Jeden Tag liefert der Terror neue Schlagzeilen; doch die russischen Anarchisten, die ihn erfunden haben, sind vergessen. Sie wirken heute beinahe wie ehrwürdige Urgroßväter - schöne Seelen, die an ihre politische Moral die höchsten Ansprüche gestellt haben. In ihrem jahrzehntelangen Exil mußten sie einsehen, daß sie gescheitert waren. Alexander Herzen, Michail Bakunin und Nikolaj Ogarev, genannt "der arme Nick" - ihre Lebensläufe lesen sich wie ein Roman von Turgenjev oder Balzac: Es wimmelt in ihnen von absurden Heldentaten, Familientragödien, Gewissensqualen, Duellen, Intrigen, Liebes-, Spitzel- und Geldgeschichten. Der berühmte englische Historiker E. H. Carr hat die klassische Biographie dieser überlebensgroßen Figuren geschrieben. Sie ist intim wie ein Familienalbum, und doch schildert sie die Abenteuer ihrer Helden stets vor dem Hintergrund der russischen Geistes- und Gewaltgeschichte. Carrs Quellenkenntnis ist unschlagbar, aber er trägt sie leicht. Man merkt seinem Schreiben kaum an, wieviel Primärforschung darin steckt. Obwohl dieses Buch sich strikt an die historischen Fakten hält, liest es sich streckenweise wie ein glänzend geschriebener, epischer Thriller.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004So viel Selbstverliebtheit macht impotent
Aber nun laßt uns schwärmen: Edward Hallett Carrs Geschichte der russischen Emigranten / Von Hans Ulrich Gumbrecht
Das 1933 im Original erschienene und nun zum erstenmal ins Deutsche übersetzte Buch des zeitweilig im britischen Außenministerium tätigen, dann für die London Times schreibenden, später in Oxford und Cambridge lehrenden und 1982 verstorbenen Historikers Edward Hallett Carr handelt von den russischen Emigranten im revolutionär bewegten Europa des mittleren neunzehnten Jahrhunderts. Es bedient spielend und doch mit großer Solidität zwei Leserwünsche, die sonst kaum je zusammenfinden. Carrs Geschichte von den "Romantikern der Revolution" wird gewiß jenen Lesern gerecht, die sich - illusions- und identifikationsgierig - in eine Epoche der Vergangenheit versenken möchten, was wohl vor allem in dem Gefühl erfüllt wird, von Dingen und Gegebenheiten umgeben zu sein, die für uns ihre unmittelbare Bedeutung verloren haben. Doch trotz einer kaum überbietbaren Opulenz an Details und Zitaten hat man auch den Eindruck, von der Zeitreise, die Carr seinem Leser ausgelegt hat, lernen zu können - und was man lernt, ist so belangvoll wie historisches Wissen überhaupt sein kann.
Obwohl Carr selbst in seinen vielfachen Karrieren als einer der großen Kenner russischer Geschichte und sowjetischer Gegenwart galt, wirkt dieses Buch primär gar nicht wie eine Beschreibung der Schicksale russischer Emigranten in Mittel- und Westeuropa, so nahe entlang von Emigranten-Biographien es auch geschrieben ist. Eher geben die wandelnden Perspektiven der Emigranten - ihr sehnsüchtiges Schwärmen von Europa, ihre zunächst scheue, dann aber bald die Vorbilder überbietende Anpassung an europäische Lebensformen und der Zynismus, mit dem sie sich allenthalben zu einer mystischen Verherrlichung Rußlands zurückwenden - dem Leser eine neue Gelegenheit, das politische, kulturelle und affektive Europa des mittleren neunzehnten Jahrhunderts aus einer Außenperspektive kennenzulernen, deren Sensibilität die historischen Protagonisten und ihre Lebensumstände in der pastellfarbenen Monumentalität von Wachsfiguren erscheinen läßt.
Was man bei diesem über vierhundert Seiten langen, aber nie langweiligen Aufenthalt im Kabinett der Vergangenheit - je nach politischer Perspektive und Laune: mit sanftem Schrecken oder genugtuender Ironie - lernt, läßt sich aus deutscher Perspektive besonders prägnant beschreiben. In der Form eines "Familienromans" defilieren die "Romantiker der Revolution" an den Lesern vorbei, als die Erzählung im Januar 1847 einsetzt mit dem Aufbruch der Familie Herzen aus Moskau und 1875 in Florenz endet mit der "letzten Tragödie" dieser Familie, dem Freitod aus Liebeskummer, der Herzens noch nicht volljähriger Tochter Lisa fünf Jahre nach dem Tod des Vaters gelingt. Andererseits nutzt Carrs Buch die Geschichte der Herzen-Familie als formale Einheit, entlang derer - wie an den Wänden einer Galerie - die Porträts von Typen der bürgerlichen Revolution gereiht werden.
Unmittelbar nach der Oktoberrevolution hatte die junge Sowjetunion Herzen durch die Ausgabe seiner Werke und die Benennung einer wichtigen Moskauer Straße zwar zur Vorläufergestalt kanonisiert, doch in Carrs Galerie verschwinden bei allen Protagonisten die voller Anstrengung gepflegten Züge exaltierter politischer Individualität unter dem Eindruck einer entstehenden Morphologie standardisierter Rollen der bürgerlichen Romantik. Dabei heben sich periphere und zentralere Zonen der Darstellung voneinander ab: Im Hintergrund agieren Spione des Zaren, von niemandem recht ernst genommene polnische Patrioten, immer noch sehr rationalistische Voltairianer und auch schon Terroristen, deren "Nihilismus" dem Narzißmus der bürgerlichen Revolutionäre weit voraus ist. Im Mittelgrund tummeln sich Scharen von Revolutionärskindern, die allesamt bei ihrer Geburt als Inkarnationen unüberbietbarer Liebesverhältnisse galten, dann aber unvermeidlich - so wie sich die komplizierten Wege ihrer Eltern entfalten - zu Mobilitätshindernissen werden, so daß sie ehrgeizigen Erzieherinnen anvertraut werden, die gelegentlich ins Hauptgeschehen ein- und übergreifen.
Im Zentrum der bürgerlichen Revolutionsbühne aber räkeln sich rollenbewußte romantische Liebespaare, deren immer gleiche Geschichte in anscheinend unendlichen Variationen durchzuspielen war. Jedes dieser Paare hält sich für die absolute - in der einen oder anderen Weise allein durch Verweis auf den Himmel zu erklärende - Ausnahme, was es ermöglichte, Himmlisches selbst im Auge von Prostituierten, Bankrotteuren oder Terroristen zu sehen. Angesichts der schnell erreichten Erhitzung der Liebe trat im Regelfall bald schon Ermattung ein, was dann stets zur Annäherung an ein anderes, ähnlich ekstatisches und ähnlich ermattetes Paar führte, mit der vorhersehbaren Folge der Entstehung von neuen Drei- oder Vierecksverhältnissen.
Kurzfristig triumphierten in dieser Syntax der Liebe stets die feurigen Gestalten. Natalie, Herzens erste Frau, entbrennt für den deutschen Dichter, Revolutionspathetiker und Richard-Wagner-Freund Georg Herwegh so lichterloh, daß das sonst gern praktizierte einvernehmliche Schweigen der an den Rand gedrängten Ehepartner unmöglich wird. Ogarjow, Herzens bis zum Eindruck der Schwindsucht poetischer Freund und späterer Partner bei der Herausgabe einer revolutionären Zeitschrift, erweckt soviel Begeisterung bei einer anderen, jüngeren Natalie, daß sie ihm unverheiratet nach Europa folgt.
Doch langfristig obsiegen in der bürgerlich-romantischen Liebe jene vergleichsweise verhaltenen Revolutionäre, deren Pathos wenigstens in der Bewahrung des eigenen Reichtums seine Grenze findet. Am Ende kann deshalb Herweghs Frau, die Tochter eines jüdischen Kaufmanns aus Berlin, ihren flatterhaft-reuevollen Gatten wieder in die Obhut nehmen, und Herzen schließt gerade noch rechtzeitig die sterbende erste Natalie in seine vergebenden Arme - um dann bald die zweite Natalie von Ogarjow zu erben, der in bewundernswerter Geschwindigkeit sein ansehnliches Vermögen verloren hat.
Doch was haben solch bürgerlich-romantische Liebesexzesse mit Politik und gar mit Revolution zu tun? Eine Antwort läßt sich auf den Begriff des "Beobachters zweiter Ordnung" bringen. Die ekstatisch liebenden Bürger liebten als "Beobachter zweiter Ordnung", weil sie besessen waren von der Möglichkeit, sich in der Kontemplation des je anderen und in der eigenen Liebe selbst zu beobachten. Und als Beobachter zweiter Ordnung berauschten sich die Liebenden so sehr an den eigenen Gefühlen, daß sie ihr selbstinduziertes Schwärmen ebenso systematisch wie störrisch mit der Energie einer Menschheitsrevolution verwechselten. "Unsere Liebe", schreibt der bleiche Ogarjow noch in Rußland an jene Geliebte, die bald seine erste Frau werden sollte, "birgt den Keim der Freiheit für die ganze Menschheit in sich. Unsere Liebe ist Selbstverleugnung und Wahrheit; sie ist der Glaube, der in unserer Seele wurzelt. Die Geschichte unserer Liebe wird über die Zeiten hinweg weitererzählt werden, und künftigen Generationen wird die Erinnerung an uns heilig sein."
Als einen ins Paradoxe kippenden Extremfall dieses Rollenfachs stellt uns Carr den Anarchisten-Vater und Berufsrevolutionaer Bakunin vor. Mit seiner hünenhaften Gestalt, seinem verwahrlostem Äußeren und einer sensationellen Schamlosigkeit in Gelddingen, sei Bakunin, heißt es in einer wie zufällig eingestreuten Bemerkung, wahrscheinlich auch impotent gewesen. Um so stärker müsse die Obsession seiner Selbstbeobachung ausgeprägt gewesen sein, der Enthusiasmus seiner Selbstverliebtheit und die Kraft seiner Selbstüberzeugung. Denn Bakunin lebte in beständig vibrierender Bewegung angesichts von Projekten, deren Anlaß und deren Verwirklichung allein in seiner Vorstellung existierten. Sein Handeln wie seine Schriften ignorierten die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum.
Als historischer Erzähler von unbestrittenem Rang nahm sich Edward Hallett Carr ungewöhnliche Freiheiten. Zu ihnen gehört etwa die unverhohlene - wie Schadenfreude wirkende - Begeisterung, mit der er Bakunin zur grotesken Gestalt ausmalt, ohne sich um die objektivitätsstiftenden Effekte gegenläufiger Fakten und Urteile zu scheren. Eine überraschende Spannung entdeckt der Leser auch auf eher formaler Ebene zwischen Carrs Gewissenhaftigkeit im Umgang mit den Quellen (ab und an schnellt die Erzählung zu einer These vor, welche sofort nach Historikerart eingeklammert wird durch die Bemerkung, daß sich eine entsprechende Quelle nicht finden läßt) und einem Habitus, den die akademische Geschichtsschreibung in die Dimension des Romans verweist: Zahlreiche Dialoge in Carrs Buch sind vom Autor erfunden, so eindeutig auch der Sinn und die Emotionen vorhandener Quellen ihren Duktus inspirieren. Zu einem Problem der Lektüre kann vor allem - je nach Geschmack des Lesers - die äquidistante Ironie werden, die Carr fast allen Protagonisten angedeihen läßt. Nicht selten entwickelt dieser Ton Arabesken geradezu barocker Komplexität.
Hinter der abschließenden ironischen Aufhebung jener aggressiven Ironie, welche Carr allen Protagonisten ohne Ausnahme antut, entwickelt sich Alexander Herzen - bei aller Distanz, die der Erzähler aufrechthält - zum positiven Helden des Buchs. Zum "insgeheim positiven" Helden ist man geneigt zu sagen, oder zum "relativ positiven" Helden, weil wohl die gesamte Welt der romantisch-revolutionären Bürger ihrem Historiographen Carr letztlich ungeheuer war und affektiv fremd blieb. In den Schlußsätzen dieses 1933 veröffentlichten Buchs erkennt man Carrs gegenläufige Bewunderung für Augenmaß und Nüchternheit an einer gewissen Erleichterung, die anzuklingen scheint, wo er die nächste Generation europäischer Revolutionäre heraufziehen läßt: "Obwohl im Russischen Reich noch eine Handvoll verwegener Terroristen und in Europa einige pittoreske Anarchisten übrigblieben, nahm die revolutionäre Bewegung im Laufe der Jahre mehr und mehr den verbissenen, dogmatischen Habitus des spätviktorianischen Zeitalters an. In der Gestalt des typisch viktorianischen Gelehrten Karl Marx trat sie in eine Phase, deren Vitalität sich noch nicht ganz erschöpft hat."
Dieses Ende aus der Perspektive von 1933 mit Karl Marx als verbissenem viktorianischen Gelehrten und kleinerem, schon verblassendem Übel ist eine zunächst überraschende Wendung. In ihr scheint auf, was vor allem man aus diesem Buch über die romantischen Bürger als Revolutionshelden lernen kann. Nichts ist grotesker und nichts gefährlicher als eine von tiefen Gefühlen und scheinbar fundamentalen Überzeugungen getragene Politik.
Edward Hallett Carr: "Romantiker der Revolution". Ein russischer Familienroman aus dem 19. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Die Andere Bibliothek, Band 234. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004. 436 S., geb., 29,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aber nun laßt uns schwärmen: Edward Hallett Carrs Geschichte der russischen Emigranten / Von Hans Ulrich Gumbrecht
Das 1933 im Original erschienene und nun zum erstenmal ins Deutsche übersetzte Buch des zeitweilig im britischen Außenministerium tätigen, dann für die London Times schreibenden, später in Oxford und Cambridge lehrenden und 1982 verstorbenen Historikers Edward Hallett Carr handelt von den russischen Emigranten im revolutionär bewegten Europa des mittleren neunzehnten Jahrhunderts. Es bedient spielend und doch mit großer Solidität zwei Leserwünsche, die sonst kaum je zusammenfinden. Carrs Geschichte von den "Romantikern der Revolution" wird gewiß jenen Lesern gerecht, die sich - illusions- und identifikationsgierig - in eine Epoche der Vergangenheit versenken möchten, was wohl vor allem in dem Gefühl erfüllt wird, von Dingen und Gegebenheiten umgeben zu sein, die für uns ihre unmittelbare Bedeutung verloren haben. Doch trotz einer kaum überbietbaren Opulenz an Details und Zitaten hat man auch den Eindruck, von der Zeitreise, die Carr seinem Leser ausgelegt hat, lernen zu können - und was man lernt, ist so belangvoll wie historisches Wissen überhaupt sein kann.
Obwohl Carr selbst in seinen vielfachen Karrieren als einer der großen Kenner russischer Geschichte und sowjetischer Gegenwart galt, wirkt dieses Buch primär gar nicht wie eine Beschreibung der Schicksale russischer Emigranten in Mittel- und Westeuropa, so nahe entlang von Emigranten-Biographien es auch geschrieben ist. Eher geben die wandelnden Perspektiven der Emigranten - ihr sehnsüchtiges Schwärmen von Europa, ihre zunächst scheue, dann aber bald die Vorbilder überbietende Anpassung an europäische Lebensformen und der Zynismus, mit dem sie sich allenthalben zu einer mystischen Verherrlichung Rußlands zurückwenden - dem Leser eine neue Gelegenheit, das politische, kulturelle und affektive Europa des mittleren neunzehnten Jahrhunderts aus einer Außenperspektive kennenzulernen, deren Sensibilität die historischen Protagonisten und ihre Lebensumstände in der pastellfarbenen Monumentalität von Wachsfiguren erscheinen läßt.
Was man bei diesem über vierhundert Seiten langen, aber nie langweiligen Aufenthalt im Kabinett der Vergangenheit - je nach politischer Perspektive und Laune: mit sanftem Schrecken oder genugtuender Ironie - lernt, läßt sich aus deutscher Perspektive besonders prägnant beschreiben. In der Form eines "Familienromans" defilieren die "Romantiker der Revolution" an den Lesern vorbei, als die Erzählung im Januar 1847 einsetzt mit dem Aufbruch der Familie Herzen aus Moskau und 1875 in Florenz endet mit der "letzten Tragödie" dieser Familie, dem Freitod aus Liebeskummer, der Herzens noch nicht volljähriger Tochter Lisa fünf Jahre nach dem Tod des Vaters gelingt. Andererseits nutzt Carrs Buch die Geschichte der Herzen-Familie als formale Einheit, entlang derer - wie an den Wänden einer Galerie - die Porträts von Typen der bürgerlichen Revolution gereiht werden.
Unmittelbar nach der Oktoberrevolution hatte die junge Sowjetunion Herzen durch die Ausgabe seiner Werke und die Benennung einer wichtigen Moskauer Straße zwar zur Vorläufergestalt kanonisiert, doch in Carrs Galerie verschwinden bei allen Protagonisten die voller Anstrengung gepflegten Züge exaltierter politischer Individualität unter dem Eindruck einer entstehenden Morphologie standardisierter Rollen der bürgerlichen Romantik. Dabei heben sich periphere und zentralere Zonen der Darstellung voneinander ab: Im Hintergrund agieren Spione des Zaren, von niemandem recht ernst genommene polnische Patrioten, immer noch sehr rationalistische Voltairianer und auch schon Terroristen, deren "Nihilismus" dem Narzißmus der bürgerlichen Revolutionäre weit voraus ist. Im Mittelgrund tummeln sich Scharen von Revolutionärskindern, die allesamt bei ihrer Geburt als Inkarnationen unüberbietbarer Liebesverhältnisse galten, dann aber unvermeidlich - so wie sich die komplizierten Wege ihrer Eltern entfalten - zu Mobilitätshindernissen werden, so daß sie ehrgeizigen Erzieherinnen anvertraut werden, die gelegentlich ins Hauptgeschehen ein- und übergreifen.
Im Zentrum der bürgerlichen Revolutionsbühne aber räkeln sich rollenbewußte romantische Liebespaare, deren immer gleiche Geschichte in anscheinend unendlichen Variationen durchzuspielen war. Jedes dieser Paare hält sich für die absolute - in der einen oder anderen Weise allein durch Verweis auf den Himmel zu erklärende - Ausnahme, was es ermöglichte, Himmlisches selbst im Auge von Prostituierten, Bankrotteuren oder Terroristen zu sehen. Angesichts der schnell erreichten Erhitzung der Liebe trat im Regelfall bald schon Ermattung ein, was dann stets zur Annäherung an ein anderes, ähnlich ekstatisches und ähnlich ermattetes Paar führte, mit der vorhersehbaren Folge der Entstehung von neuen Drei- oder Vierecksverhältnissen.
Kurzfristig triumphierten in dieser Syntax der Liebe stets die feurigen Gestalten. Natalie, Herzens erste Frau, entbrennt für den deutschen Dichter, Revolutionspathetiker und Richard-Wagner-Freund Georg Herwegh so lichterloh, daß das sonst gern praktizierte einvernehmliche Schweigen der an den Rand gedrängten Ehepartner unmöglich wird. Ogarjow, Herzens bis zum Eindruck der Schwindsucht poetischer Freund und späterer Partner bei der Herausgabe einer revolutionären Zeitschrift, erweckt soviel Begeisterung bei einer anderen, jüngeren Natalie, daß sie ihm unverheiratet nach Europa folgt.
Doch langfristig obsiegen in der bürgerlich-romantischen Liebe jene vergleichsweise verhaltenen Revolutionäre, deren Pathos wenigstens in der Bewahrung des eigenen Reichtums seine Grenze findet. Am Ende kann deshalb Herweghs Frau, die Tochter eines jüdischen Kaufmanns aus Berlin, ihren flatterhaft-reuevollen Gatten wieder in die Obhut nehmen, und Herzen schließt gerade noch rechtzeitig die sterbende erste Natalie in seine vergebenden Arme - um dann bald die zweite Natalie von Ogarjow zu erben, der in bewundernswerter Geschwindigkeit sein ansehnliches Vermögen verloren hat.
Doch was haben solch bürgerlich-romantische Liebesexzesse mit Politik und gar mit Revolution zu tun? Eine Antwort läßt sich auf den Begriff des "Beobachters zweiter Ordnung" bringen. Die ekstatisch liebenden Bürger liebten als "Beobachter zweiter Ordnung", weil sie besessen waren von der Möglichkeit, sich in der Kontemplation des je anderen und in der eigenen Liebe selbst zu beobachten. Und als Beobachter zweiter Ordnung berauschten sich die Liebenden so sehr an den eigenen Gefühlen, daß sie ihr selbstinduziertes Schwärmen ebenso systematisch wie störrisch mit der Energie einer Menschheitsrevolution verwechselten. "Unsere Liebe", schreibt der bleiche Ogarjow noch in Rußland an jene Geliebte, die bald seine erste Frau werden sollte, "birgt den Keim der Freiheit für die ganze Menschheit in sich. Unsere Liebe ist Selbstverleugnung und Wahrheit; sie ist der Glaube, der in unserer Seele wurzelt. Die Geschichte unserer Liebe wird über die Zeiten hinweg weitererzählt werden, und künftigen Generationen wird die Erinnerung an uns heilig sein."
Als einen ins Paradoxe kippenden Extremfall dieses Rollenfachs stellt uns Carr den Anarchisten-Vater und Berufsrevolutionaer Bakunin vor. Mit seiner hünenhaften Gestalt, seinem verwahrlostem Äußeren und einer sensationellen Schamlosigkeit in Gelddingen, sei Bakunin, heißt es in einer wie zufällig eingestreuten Bemerkung, wahrscheinlich auch impotent gewesen. Um so stärker müsse die Obsession seiner Selbstbeobachung ausgeprägt gewesen sein, der Enthusiasmus seiner Selbstverliebtheit und die Kraft seiner Selbstüberzeugung. Denn Bakunin lebte in beständig vibrierender Bewegung angesichts von Projekten, deren Anlaß und deren Verwirklichung allein in seiner Vorstellung existierten. Sein Handeln wie seine Schriften ignorierten die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum.
Als historischer Erzähler von unbestrittenem Rang nahm sich Edward Hallett Carr ungewöhnliche Freiheiten. Zu ihnen gehört etwa die unverhohlene - wie Schadenfreude wirkende - Begeisterung, mit der er Bakunin zur grotesken Gestalt ausmalt, ohne sich um die objektivitätsstiftenden Effekte gegenläufiger Fakten und Urteile zu scheren. Eine überraschende Spannung entdeckt der Leser auch auf eher formaler Ebene zwischen Carrs Gewissenhaftigkeit im Umgang mit den Quellen (ab und an schnellt die Erzählung zu einer These vor, welche sofort nach Historikerart eingeklammert wird durch die Bemerkung, daß sich eine entsprechende Quelle nicht finden läßt) und einem Habitus, den die akademische Geschichtsschreibung in die Dimension des Romans verweist: Zahlreiche Dialoge in Carrs Buch sind vom Autor erfunden, so eindeutig auch der Sinn und die Emotionen vorhandener Quellen ihren Duktus inspirieren. Zu einem Problem der Lektüre kann vor allem - je nach Geschmack des Lesers - die äquidistante Ironie werden, die Carr fast allen Protagonisten angedeihen läßt. Nicht selten entwickelt dieser Ton Arabesken geradezu barocker Komplexität.
Hinter der abschließenden ironischen Aufhebung jener aggressiven Ironie, welche Carr allen Protagonisten ohne Ausnahme antut, entwickelt sich Alexander Herzen - bei aller Distanz, die der Erzähler aufrechthält - zum positiven Helden des Buchs. Zum "insgeheim positiven" Helden ist man geneigt zu sagen, oder zum "relativ positiven" Helden, weil wohl die gesamte Welt der romantisch-revolutionären Bürger ihrem Historiographen Carr letztlich ungeheuer war und affektiv fremd blieb. In den Schlußsätzen dieses 1933 veröffentlichten Buchs erkennt man Carrs gegenläufige Bewunderung für Augenmaß und Nüchternheit an einer gewissen Erleichterung, die anzuklingen scheint, wo er die nächste Generation europäischer Revolutionäre heraufziehen läßt: "Obwohl im Russischen Reich noch eine Handvoll verwegener Terroristen und in Europa einige pittoreske Anarchisten übrigblieben, nahm die revolutionäre Bewegung im Laufe der Jahre mehr und mehr den verbissenen, dogmatischen Habitus des spätviktorianischen Zeitalters an. In der Gestalt des typisch viktorianischen Gelehrten Karl Marx trat sie in eine Phase, deren Vitalität sich noch nicht ganz erschöpft hat."
Dieses Ende aus der Perspektive von 1933 mit Karl Marx als verbissenem viktorianischen Gelehrten und kleinerem, schon verblassendem Übel ist eine zunächst überraschende Wendung. In ihr scheint auf, was vor allem man aus diesem Buch über die romantischen Bürger als Revolutionshelden lernen kann. Nichts ist grotesker und nichts gefährlicher als eine von tiefen Gefühlen und scheinbar fundamentalen Überzeugungen getragene Politik.
Edward Hallett Carr: "Romantiker der Revolution". Ein russischer Familienroman aus dem 19. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Die Andere Bibliothek, Band 234. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004. 436 S., geb., 29,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Felix Philipp Ingold staunt, wie frisch dieses bereits 1933 erschienene Buch des britischen Historikers Edward Hallett Carr heute noch wirkt. Carr, ein Kenner der russischen Revolution, hatte sich seiner Zeit vorgenommen, drei Protagonisten der revolutionären Intelligenz des 19. Jahrhunderts zu porträtieren - Alexander Herzen, Michail Bakunin und Nikolai Ogarjow - und sie als "Menschen aus Fleisch und Blut und nicht bloß als Ideenträger vorzuführen", schreibt Ingold. Dass Carrs Buch nun auf Deutsch im Untertitel als "russischer Familienroman" firmiert, sei deswegen gar nicht so falsch, erklärt Ingold. Carr weite mit großer narrativer Kraft das beinahe tragikomische Verhältnis der drei ins Exil gezwungenen Helden zu einer richtigen Saga, so der Rezensent, bei der die Schilderung dieser Schicksalsgemeinschaft Innenansichten einer ganzen Epoche ergebe. Das Tragische an der Geschichte sei, hält Ingold fest, dass die hohen Ideale dieser Gesellschaftskritiker "in der Praxis unweigerlich zur Farce" mutierten. Carr sei ein geschickter und unterhaltsamer Geschichtenerzähler, schließt Ingold, der sich auch vor Eigeninterpretationen nicht scheue. Einzig, dass der Historiker die von Bakunin und Konsorten verfassten Werke nicht inhaltlich oder literarisch gewürdigt hat, ist in seinen Augen ein kleiner Kritikpunkt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH