn, etwa beim „Turnvater“ Jahn in der Romantik gab, verschweigt Matuschek so wenig wie den Antisemitismus der 1811 in Berlin gegründeten christlich-deutschen Tischgesellschaft um Achim von Arnim.
Von Überblicksdarstellungen, die sich immer wieder Zeit für Detailerörterungen nehmen, sollte man Lückenlosigkeit nicht erwarten. So wird man hier die große Weltreise des Adelbert von Chamisso und dessen Botanik, den Salon Rahel Varnhagens oder die Märchen von Wilhelm Hauff nicht finden. Sein Buch lebt von der europäischen Auffächerung der Kippfiguren aus hochfahrender Geste und Selbstdementi, Schauerromantik und Wissenschaft, in der romantischen Entfesselung der ästhetischen Energien auf Kosten der metaphysischen, religiösen und politischen Gewissheiten hofft es ein Gegengewicht gegen jeglichen „Fundamentalismus“ zu finden.
Auf angenehme Weise komplementär durchstreift Rüdiger Görner die europäische Romantik. Sein Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass darin nicht nur die Nationalliteraturen einander durchdringen, sondern auch die Künste. Er nimmt von der Literatur aus ihr Spektrum in den Blick, neben der Malerei zumal die Musik, die vielen Zeitgenossen als die romantische Kunst schlechthin galt. Nicht nur, weil E. T. A. Hoffmann in Europa viel übersetzt wurde und dazu neigte, sein Ich „durch ein Vervielfältigungsglas“ zu denken, wird er zur Schlüsselfigur, sondern vor allem als Personalunion von Autor und Komponist, als enthusiastischer Interpret Beethovens und Erfinder des Musikus Kreisler.
Schon das Vorwort, das aus fünf „Préludes“ in (nicht nur) romantischen Tonarten besteht, macht klar, dass hier ein Literaturkenner schreibt, der zugleich Musikliebhaber ist. Den berühmten Vers „Schläft ein Lied in allen Dingen“ aus Eichendorffs Vierzeiler „Wünschelrute“ umgibt Görner mit einem vielfältigen Echoraum. Er untersucht Äolsharfe und Maultrommel als Instrumente der romantischen Lyrik, zeigt die Verbindungen zwischen den musikalischen Nocturnes und den Nachtstücken in Poesie und Prosa von Novalis bis zu August Klingemanns „Nachtwachen“, widmet ein eigenes Kapitel der Ballettomania, dem romantischen Ballett als europäischem Erfolgsgenre. Die Figur der Tänzerin verfolgt er bis zu Gautier und Baudelaire.
Die philosophischen Aufschwünge des Ich nach Kant und der „Wissenschaftslehre“ Fichtes übersieht er darüber nicht, ebenso wenig die politische Romantik – und findet in Mary Shelleys „Frankenstein“, diesem Roman mit einer Fülle europäischer Schauplätze von den alpinen Gletscherzonen bis zum Polarkreis, nicht nur eine Antwort auf die zeitgenössischen Fortschritte der Wissenschaft, sondern zugleich eine Reflexion zentraler Motive der Romantik selbst. Die Hochspannung der Gefühle, die entfesselte Einbildungskraft, die Versprachlichung der Träume, die Spaltungen und Multiplikationen des Ich erweisen sich als verbunden mit der Energie, die Novalis als „Witz“ bezeichnet: „geistige Elektricität“. Mit anderen Worten: Wenn sie ihr Publikum finden, können die Bücher von Matuschek und Görner einiges beitragen zur Europäisierung des Blicks der Deutschen auf die Romantik.
Die „Weimarer Klassik“ lässt sich
der Romantik längst nicht mehr
verlässlich gegenüberstellen
Es ging um die Entfesselung der
ästhetischen Energien auf Kosten
der vermeintlichen Gewissheiten
Rüdiger Görner:
Romantik. Ein europäisches Ereignis. Reclam Verlag, Ditzingen 2021.
384 Seiten mit
15 Abbildungen, 26 Euro.
Stefan Matuschek:
Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der
Romantik. C.H. Beck Verlag, München 2021. 400 Seiten, 29 Abb., 28 Euro.
Auch ein wichtiger Ort der Romantik: Am Genfer See schrieb Mary Shelley im kühlen, regnerischen Sommer 1816 „Frankenstein or the Modern Prometheus“.
Foto: Laurent Gillieron/dpa
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
des Traums
Zwei neue Bücher profilieren die Romantik
nicht mehr bloß als deutsche, sondern als
europäische Epoche. Zu Recht?
VON LOTHAR MÜLLER
Als vor Kurzem in Frankfurt am Main das Deutsche Romantikmuseum eröffnet wurde, führte der Parcours auch an den Genfer See, in die Villa Diodati, wo die junge Mary Wollstonecraft Godwin mit ihrer Stiefschwester Claire Clairmont, ihrem künftigen Ehegatten Percy Bysshe Shelley, dem Dichter Lord Byron und seinem Leibarzt John Polidori den überaus kühlen, regnerischen Sommer des Jahres 1816 verbrachten. Es wurde gelesen und vorgelesen, der Leibarzt schrieb an seinem Schauerroman „The Vampyr“, die künftige Mary Shelley am Manuskript von „Frankenstein or the Modern Prometheus“. In Weimar machte im Frühsommer des Jahres 1816 Johann Wolfgang Goethe seine erste Bekanntschaft mit dem Werk Lord Byrons durch die Lektüre der Vers-Erzählungen „The Corsair“ und „Lara“.
Das neue Romantikmuseum mit seinem markanten Neubau ist dem Goethe-Haus am Hirschgraben angegliedert und präsentiert die auf deutsche Quellen und Objekte fokussierte Sammlung des Freien Deutschen Hochstiftes. Doch erfolgt der Abstecher zum Genfer See nicht von ungefähr. Er wird mit dem Ziel unternommen, zur Europäisierung der Selbstwahrnehmung der Deutschen beizutragen, die sich selbst immer wieder eine Sonderbegabung zum Romantischen attestiert und die Romantik in Kunst, Literatur und Musik als zuvörderst deutsche Errungenschaft beschrieben haben. „Franzosen und Russen gehört das Land. Das Meer gehört den Briten. Wir aber besitzen im Luftreich des Traums die Herrschaft unbestritten“, schrieb Heinrich Heine 1844 in „Deutschland, ein Wintermärchen“, der spöttische Unterton war nicht zu überhören.
Längst umfasst der Begriff „European Romanticism“ in den angelsächsischen Ländern die Epoche insgesamt, der Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist wie die Brüder Schlegel, E. T. A. Hoffmann, und die Grimms in Deutschland angehörten, Lord Byron, William Blake, William Wordsworth oder John Keats in England, Victor Hugo und Balzac in Frankreich, Alessandro Manzoni in Italien oder Puschkin in Russland. Wenn die Deutschen nun diese Perspektive übernehmen, ist das auf kulturellem Gebiet ein ähnlicher Vorgang, wie er 2014 auf historisch-politischem Terrain zu beobachten war, als der Erste Weltkrieg, der in der kollektiven Erinnerung der Deutschen lange von seinem Nachfolger überlagert war, in Buchtiteln und Podiumsdiskussionen mehr und mehr als „Der große Krieg“ bezeichnet wurde, in Anlehnung an die lang etablierte angelsächsische Formel „The Great War“ und ihre französische Entsprechung „La Grande Guerre“.
Gleich zwei neue Überblicksdarstellungen treiben die Einbettung der deutschen in die europäische Romantik voran. „Romantik. Ein europäisches Ereignis“ titelt lapidar Rüdiger Görner, Professor für Neuere Deutsche und Vergleichende Literatur an der Queen Mary University in London, „Der gedichtete Himmel“ mit deutlicher Hommage an die Welt der Zauberworte Stefan Matuschek, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Literaturwissenschaft an der Universität Jena. Beide adressieren ihre Bücher an das allgemeine Publikum, beide liefern zahlreiche Detailinterpretationen von Romanen, Gedichten, Bildern, beide lassen sich weder die Geburt von Frankensteins Monster am Genfer See beim Wettstreit um die beste Gruselgeschichte entgehen noch den Hintergrund des kalten Sommers 1816, den Ausbruch des Vulkans Tambora auf einer Insel östlich von Java und Bali, der zur Verdunkelung der nördlichen Hemisphäre und Schneefall im Sommer führte.
Von Beginn an ist bei Stefan Matuschek die Romantik „der zweite Impuls der europäischen Moderne“, der sich von der europäischen Aufklärung nicht lediglich absetzt, sondern aus ihr hervorgeht. Den zeitlichen Rahmen der Romantik als Epoche setzen die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege, die Restauration und Revolutionen von 1830 und 1848. Die Statik und Stabilität der Ständegesellschaft erodiert langfristig, metaphysische Hintergrundgewissheiten gehen verloren, die Kantische Philosophie wird von den Zeitgenossen als Revolution im Reich des Geistes bezeichnet, die Erforschung des „ganzen Menschen“ mit allen seinen Sinnen, die in der Aufklärung begonnen hat, wird über alle Gewissheiten hinausgetrieben. Und nicht zuletzt potenzieren und intensivieren sich Lektüre und Autorschaft mit der Alphabetisierung und der Ausweitung des literarischen Marktes.
In diesem Szenario ist bei Matuschek wie generell in der neueren Germanistik kein Platz mehr für die „Weimarer Klassik“ als eigenständiger Epoche, die sich der Romantik verlässlich gegenüberstellen ließe. Ja, Goethe hat das Klassische als das Gesunde und das Romantische als das Kranke bezeichnet, er hat gegen die religiös inspirierte Kunst der Nazarener opponiert und gegen die Hypertrophie des Nationalen und der Nationalliteratur in und nach den napoleonischen Kriegen das Konzept der Weltliteratur gesetzt. Aber für die Frühromantiker um die Brüder Schlegel markiert sein „Wilhelm Meister“ wie die Französische Revolution die Tendenz der Epoche und bis in den „Faust II“ hinein steht er im Austausch mit Lord Byron und der europäischen Romantik insgesamt.
Das Expansive, Unabschließbare, die von Novalis ausgegebene Parole der Romantisierung der ganzen Welt, Friedrich Schlegels Konzept der „progressiven Universalpoesie“ ist Matuscheks Ausgangspunkt, die enge Verbindung des Romantischen mit dem Roman, dem Allesfresser, der jede Regelpoetik zersetzt, alle Formen neu mischt. Der Titel seines Buches enthält die Grundthese: der gedichtete, von Literatur und Kunst ausgestaltete, selbstgemachte Himmel tritt an die Stelle des metaphysisch-religiösen. In Eichendorffs „Mondnacht“ hat er die Transzendenz nicht verloren, aber sie ist nur noch von der Poesie selbst beglaubigt. Ob er die „neue Mythologie“ beim jungen Friedrich Schlegel oder bei Hölderlin erörtert, den Katholizismus Chateaubriands, die Gedichtsammlungen der englischen Lake Poets, das Fantastische bei E. T. A. Hoffman, die romantische Enzyklopädistik und Experimentalphysik oder die halb entdeckte, halb erfundene nordisch-germanische Mythologie, stets bringt Matuschek seinen Lieblingsbegriff ins Spiel, die „Kippfigur“.
Sie lässt das Wunderbare und den Alltag ineinander übergehen, lädt das scheinbar ätherische Faszinosum der blauen Blume mit sexuellen Energien auf, bewahrt den Kult der Volkspoesie und Volksmärchen vor dem Verdacht, notwendig und unausweichlich zum völkischen Nationalismus zu führen. Dass es ihn, etwa beim „Turnvater“ Jahn in der Romantik gab, verschweigt Matuschek so wenig wie den Antisemitismus der 1811 in Berlin gegründeten christlich-deutschen Tischgesellschaft um Achim von Arnim.
Von Überblicksdarstellungen, die sich immer wieder Zeit für Detailerörterungen nehmen, sollte man Lückenlosigkeit nicht erwarten. So wird man hier die große Weltreise des Adelbert von Chamisso und dessen Botanik, den Salon Rahel Varnhagens oder die Märchen von Wilhelm Hauff nicht finden. Sein Buch lebt von der europäischen Auffächerung der Kippfiguren aus hochfahrender Geste und Selbstdementi, Schauerromantik und Wissenschaft, in der romantischen Entfesselung der ästhetischen Energien auf Kosten der metaphysischen, religiösen und politischen Gewissheiten hofft es ein Gegengewicht gegen jeglichen „Fundamentalismus“ zu finden.
Auf angenehme Weise komplementär durchstreift Rüdiger Görner die europäische Romantik. Sein Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass darin nicht nur die Nationalliteraturen einander durchdringen, sondern auch die Künste. Er nimmt von der Literatur aus ihr Spektrum in den Blick, neben der Malerei zumal die Musik, die vielen Zeitgenossen als die romantische Kunst schlechthin galt. Nicht nur, weil E. T. A. Hoffmann in Europa viel übersetzt wurde und dazu neigte, sein Ich „durch ein Vervielfältigungsglas“ zu denken, wird er zur Schlüsselfigur, sondern vor allem als Personalunion von Autor und Komponist, als enthusiastischer Interpret Beethovens und Erfinder des Musikus Kreisler.
Schon das Vorwort, das aus fünf „Préludes“ in (nicht nur) romantischen Tonarten besteht, macht klar, dass hier ein Literaturkenner schreibt, der zugleich Musikliebhaber ist. Den berühmten Vers „Schläft ein Lied in allen Dingen“ aus Eichendorffs Vierzeiler „Wünschelrute“ umgibt Görner mit einem vielfältigen Echoraum. Er untersucht Äolsharfe und Maultrommel als Instrumente der romantischen Lyrik, zeigt die Verbindungen zwischen den musikalischen Nocturnes und den Nachtstücken in Poesie und Prosa von Novalis bis zu August Klingemanns „Nachtwachen“, widmet ein eigenes Kapitel der Ballettomania, dem romantischen Ballett als europäischem Erfolgsgenre. Die Figur der Tänzerin verfolgt er bis zu Gautier und Baudelaire.
Die philosophischen Aufschwünge des Ich nach Kant und der „Wissenschaftslehre“ Fichtes übersieht er darüber nicht, ebenso wenig die politische Romantik – und findet in Mary Shelleys „Frankenstein“, diesem Roman mit einer Fülle europäischer Schauplätze von den alpinen Gletscherzonen bis zum Polarkreis, nicht nur eine Antwort auf die zeitgenössischen Fortschritte der Wissenschaft, sondern zugleich eine Reflexion zentraler Motive der Romantik selbst. Die Hochspannung der Gefühle, die entfesselte Einbildungskraft, die Versprachlichung der Träume, die Spaltungen und Multiplikationen des Ich erweisen sich als verbunden mit der Energie, die Novalis als „Witz“ bezeichnet: „geistige Elektricität“. Mit anderen Worten: Wenn sie ihr Publikum finden, können die Bücher von Matuschek und Görner einiges beitragen zur Europäisierung des Blicks der Deutschen auf die Romantik.
Die „Weimarer Klassik“ lässt sich
der Romantik längst nicht mehr
verlässlich gegenüberstellen
Es ging um die Entfesselung der
ästhetischen Energien auf Kosten
der vermeintlichen Gewissheiten
Rüdiger Görner:
Romantik. Ein europäisches Ereignis. Reclam Verlag, Ditzingen 2021.
384 Seiten mit
15 Abbildungen, 26 Euro.
Stefan Matuschek:
Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der
Romantik. C.H. Beck Verlag, München 2021. 400 Seiten, 29 Abb., 28 Euro.
Auch ein wichtiger Ort der Romantik: Am Genfer See schrieb Mary Shelley im kühlen, regnerischen Sommer 1816 „Frankenstein or the Modern Prometheus“.
Foto: Laurent Gillieron/dpa
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»[Eine] vielseitige 'Annäherung an das Langzeitereignis europäische Romantik' mit einem empathischen Zugang zum Thema. [...] Immer wieder begibt sich Görner auf reizvoll ungewöhnliches Terrain.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.08.2021 »Rüdiger Görner hält sich nicht mit gelehrten Debatten auf, sondern bringt uns das Gefühl einer Epoche nahe. [...] Ein essayistisches, teils auch persönliches, auf jeden Fall aber unterhaltsames Buch, eine Sammlung verschiedener Eindrücke, ein Zugang zum Gefühl der Epoche durch Erzählung - als würde Görner seine Leser in einer Art Spaziergang durch diese Zeit führen.« Deutschlandfunk Kultur LESART, 02.09.2021 »Wer sich in die Schlüsselepoche der Geistesgeschichte vertiefen will, findet das beste Neue zum Thema in 'Romantik. Ein europäisches Ereignis'.« Die Literarische WELT, 12.09.2021 »Auf angenehme Weise durchstreift Rüdiger Görner die europäische Romantik. Schon das Vorwort macht klar, dass hier ein Literaturkenner schreibt, der zugleich Musikliebhaber ist. [...] Das Buch kann einiges beitragen zur Europäisierung des Blicks der Deutschen auf die Romantik.« Süddeutsche Zeitung, 06.10.2021