Im Sommer 1939 war die Welt für den kleinen David noch in Ordnung. Doch bald darauf, mit der deutschen Besetzung Polens, wurde alles anders. Wie durch ein Wunder überlebte David als einziger seiner Familie die Mordaktionen. Es folgte eine grauenvolle Odyssee durch verschiedene Arbeits- und Konzentrationslager - ständiger Todesangst, entsetzlichen Grausamkeiten und fortwährenden Entbehrungen ausgesetzt. Das Andenken an seinen bewunderten Bruder Romek, der im Widerstand gewesen war und von den Nazis vor seinen Augen ermordet wurde, gab dem Jungen die Kraft zu überleben. Erst 25 Jahre nach seiner Befreiung war er in der Lage, über seine Leidenszeit zu sprechen. Aus seinem Bericht entstand dieses Buch, ein anrührendes Zeugnis gegen das Vergessen und eine Mahnung zum entschlossenen Widerstand gegen jegliche Inhumanität.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2000Gerettete und Untergegangene
Holocaust-Überlebende berichten: Erlittene Geschichte statt abstrakter Zahlen von Millionen Toten
Thomas Tiovi Blatt: Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór. Aus dem Amerikanischen von Monika Schmalz. Aufbau-Verlag, Berlin 2000. 335 Seiten, 39,90 Mark.
Elena Lappin: Der Mann mit zwei Köpfen. Aus dem Englischen von Maria Buchwald und Monika Bucheli. Chronos Verlag, Zürich 2000. 120 Seiten, 29,- Mark.
David Faber mit James D. Kitchen: Romeks Bruder. Erinnerungen eines Holocaust-Überlebenden. Aus dem Englischen von Gabriele Ackermann. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2000. 224 Seiten, 22,50 Mark.
Timothy W. Ryback: Der letzte Überlebende. Auf der Suche nach Alfred Zahlenfeldt. Aus dem Englischen von Christian Wiese. Siedler Verlag, Berlin 2000. 224 Seiten, 39,90 Mark.
"Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen", schrieb der italienische Schriftsteller Primo Levi vor fast 15 Jahren in der Essaysammlung "Die Untergegangenen und die Geretteten". Die eigentlichen Zeugen, deren Aussagen eine allgemeine Bedeutung gehabt hätten, sind Levi zufolge die Untergegangenen, das eigentliche Symbol für den Holocaust nicht Auschwitz, sondern Belzec, Treblinka oder Sobibór.
Zu den wenigen, die von dort zurückkehren konnten und ihre Sprache nicht verloren hatten, gehört Thomas Tiovi Blatt, dem im Herbst 1943 bei einem organisierten Aufstand im Vernichtungslager Sobibór die Flucht gelang. Bei diesem bis heute wenig bekannten Widerstandsakt wurde ein großer Teil der SS-Lagerleitung getötet, etwa dreihundert sogenannte "Arbeitsjuden" konnten ausbrechen, von denen mehr als fünfzig das Kriegsende überlebten. Nach dem Aufstand wurde das Lager von der SS geschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren in Sobibór bereits mehr als eine Viertelmillion Juden aus Polen und anderen europäischen Ländern ermordet worden.
Angesichts der makabren Perfektion, mit der die Opfer des Genozids getäuscht und dessen Spuren verwischt wurden, kommt dieser Dokumentation eine besondere Bedeutung zu, die Blatt sehr wohl bewußt ist. Mit einer auch sich selbst gegenüber schonungslosen Offenheit beschreibt er die mörderische Routine des Lagers, in das er im Alter von 15 Jahren mit seiner Familie aus Izbica, einem Stetl in der Nähe von Lublin, im April 1943 deportiert wurde. In seinem Bericht ist die Suche nach dem Dialog zu spüren, nach der gedanklichen und emotionalen Verbindung zu den anderen Gefangenen, den Geretteten wie den Zurückgelassenen, deren gemeinsamer Anstrengung er sein Leben verdankt.
Wie viele andere, die als Überlebende zugleich Augenzeugen eines Verbrechens waren, dessen Ausmaß die Vorstellungskraft der Außenwelt überstieg, blieb auch Blatt nach der Befreiung mit seiner Erinnerung und seiner Zeugenschaft allein. Im Polen der Nachkriegszeit stimmte sein Bericht nicht mit der offiziellen Geschichtsschreibung überein. In Israel, wohin er 1958 emigriert war, glaubte man ihm seine Geschichte nicht. Der Hagener Prozeß gegen einige Lagerkommandanten von Sobibór, in dem er 1966 aussagte, wurde von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Erst nach dem ersten Generationswechsel Ende der siebziger Jahre - Blatt lebte inzwischen in den Vereinigten Staaten - konnte er Teile seiner Tagebuchnotizen publizieren. An dem nun vorliegenden Gesamtbericht hat er mit Unterbrechungen vierzig Jahre lang gearbeitet.
Die unvermindert zahlreich erscheinenden Berichte von Überlebenden des Holocaust, die manch einer als Schoah-Busineß oder Pädagogen-Keule abqualifizieren mag, lassen sich auch als Abschied, als Vermächtnis derjenigen lesen, die das Wort ergreifen, bevor sie es nicht mehr können. Es ist nahezu selbstverständlich, daß dabei der eine Bericht mehr und manch anderer weniger aufschlußreich zu lesen und nicht jede Veröffentlichung zwingend ist. Ein vor vier Jahren erschienenes Buch wurde zum Skandal, als herauskam, daß dessen Autor Bruno Doesseker sich unter dem Namen Binjamin Wilkomirski aus den Bruchstücken von Überlebensgeschichten anderer eine jüdische Identität als Holocaust-Opfer zurechtgeschneidert und angeeignet hatte.
Mann mit zwei Köpfen
Die britische Schriftstellerin Elena Lappin, die an einer Preisverleihung für den Autor Wilkomirski beteiligt gewesen war, vollzieht den Prozeß der eigenen Täuschung nochmals nach. Sie will die Wahrheit einer Geschichte herausfinden, an die sie zunächst trotz einiger Unstimmigkeiten geglaubt hatte. In ihrer persönlich gehaltenen, zwischen widerstreitenden Gefühlen und kühler Kriminalistik balancierenden Recherche nach dem "Mann mit zwei Köpfen" entdeckt sie eine Kette von Beweisen dafür, daß Doessekers Buch eine Fiktion ist. Das Ergebnis beurteilt sie milde: Die beschriebenen Qualen seien authentisch, nur rührten sie eben keineswegs aus Auschwitz oder Majdanek, sondern aus der Verletztheit eines ungeliebten Pflegekinds im Schweizer Adelboden, das Mitleid verdiene.
Doesseker hat sich auf seine Weise erfolgreich Mitleid verschafft, indem er mit seiner angemaßten Identität, die er auch in Dokumentarfilmen "verkörperte", im Namen derjenigen auftrat, die lebenslänglich von ihrer Erinnerung verfolgt wurden und diese oft nur aus der Pflicht zur Überlieferung heraus aufzuzeichnen vermochten. Daß deren Zeugnis nun womöglich von enttäuschten Lesern mit Skepsis aufgenommen werden könnte, ist eine Gefahr, auf die Elena Lappin anspielt, wenn sie nach einem Gespräch mit Steven Spielberg über dessen Video-Archiv feststellt: "Unser Vertrauen in diese Erinnerungen zu zerstören, wäre schrecklich; ihre Richtigkeit in Frage zu stellen, ebenfalls."
Nun hatte die "Richtigkeit" von Erinnerungen auch zuvor schon ihre Grenzen, denn alle Erinnerung ist subjektiv und gibt eine individuell erlebte und erlittene Geschichte wieder - gerade darin liegt ja ihr Wert, daß sie vorstellbar macht, was in den abstrakten Zahlen von Millionen Toten ein einzelnes Leben bedeutet. Und gerade weil das jüdische Volk und dessen Geschichte in der Schoa ausgelöscht werden sollte, sind neben der genauen Rekonstruktion im Großen wie im Kleinen die erzählten "Existenzbeweise" (so der Titel eines Buchs der polnischen Autorin Hanna Krall) oft die einzigen Hinweise auf das, was jüdisches Leben einmal bedeutet hat.
Daß die historische Wahrheit sich nicht allein aus den Erinnerungen von Zeugen, sondern aus einer Vielzahl von Quellen und Dokumenten und dem Abgleich verschiedener Aussagen zusammensetzt, ist eine schlichte Tatsache, die eigentlich nicht erwähnt werden müßte. Warum also sollte man nach dem Wilkomirski-Skandal den Erinnerungen von Überlebenden des Holocaust nicht mehr trauen, wo doch das, wovon sie berichten, seit langem bekannt und vielfach dokumentiert ist? Die Konsequenz ist nicht geringeres Vertrauen, sondern eine geringere Gedankenlosigkeit, eine größere Aufmerksamkeit und Genauigkeit im Umgang mit solchen Erinnerungen.
Es ist deshalb zu einfach, diese in Klappentexten vorab als fiktiv zu bezeichnen, wie es mit der Überlebensgeschichte von David Faber aus Kattowitz geschieht, die dieser seinem Bruder Romek, einem jüdischen Widerstandskämpfer, gewidmet hat. Angesichts mancher offenbleibender Fragen erscheint zwar der Hinweis darauf, daß Realität, Fiktion und später erworbene Informationen sich in der Erzählung vermischen, nicht ganz unberechtigt. Aber kann man einen Bericht, in dem zahlreiche Schilderungen von sadistischen Gewalttaten dominieren, noch als "erschütterndes Zeugnis gegen das Vergessen" lesen, wenn ihm im Satz zuvor bescheinigt wurde, daß er in Teilen fiktiv sei? Damit wird in vorauseilender Absicherung nicht nur auf die Subjektivität der Erinnerung verwiesen, sondern auch gleich noch die Authentizität der Zeugenschaft aufgegeben, was jede Nachfrage zum Text von vornherein obsolet werden läßt.
Ob es aber um die Authentizität der Zeugenschaft überhaupt geht und worauf sie sich gründet - diese Frage stellt der amerikanische Journalist Timothy W. Ryback. In seiner subtil beobachtenden Reportage über den Umgang mit der Vergangenheit im Dachau der neunziger Jahre wendet er den Zweifel an der Glaubwürdigkeit eines schillernden Zeitzeugen zum Zweifel an der Relevanz von Fakten und Akten. Jener skurrile Überlebende, in der deutschen Fassung Alfred Zahlenfeldt genannt, treibt im Krematorium des ehemaligen Lagers sein Unwesen, wo er, der sanktionierten Historie widersprechend, behauptet, daß in Dachau doch Vergasungen stattgefunden hätten.
Zahlenfeldts Identität, deren Spuren Ryback bis ins polnische Hinterland verfolgt, bleibt ebenso lückenhaft wie seine Erinnerung. Als er schließlich preisgibt, daß seine Frau und seine Tochter von judenfeindlichen Polen umgebracht worden seien, glaubt Ryback den Schlüssel zu Zahlenfeldts Geheimnis gefunden zu haben. Dieser sei in den "unwiderstehlichen Sog einer weit tiefer liegenden emotionalen Kraft" geraten, einer jenseits der Tatsachen der Geschichte wirkenden Kraft, der gegenüber Aktennachweise und Statistiken nur noch als blasse Behauptungen zu erscheinen vermögen. Aber wenn es für Alfred Zahlenfeldt, den der faszinierte Autor zum "letzten Überlebenden" überhöht, auf die historische Wirklichkeit vielleicht nicht mehr ankommt, so müssen doch diejenigen, denen gegenüber er als Zeuge auftritt, das anders sehen. Denn so unscharf und gefühlsbestimmt die Erinnerung auch sein mag - wo sie Zeugenschaft beansprucht, kann die Identität des Zeugen nicht unklar bleiben, heiße er nun Wilkomirski oder Zahlenfeldt.
SABINE FRÖHLICH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Holocaust-Überlebende berichten: Erlittene Geschichte statt abstrakter Zahlen von Millionen Toten
Thomas Tiovi Blatt: Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór. Aus dem Amerikanischen von Monika Schmalz. Aufbau-Verlag, Berlin 2000. 335 Seiten, 39,90 Mark.
Elena Lappin: Der Mann mit zwei Köpfen. Aus dem Englischen von Maria Buchwald und Monika Bucheli. Chronos Verlag, Zürich 2000. 120 Seiten, 29,- Mark.
David Faber mit James D. Kitchen: Romeks Bruder. Erinnerungen eines Holocaust-Überlebenden. Aus dem Englischen von Gabriele Ackermann. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2000. 224 Seiten, 22,50 Mark.
Timothy W. Ryback: Der letzte Überlebende. Auf der Suche nach Alfred Zahlenfeldt. Aus dem Englischen von Christian Wiese. Siedler Verlag, Berlin 2000. 224 Seiten, 39,90 Mark.
"Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen", schrieb der italienische Schriftsteller Primo Levi vor fast 15 Jahren in der Essaysammlung "Die Untergegangenen und die Geretteten". Die eigentlichen Zeugen, deren Aussagen eine allgemeine Bedeutung gehabt hätten, sind Levi zufolge die Untergegangenen, das eigentliche Symbol für den Holocaust nicht Auschwitz, sondern Belzec, Treblinka oder Sobibór.
Zu den wenigen, die von dort zurückkehren konnten und ihre Sprache nicht verloren hatten, gehört Thomas Tiovi Blatt, dem im Herbst 1943 bei einem organisierten Aufstand im Vernichtungslager Sobibór die Flucht gelang. Bei diesem bis heute wenig bekannten Widerstandsakt wurde ein großer Teil der SS-Lagerleitung getötet, etwa dreihundert sogenannte "Arbeitsjuden" konnten ausbrechen, von denen mehr als fünfzig das Kriegsende überlebten. Nach dem Aufstand wurde das Lager von der SS geschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren in Sobibór bereits mehr als eine Viertelmillion Juden aus Polen und anderen europäischen Ländern ermordet worden.
Angesichts der makabren Perfektion, mit der die Opfer des Genozids getäuscht und dessen Spuren verwischt wurden, kommt dieser Dokumentation eine besondere Bedeutung zu, die Blatt sehr wohl bewußt ist. Mit einer auch sich selbst gegenüber schonungslosen Offenheit beschreibt er die mörderische Routine des Lagers, in das er im Alter von 15 Jahren mit seiner Familie aus Izbica, einem Stetl in der Nähe von Lublin, im April 1943 deportiert wurde. In seinem Bericht ist die Suche nach dem Dialog zu spüren, nach der gedanklichen und emotionalen Verbindung zu den anderen Gefangenen, den Geretteten wie den Zurückgelassenen, deren gemeinsamer Anstrengung er sein Leben verdankt.
Wie viele andere, die als Überlebende zugleich Augenzeugen eines Verbrechens waren, dessen Ausmaß die Vorstellungskraft der Außenwelt überstieg, blieb auch Blatt nach der Befreiung mit seiner Erinnerung und seiner Zeugenschaft allein. Im Polen der Nachkriegszeit stimmte sein Bericht nicht mit der offiziellen Geschichtsschreibung überein. In Israel, wohin er 1958 emigriert war, glaubte man ihm seine Geschichte nicht. Der Hagener Prozeß gegen einige Lagerkommandanten von Sobibór, in dem er 1966 aussagte, wurde von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Erst nach dem ersten Generationswechsel Ende der siebziger Jahre - Blatt lebte inzwischen in den Vereinigten Staaten - konnte er Teile seiner Tagebuchnotizen publizieren. An dem nun vorliegenden Gesamtbericht hat er mit Unterbrechungen vierzig Jahre lang gearbeitet.
Die unvermindert zahlreich erscheinenden Berichte von Überlebenden des Holocaust, die manch einer als Schoah-Busineß oder Pädagogen-Keule abqualifizieren mag, lassen sich auch als Abschied, als Vermächtnis derjenigen lesen, die das Wort ergreifen, bevor sie es nicht mehr können. Es ist nahezu selbstverständlich, daß dabei der eine Bericht mehr und manch anderer weniger aufschlußreich zu lesen und nicht jede Veröffentlichung zwingend ist. Ein vor vier Jahren erschienenes Buch wurde zum Skandal, als herauskam, daß dessen Autor Bruno Doesseker sich unter dem Namen Binjamin Wilkomirski aus den Bruchstücken von Überlebensgeschichten anderer eine jüdische Identität als Holocaust-Opfer zurechtgeschneidert und angeeignet hatte.
Mann mit zwei Köpfen
Die britische Schriftstellerin Elena Lappin, die an einer Preisverleihung für den Autor Wilkomirski beteiligt gewesen war, vollzieht den Prozeß der eigenen Täuschung nochmals nach. Sie will die Wahrheit einer Geschichte herausfinden, an die sie zunächst trotz einiger Unstimmigkeiten geglaubt hatte. In ihrer persönlich gehaltenen, zwischen widerstreitenden Gefühlen und kühler Kriminalistik balancierenden Recherche nach dem "Mann mit zwei Köpfen" entdeckt sie eine Kette von Beweisen dafür, daß Doessekers Buch eine Fiktion ist. Das Ergebnis beurteilt sie milde: Die beschriebenen Qualen seien authentisch, nur rührten sie eben keineswegs aus Auschwitz oder Majdanek, sondern aus der Verletztheit eines ungeliebten Pflegekinds im Schweizer Adelboden, das Mitleid verdiene.
Doesseker hat sich auf seine Weise erfolgreich Mitleid verschafft, indem er mit seiner angemaßten Identität, die er auch in Dokumentarfilmen "verkörperte", im Namen derjenigen auftrat, die lebenslänglich von ihrer Erinnerung verfolgt wurden und diese oft nur aus der Pflicht zur Überlieferung heraus aufzuzeichnen vermochten. Daß deren Zeugnis nun womöglich von enttäuschten Lesern mit Skepsis aufgenommen werden könnte, ist eine Gefahr, auf die Elena Lappin anspielt, wenn sie nach einem Gespräch mit Steven Spielberg über dessen Video-Archiv feststellt: "Unser Vertrauen in diese Erinnerungen zu zerstören, wäre schrecklich; ihre Richtigkeit in Frage zu stellen, ebenfalls."
Nun hatte die "Richtigkeit" von Erinnerungen auch zuvor schon ihre Grenzen, denn alle Erinnerung ist subjektiv und gibt eine individuell erlebte und erlittene Geschichte wieder - gerade darin liegt ja ihr Wert, daß sie vorstellbar macht, was in den abstrakten Zahlen von Millionen Toten ein einzelnes Leben bedeutet. Und gerade weil das jüdische Volk und dessen Geschichte in der Schoa ausgelöscht werden sollte, sind neben der genauen Rekonstruktion im Großen wie im Kleinen die erzählten "Existenzbeweise" (so der Titel eines Buchs der polnischen Autorin Hanna Krall) oft die einzigen Hinweise auf das, was jüdisches Leben einmal bedeutet hat.
Daß die historische Wahrheit sich nicht allein aus den Erinnerungen von Zeugen, sondern aus einer Vielzahl von Quellen und Dokumenten und dem Abgleich verschiedener Aussagen zusammensetzt, ist eine schlichte Tatsache, die eigentlich nicht erwähnt werden müßte. Warum also sollte man nach dem Wilkomirski-Skandal den Erinnerungen von Überlebenden des Holocaust nicht mehr trauen, wo doch das, wovon sie berichten, seit langem bekannt und vielfach dokumentiert ist? Die Konsequenz ist nicht geringeres Vertrauen, sondern eine geringere Gedankenlosigkeit, eine größere Aufmerksamkeit und Genauigkeit im Umgang mit solchen Erinnerungen.
Es ist deshalb zu einfach, diese in Klappentexten vorab als fiktiv zu bezeichnen, wie es mit der Überlebensgeschichte von David Faber aus Kattowitz geschieht, die dieser seinem Bruder Romek, einem jüdischen Widerstandskämpfer, gewidmet hat. Angesichts mancher offenbleibender Fragen erscheint zwar der Hinweis darauf, daß Realität, Fiktion und später erworbene Informationen sich in der Erzählung vermischen, nicht ganz unberechtigt. Aber kann man einen Bericht, in dem zahlreiche Schilderungen von sadistischen Gewalttaten dominieren, noch als "erschütterndes Zeugnis gegen das Vergessen" lesen, wenn ihm im Satz zuvor bescheinigt wurde, daß er in Teilen fiktiv sei? Damit wird in vorauseilender Absicherung nicht nur auf die Subjektivität der Erinnerung verwiesen, sondern auch gleich noch die Authentizität der Zeugenschaft aufgegeben, was jede Nachfrage zum Text von vornherein obsolet werden läßt.
Ob es aber um die Authentizität der Zeugenschaft überhaupt geht und worauf sie sich gründet - diese Frage stellt der amerikanische Journalist Timothy W. Ryback. In seiner subtil beobachtenden Reportage über den Umgang mit der Vergangenheit im Dachau der neunziger Jahre wendet er den Zweifel an der Glaubwürdigkeit eines schillernden Zeitzeugen zum Zweifel an der Relevanz von Fakten und Akten. Jener skurrile Überlebende, in der deutschen Fassung Alfred Zahlenfeldt genannt, treibt im Krematorium des ehemaligen Lagers sein Unwesen, wo er, der sanktionierten Historie widersprechend, behauptet, daß in Dachau doch Vergasungen stattgefunden hätten.
Zahlenfeldts Identität, deren Spuren Ryback bis ins polnische Hinterland verfolgt, bleibt ebenso lückenhaft wie seine Erinnerung. Als er schließlich preisgibt, daß seine Frau und seine Tochter von judenfeindlichen Polen umgebracht worden seien, glaubt Ryback den Schlüssel zu Zahlenfeldts Geheimnis gefunden zu haben. Dieser sei in den "unwiderstehlichen Sog einer weit tiefer liegenden emotionalen Kraft" geraten, einer jenseits der Tatsachen der Geschichte wirkenden Kraft, der gegenüber Aktennachweise und Statistiken nur noch als blasse Behauptungen zu erscheinen vermögen. Aber wenn es für Alfred Zahlenfeldt, den der faszinierte Autor zum "letzten Überlebenden" überhöht, auf die historische Wirklichkeit vielleicht nicht mehr ankommt, so müssen doch diejenigen, denen gegenüber er als Zeuge auftritt, das anders sehen. Denn so unscharf und gefühlsbestimmt die Erinnerung auch sein mag - wo sie Zeugenschaft beansprucht, kann die Identität des Zeugen nicht unklar bleiben, heiße er nun Wilkomirski oder Zahlenfeldt.
SABINE FRÖHLICH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.07.2000Wer übrig bleibt
David Faber überlebt den Holocaust und sieht seine Familie sterben
DAVID FABER: Romeks Bruder. Erinnerungen eines Holocaust-Überlebenden, dtv Verlag, München 2000. 224 Seiten, 22,50 Mark.
David ist der Kleinste seiner Familie, er hat sechs Schwestern und seinen Bruder Romek. Romek wird nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Anführer einer Untergrundbewegung, die Sabotage gegen den Transport schweren Wassers zur Herstellung einer deutschen Atombombe betreibt. Er wird von einem Doppelagenten verraten und vor den Augen Davids zu Tode gefoltert. Mit einem glühenden Schürhaken wird er geblendet, seine Zunge wird ihm bei lebendigem Leib herausgeschnitten, man lässt ihn verbluten. Seine älteste Schwester Rachel ist so klug, nach einem Besuch der Weltausstellung in Paris 1937 nicht nach Polen zurückzukehren. Sie wird neben David die einzige Überlebende der Familie sein.
Die Familie flüchtet von Kattowitz nach Tarnów, wo David bei einer Routinekontrolle im Mai 1941 verhaftet wird. Er wird in ein Lager bei Pustków deportiert, dort gelingt dem 14-Jährigen die Flucht, und er schließt sich einer sowjetischen Partisanengruppe an. Seine Aufgabe ist es, deutsche Munitionszüge zum Entgleisen zu bringen. Die Deutschen fackeln den Wald ab, in dem sich die Widerständler versteckt halten; David überlebt, weil er sich eingegraben hatte und durch den Lauf eines Gewehrs atmen kann. Er schlägt sich zu seiner Familie in Tarnów durch, sein Vater wird im Herbst 1942 von den Faschisten totgeschlagen.
Unter einem Sofa versteckt, muss er wenig später miterleben, wie der Rest seiner Familie füsiliert wird. „Alle waren tot. Nur ich war übrig. ” Im Ghetto wird von den Nazis das Wasser abgestellt, um die versteckten Juden herauszutreiben.
David stellt sich. Er gelangt nach Auschwitz-Birkenau, entgeht knapp der Selektion und muss den vergasten Juden die Goldzähne aus dem Mund brechen. Den Versuch, ein Baby zu retten, bezahlt er mit der Überführung in das Straflager Jawischowitz, einem Bergwerk. Ein anderer Junge macht dort unabsichtlich den Stiel seiner Schaufel kaputt. „Die Aufseher steckten ihn in ein betoniertes Loch von circa 40 mal 40 cm Grundfläche und etwas über zwei Meter Tiefe. Sie verschlossen das Loch bis auf einen Spalt. Er konnte sich weder setzen noch hinlegen. Vier Tage später zogen sie seine Leiche heraus. ”
Diese Szene ist symptomatisch für die brutale und herzzereißende Lakonie des Stils Fabers, der an die unvergleichlichen Erzählungen Tadeusz Borowskis erinnert. „Wie die Tiere, dachte ich. Das war, was die Nazis aus uns machten: Tiere. ” Nach Etappen in Buchenwald, Dora und Crawinkel landet Faber in Bergen-Belsen. „Hier gibt es nur eine Arbeit: die Toten rausräumen”, sagt ein Mitgefangener zu ihm. „Das ist die einzige Arbeit hier?” „Das oder verhungern”, erwidert der andere. Die Engländer befreien das KZ, Faber geht 1946 nach London, emigriert 1957 in die USA. Jetzt lebt er in San Diego.
THOMAS ECKARDT
Der Rezensent ist Sozialwissenschaftler in München.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
David Faber überlebt den Holocaust und sieht seine Familie sterben
DAVID FABER: Romeks Bruder. Erinnerungen eines Holocaust-Überlebenden, dtv Verlag, München 2000. 224 Seiten, 22,50 Mark.
David ist der Kleinste seiner Familie, er hat sechs Schwestern und seinen Bruder Romek. Romek wird nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Anführer einer Untergrundbewegung, die Sabotage gegen den Transport schweren Wassers zur Herstellung einer deutschen Atombombe betreibt. Er wird von einem Doppelagenten verraten und vor den Augen Davids zu Tode gefoltert. Mit einem glühenden Schürhaken wird er geblendet, seine Zunge wird ihm bei lebendigem Leib herausgeschnitten, man lässt ihn verbluten. Seine älteste Schwester Rachel ist so klug, nach einem Besuch der Weltausstellung in Paris 1937 nicht nach Polen zurückzukehren. Sie wird neben David die einzige Überlebende der Familie sein.
Die Familie flüchtet von Kattowitz nach Tarnów, wo David bei einer Routinekontrolle im Mai 1941 verhaftet wird. Er wird in ein Lager bei Pustków deportiert, dort gelingt dem 14-Jährigen die Flucht, und er schließt sich einer sowjetischen Partisanengruppe an. Seine Aufgabe ist es, deutsche Munitionszüge zum Entgleisen zu bringen. Die Deutschen fackeln den Wald ab, in dem sich die Widerständler versteckt halten; David überlebt, weil er sich eingegraben hatte und durch den Lauf eines Gewehrs atmen kann. Er schlägt sich zu seiner Familie in Tarnów durch, sein Vater wird im Herbst 1942 von den Faschisten totgeschlagen.
Unter einem Sofa versteckt, muss er wenig später miterleben, wie der Rest seiner Familie füsiliert wird. „Alle waren tot. Nur ich war übrig. ” Im Ghetto wird von den Nazis das Wasser abgestellt, um die versteckten Juden herauszutreiben.
David stellt sich. Er gelangt nach Auschwitz-Birkenau, entgeht knapp der Selektion und muss den vergasten Juden die Goldzähne aus dem Mund brechen. Den Versuch, ein Baby zu retten, bezahlt er mit der Überführung in das Straflager Jawischowitz, einem Bergwerk. Ein anderer Junge macht dort unabsichtlich den Stiel seiner Schaufel kaputt. „Die Aufseher steckten ihn in ein betoniertes Loch von circa 40 mal 40 cm Grundfläche und etwas über zwei Meter Tiefe. Sie verschlossen das Loch bis auf einen Spalt. Er konnte sich weder setzen noch hinlegen. Vier Tage später zogen sie seine Leiche heraus. ”
Diese Szene ist symptomatisch für die brutale und herzzereißende Lakonie des Stils Fabers, der an die unvergleichlichen Erzählungen Tadeusz Borowskis erinnert. „Wie die Tiere, dachte ich. Das war, was die Nazis aus uns machten: Tiere. ” Nach Etappen in Buchenwald, Dora und Crawinkel landet Faber in Bergen-Belsen. „Hier gibt es nur eine Arbeit: die Toten rausräumen”, sagt ein Mitgefangener zu ihm. „Das ist die einzige Arbeit hier?” „Das oder verhungern”, erwidert der andere. Die Engländer befreien das KZ, Faber geht 1946 nach London, emigriert 1957 in die USA. Jetzt lebt er in San Diego.
THOMAS ECKARDT
Der Rezensent ist Sozialwissenschaftler in München.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Thomas Eckardt beschränkt sich in seiner recht kurzen Besprechung im Wesentlichen auf die Nacherzählung der Leidensstationen David Fabers aus Kattowitz (heute San Diego), der als eines von zwei Geschwistern einer vielköpfigen Familie in Polen überlebt hat. Der Tod seiner Angehörigen ist kein Abstraktum, die meisten werden vor den Augen des Jugendlichen gefoltert und ermordet. Als er sich nach einiger Zeit im Untergrund schließlich stellt, wird er nach Auschwitz-Birkenau deportiert, dann über Buchenwald, Dora und Crawinkel nach Bergen-Belsen, wo er die Befreiung des Lagers durch englische Soldaten erlebt. Die "brutale und herzzerreißende Lakonie", mit der er seine Geschichte erzählt, hat Thomas Eckardt an Tadeusz Borowski erinnert - und das ist, für den, der die Erzählungen Borowskis kennt ("Bei uns in Auschwitz"), gewiss eine der höchsten und schrecklichsten Preisungen für die der Shoah gewidmeten Erinnerungsliteratur.
© Perlentaucher Medien GmbH
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