Zu keinem Buch habe ich so oft gegriffen wie zu Heinrich Heines "Romanzero". Als Kind verlor ich eine Melodie nicht aus dem Ohr, die vom Dienstmädchenzimmer unseres Nachbarn manchmal abends herüberklang, das "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, / Daß ich so traurig bin."
Es war das Lied von der Lore-Ley, zum Volkslied geworden und schließlich zur Tonkonserve auf den Ausflugsschiffen der Rheinflotte. Nein, heute ließe ich, müßte ich wählen, für den "Romanzero" das "Buch der Lieder", die Fundgrube der Komponisten, auch die "Neuen Gedichte" und "Deutschland. Ein Wintermärchen" liegen. Denn nicht als junges Genie im Berliner Salon der Rahel Varnhagen, nicht als genußfreudiger Flaneur in der französischen Hauptstadt ist Heine auf dem Höhepunkt seiner Kunst, sondern als Schwerkranker in der Pariser "Matratzengruft". So hat mich jede Lektüre mit neuen Entdeckungen belohnt.
Zu den Lieblingstexten meines Lieblingsbuchs gehören: die tragisch-ironische "Historie" vom unglücklichen englischen König Karl I., der seinem künftigen Henker, dem Köhlerkind, ein Wiegenlied singt; das poetisch höchst konzentrierte Gedicht vom jungen Sklaven aus dem Jemen, der die Sultanstochter liebt, aber vom Stamm jener "Asra" ist, "welche sterben, wenn sie lieben"; die Romanze vom letzten Maurenkönig Granadas, die Ruhm auch den Verlierern der Geschichte verspricht; Heines Selbstabdankung in "Enfant perdu", seine Erklärung des Rücktritts vom "Posten im Freiheitskriege" - und der Nachtrag zum "Lazarus" des "Romanzero" ("Laß die heilgen Parabolen"), in dem ein neuer Hiob bei Gott Gerechtigkeit in der Geschichte einklagt.
Nie zuvor hat Heine so sein Gedicht den Grenzerfahrungen menschlichen Daseins geöffnet wie im "Romanzero", nie den spanischen Romanzenvers so zum rhythmisch-musikalischen Ereignis werden lassen. Immer neu bezaubert mich die Vielstimmigkeit des Buches. Angesteckt hat den Dichter die Erzähllust des Orients. So gilt auch für den "Romanzero" selbst, was Heine im Triptychon "Der Dichter Firdusi" über das Heldenlied des großen persischen Epikers sagt: Entstanden ist am "Webstuhl des Gedankens" ein "Riesenteppich, wo der Dichter / Wunderbar hineingewebt / Rittertaten, Aventüren, / ... Keck umrankt von Märchenblumen - / Alles blühend und lebendig."
WALTER HINCK
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