Produktdetails
  • Verlag: Raduga
  • ISBN-13: 9785050004352
  • ISBN-10: 5050004357
  • Artikelnr.: 25138323
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2008

Leben, das ist alltäglich ein neues Gedicht

Seit 1975 gibt das Freie Deutsche Hochstift die Frankfurter Brentano-Ausgabe heraus. Jetzt erscheint ein neuer Band. Er zeigt das Epos "Romanzen vom Rosenkranz" in neuem Licht.

VON FLORIAN BALKE

FRANKFURT. Es hat etwa 12000 Verse, ist ungefähr so lang wie "Faust I" und "Faust II" zusammen und hat seit seiner ersten Veröfffentlichung im Jahr 1852 nicht viele Leser interessiert. Hans Scholl allerdings bekannte 1943 im Verhör durch die Geheime Staatspolizei, er habe der "Weißen Rose" ihren Namen unter dem Eindruck der Lektüre des Werkes gegeben. Die Rede ist von Clemens Brentanos "Romanzen vom Rosenkranz", einem verstiegenen Epos, an dem der 1778 geborene Frankfurter Dichter seit seinem 24. Lebensjahr arbeitete, bis er es später, wie viele andere Werke, unvollendet liegenließ.

Das Epos schildert die verworrene Geschichte einer italienischen Familie des Mittelalters, deren Vorfahren das Unglück hatten, der Heiligen Familie die Herberge verweigert zu haben. Für den Fehltritt von einst müssen nun drei ständig vom Ungemach bedrohte, aber in ihrer Umgebung segensreich wirkende Töchter büßen, unter ihnen auch Rosablanka, die Hans Scholl in seiner Bedrängnis beeindruckte. Etwas abseitig ist das Ganze trotzdem. Aber Ausgaben gesammelter Schriftstellerwerke können nicht wählerisch sein, sondern machen aus dem Skurrilsten das Beste.

In den vergangenen Jahren hat die Redaktion der Frankfurter Brentano-Ausgabe den "Romanzen" daher zwei Bände gewidmet. Der Text des Epos erschien 1994, die Entwürfe vor zwei Jahren, nun folgt der Kommentar. Am 18. Dezember kommt er als Band 11.2 der Frankfurter Brentano-Ausgabe im Stuttgarter Verlag W. Kohlhammer heraus. Auf 852 Seiten, die Einzelkäufer im Buchhandel für 298 Euro beziehen können, schlüsselt Herausgeber Dietmar Pravida das stupende Können und das umfangreiche Wissen des Dichters auf. Seit 1975 erscheint die Ausgabe, zu deren Redaktion Pravida gehört, im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt. Wechselnde Herausgeber sind für die einzelnen Bände zuständig, aber im Gebäude des Goethe-Museums am Großen Hirschgraben laufen alle Fäden zusammen.

Finanziert wird die Ausgabe von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Allerdings nur noch bis Februar 2016, dann müssen alle 38 Bände fertig sein. Da bleibt noch viel zu tun - zwar sind mehr als dreißig von ihnen schon erschienen, aber einige der ursprünglich vorgesehenen Bände sind inzwischen in bis zu sechs Teillieferungen unterteilt worden. "Brentano hat ungeheuer viel geschrieben", sagt Wolfgang Bunzel. Er leitet die Redaktion seit Anfang 2007. "Aber er hat nur wenig publiziert." Der im Hochstift mit seinem reichen Brentano-Bestand betreuten Ausgabe kommt das zugute. Sie versammelt nicht nur schon zuvor bekannte Werke, sondern macht die Leser auch mit vielen Brentano-Texten bekannt, die es in Buchform noch nie gegeben hat.

Brentano selbst wusste nicht recht, wie er sich zu seinem Schreiben und Dichten verhalten sollte. "Er war enorm vielfältig, hatte aber eine eigenartige Scheu gegenüber seiner eigenen Autorschaft", sagt Bunzel. Dabei entfaltete seine Lyrik im Gefolge der von ihm zusammen mit Achim von Arnim veröffentlichten Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" während des 19. Jahrhunderts breite Wirkung. Es sei paradox, sagt Bunzel: "Seine Texte waren sehr erfolgreich, aber ihr Erfolg ging einher mit einem Verlust des Bewusstseins seiner Autorschaft." In letzter Zeit scheint das Interesse an Brentano wieder zu wachsen. Gerade war im Fernsehen noch einmal Dominik Grafs Film "Das Gelübde" zu sehen, der sich einem der abseitigsten Projekte des Dichters widmet - seinem Versuch, dem Heiligen durch die Bekanntschaft mit der Nonne Anna Katharina Emmerick nahezukommen, die die Wundmale Christi empfangen zu haben glaubte. Und noch bis zum 11. Januar widmet sich in der Alten Nationalgalerie Berlin die Ausstellung "Kult des Künstlers" der Freundschaft Brentanos mit Karl Friedrich Schinkel.

Der Künstler und das Heilige - eine schwierige Beziehung. Im Jahr 1810 schickte Brentano dem Maler Philipp Otto Runge, dem er wenig später eine Teilabschrift des Epos übereignete, damit dieser die "Romanzen" illustrieren könne, einen Bekenntnisbrief. In ihm erklärt Brentano, er versuche in seinen Kunstwerken die "heilige Geschichte" seines Inneren abzubilden. Das Heilige - es war für Brentano Glück und Verderben, war etwas Höheres, Besseres, Ersehntes, Erstrebtes und Begehrtes. 1803 hatte er in Frankfurt ein Gedicht auf Marianne von Willemer verfasst, in dem er seine Angebetete in die Sphäre dieses Heiligen versetzt: "Und die in dem Hause wohnen / Sind heilig und wissen es nicht. / Sie leben mit Kränzen und Kronen / Alltäglich ein neues Gedicht." Gerade hier lauerte die Gefahr. Für Brentano war das Heilige, um dessen Erreichen es ging, nichts Stabiles, sondern etwas, das sich wandelte, in immer neuen Formen in Erscheinung trat, nie zu fassen war und immer wieder aufs Neue verfolgt werden musste. In literarischer Form. Denn das kam erschwerend hinzu: Das Heilige war ganz offensichtlich ein Kunstwerk, war "alltäglich ein neues Gedicht". Kein Wunder also, dass Brentano schrieb und schrieb, kein Wunder auch, dass Dietmar Pravida für das Herausgeben des Kommentarbandes Italienisch, Spanisch und Hebräisch lernen musste. Er nennt die "Romanzen" eine "Enzyklopädie apokryphen Wissens", schätzt ihre komplizierten und virtuos gehandhabten Verse aber auch als eines der großen Kunstwerke der deutschen Literatur ein - gescheitert zwar, aber trotzdem groß: "Es ist, wie Nietzsche gesagt hat - von manchen Dingen genügt es, sie gewollt zu haben."

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