Marktplatzangebote
7 Angebote ab € 2,50 €
  • Broschiertes Buch

"Geschichten aus Europas Nahem Osten" - so lautet der Untertitel dieser Sammlung von Geschichten und Reiseberichten, in denen sich das Wissen des erfahrenen Journalisten mit einem feinen Gespür für die Bedeutsamkeit eines Augenblicks mischt, intime Kenntnis mit literarischem Feingefühl. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit des real existierenden Sozialismus ist Swartz so ein poetisches und wunderbares Buch gelungen. "In achtzehn Reportagen aus Osteuropa berichtet Swartz von der Ungewißheit im Inneren der Welt. Eine jede ist ein Sieg der Literatur im Journalismus." (FAZ)

Produktbeschreibung
"Geschichten aus Europas Nahem Osten" - so lautet der Untertitel dieser Sammlung von Geschichten und Reiseberichten, in denen sich das Wissen des erfahrenen Journalisten mit einem feinen Gespür für die Bedeutsamkeit eines Augenblicks mischt, intime Kenntnis mit literarischem Feingefühl. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit des real existierenden Sozialismus ist Swartz so ein poetisches und wunderbares Buch gelungen. "In achtzehn Reportagen aus Osteuropa berichtet Swartz von der Ungewißheit im Inneren der Welt. Eine jede ist ein Sieg der Literatur im Journalismus." (FAZ)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1996

Bericht von den Pyramiden in der Mitte Europas
Der Journalismus triumphiert in der Literatur: Achtzehn Audienzen bei den Statthaltern des Leidens: Richard Swartz recherchiert im Osten / Von Thomas Steinfeld

Einmal, erzählt Richard Swartz, habe er sich vom Osten befreien wollen, von seinen Depressionen, seiner Armut und von einer Vergangenheit, die nicht vergehen mag. In Paris meinte er sich in Sicherheit bringen zu können. "Ich hatte von meinem Leben im Osten erzählen wollen, diesem wirklichen, tatsächlich existierenden Leben, von dem hier keiner schrieb oder sprach. Paris aber wollte nur seine eigene Stimme hören. Meine zählte nicht." Auf dem Boulevard Saint-Michel trifft der Erzähler den ungarischen Dichter M., einen Mann, der daheim von olympischer Arroganz war und zu den großen Raubtieren zählte. In Frankreich aber ist M. auch nur ein Besucher in Joggingschuhen aus der europäischen Provinz, einer, der im Ramsch der Buchhandlungen wühlt und doch nichts kauft, ein hilfloser Liebhaber von Paris.

Nicht hören und sich immer wieder die eigene Geschichte erzählen: das sind die Metropolen des alten Westens. Die Geschichte des Ostens, die bis vor sieben Jahren die Geschichte eines anderen Sterns gewesen ist, erreicht sie immer noch nicht. Und dort, wo sie den Westen ereilt, ist der Stern, der das Licht aussandte, längst erloschen. Gewiß, seitdem Osteuropa zugänglich ist, gibt es einen Haufen Bekenntnisse zur gemeinsamen Geschichte, verläßliche Fahrpläne und Landkarten. Dies alles suggeriert den Zusammenhang einer Welt, deren Linien man mit dem Finger nachzeichnen kann. Zum Beispiel die Europastraße 40. Sie durchzieht den Kontinent von Calais über Köln, Weimar und Breslau und verliert sich erst weit jenseits von Kiew. An dieser Straße, etwa zweihundert Kilometer östlich von Krakau, vor der Grenze zur Ukraine, liegt die Stadt Przemysl. Geographisch betrachtet, ist Przemysl die Mitte Europas. Aber das interessiert hier keinen. Außerdem gibt es mehrere Städte, die gern die Mitte sein möchten, und vielleicht war Przemysl nie der seriöseste Anwärter. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts beschrieb der galizische Schriftsteller Karl Emil Franzos, der Wiederentdecker Georg Büchners, die Welt, die hinter Przemysl begann, und nannte sie Halbasien. Halb Europa, halb Asien, ein Ort, auf dem die europäische Zivilisation nur ein dünner Firnis ist.

"Als ich aber dorthin komme", berichtet Richard Swartz in einem von achtzehn Korrespondentenstücken, aus denen der Band "Room Service" komponiert ist, "stellt sich heraus, daß Przemysl nicht mehr in der Mitte Europas liegt, sondern an seinem Rande, dort, wo Europa endet. Oder wo Europa beginnt, je nachdem, wie man es betrachtet, und es dauert nicht einmal drei Tage, bis ich mich davon überzeugt habe." Zwölf Seiten hat der Bericht, und sie reichen aus, um Przemysl als Weltzustand zu beschreiben. Zwölf Seiten: Literatur? Reportage? Poesie?

Die Literatur, so scheint es, hat die Wirklichkeit verloren. Sie hat sich immer mehr zur nur noch literarischen Literatur entwickelt, die sich zu etwas Höherem stilisiert und die Welthaltigkeit wie Ballast abwirft, um weiter steigen zu können. Im Journalismus ist unterdessen ein neues Genre herangewachsen. Es füllt das von der Literatur hinterlassene Vakuum und erweist sich ihr oft genug als überlegen. Bruce Chatwin ist ein Beispiel für diesen Sieg des Journalismus über die Dichtung. Und er wußte, was er tat, als er in seinen Reisebericht aus Patagonien Erzählfiguren wie aus den großen Epen aufnahm und so demonstrierte, welche Literatur die Reportage zu beerben gedenkt. Manche seiner Werke werden rezipiert wie Gedichte.

Ryszard Kapuscinski ist ein weiteres Beispiel. Und jetzt auch der Schwede Richard Swartz, der in Prag studiert hat, in Wien lebt und seit fünfundzwanzig Jahren für die konservative Stockholmer Tageszeitung "Svenska Dagbladet" aus den osteuropäischen Ländern berichtet.

Nach 1989 wurde nachgeholt, was im sowjetischen Imperium nie aufgeschrieben wurde. Nicht ohne sentimentale Beflissenheit besuchten Kulturjournalisten die Heimat von Joseph Roth, fanden den letzten Überlebenden von Lemberg oder trachteten Czernowitz freizulegen, so wie es Paul Celan mit eigenen Augen gesehen hatte. Gewiß, solche Reportagen gibt es auch heute noch. Aber das Genre der authentischen Berichte von der Mitte, die ostwärts liegen sollte, hat an Glanz, an Größe und an Wehmut verloren. Richard Swartz aber war schon da, lange bevor der Osten wiederentdeckt wurde, und wenn er in dieser Weltgegend bleibt und immer weiter berichtet, so ist dies ein ungewöhnlicher Fall von Treue.

Kurz vor dem Besuch des Journalisten war der Papst in Przemysl. Seinetwegen wurden die Parolen an den Hauswänden mit weißer Farbe übertüncht. "Polen den Polen" hatte dort gestanden, "Ins Gas mit den Ukrainern", "Tod den Zigeunern" auf polnisch, "Kastriert die Polen" auf ukrainisch und was dergleichen Bosheiten noch mehr sein mochten. "Der Haß bleibt ihrer eigenen Welt vorbehalten. Er gilt nur dem Nachbarn." Jetzt tragen die Häuser aufgemalte weiße Flecken und gleichen scheckigen Hunden. Nur im Tunnel unter den Bahnsteigen sind die Haßworte nicht überpinselt. "Vielleicht, weil man sich einen Papst in der Unterwelt nicht vorstellen kann." Der Bahnhof ist jetzt das wichtigste Gebäude in dieser Stadt. Anfang und Ende Europas sind eng an ihn gebunden. "Wer noch nie hier war, nennt das Treiben auf dem Russenmarkt von Przemysl Marktwirtschaft, aber von den Händlern, die in Przemysl hauptberuflich vom Schachern und Feilschen leben, ist noch keiner, sei es ein Pole oder jemand von der anderen Seite der Grenze, vermögend geworden oder gar Unternehmer großen Stils." Dabei geht es um die banalsten Dinge.

Um einen Taschenrechner, einen Ballen Schnur, einen Kinderwagen oder ein paar Dosen Bier. "Wenn die Bierdosen ausgetrunken sind, werden sie als Dekoration in kleinen Pyramiden auf den Fernseher gestellt." Freiheit, so scheint es, bedeutet für die Völker Osteuropas den garantierten Konsum. Mancher ist da enttäuscht.

Beflügelt vom Pathos der mitteleuropäischen Geschichte, hätte Richard Swartz eine literarische Reportage schreiben können. Dann wäre von der großen Festung Przemysl die Rede gewesen, die Kasimir III. im vierzehnten Jahrhundert zum Königsschloß ausbaute, vom barocken Dom oder von der österreichischen Garnisonsstadt. Nichts von alledem. Sein Bericht enthält kaum Daten, wenig geographische Angaben und schon gar keine Namen. Die Festung ist eine alte Ansichtskarte, auf der die Farben verlaufen sind, und die Geschichte kulminiert in einem kleinen, fast privaten Erlebnis. Der Reporter lernt eine Gruppe von Ukrainern kennen, die in ihrem Bus übernachtet haben und auf dem Parkplatz das Auto des Besuchers aus dem Westen entdecken. "Es gibt ein Schweigen, das nicht erholsam ist, sondern eher peinlich, und um mich gegen dieses ukrainische Schweigen zu wehren, frage ich den Busfahrer, ob er mit meinem Auto eine Probefahrt machen will." Die beiden drehen zwei langsame Runden auf dem knirschenden Kies, der Busfahrer ist glücklich und bietet dem Reporter einen gebrauchten, aber funktionstüchtigen Kühlschrank zum Kauf an. "Als ich ablehne, zeigt er keine Enttäuschung; Armut kann sich keine Enttäuschung leisten, und dort, wo er herkommt, hat die Armut nie aufgehört."

Hans Magnus Enzensberger hat Richard Swartz für den deutschen Sprachraum entdeckt. "Room Service" erschien in der "Anderen Bibliothek", bevor die Originaltexte in Schweden veröffentlicht wurden. Auch in Schweden ist Richard Swartz als Schriftsteller ein Debütant. Aber daß er über ein großes literarisches Talent verfügt, ist an seinen Artikeln für "Svenska Dagbladet" nicht immer aufgefallen. "Wie es wirklich war", heißt es im Vorwort, wolle er berichten, "auch wenn es nicht die volle Wahrheit ist". Tue er es nicht, werde man irgendwann zwischen der Geschichte und den Gespenstern nicht mehr unterscheiden können. Aber was ist daran so schlimm?

Tatsächlich fragt sich der Leser, was den Reporter zur literarischen Form getrieben hat, und die Kritik tut sich schwer, seine Prosa einer Gattung zuzuordnen. An seinen Stücken, die zwar die Form von Reportagen haben, aber unscheinbare und private Dinge vortragen, ist der Geist der Tageszeitung noch erkennbar. Doch während dort die Nuancen verwischt werden müssen, weil viele Dinge gleichzeitig ein Ereignis sein wollen, steht bei Richard Swartz eine Aufmerksamkeit für das einzelne. Sie geht nicht in Pathos auf.

Richard Swartz ist ein Schriftsteller, der sich das Erfinden erspart. Und dort, wo er erfindet, ist es doch so, daß alles genauso hätte sein können. Sollte es in der Literaturgeschichte ein Modell für diese Art des Schreibens geben, so wäre Franz Kafka zu nennen - nicht wegen der banalen Verbindung von Kafka und Prag und nicht um der metaphysischen Echos willen, auf die Kafkas dichterisches Werk gern abgeklopft wird. Vielmehr wegen der Tagebücher, in denen Kafka die "Nachahmung von Details" versucht: Stücke, die, so phantastisch sie sind, immer von der Übermacht des Faktischen zeugen.

Der Schriftsteller löst alle Distanz zu den Dingen auf. Der Band beginnt mit drei Stücken aus Prag. Im ersten, offensichtlich eine Reminiszenz an die eigene Studienzeit, wird vom Dozenten Klíma erzählt. Von ihm kann man lernen, daß "eine Arbeit durchaus keine Arbeit zu sein braucht, sondern nur so aussehen muß und daß diese nicht ausgeführte Arbeit oft als allerbeste gilt, obwohl sie im Grunde nur Schein ist". Im zweiten macht der Erzähler die Bekanntschaft von Doktor Burian und wird zu einer adligen Gesellschaft geladen, die mitten in einem kommunistischen Staat überwintert und für die ihm sowohl die Kenntnisse im Bridge-Spiel als auch die des Gotha fehlen - "ich als Gesandter von Ignorantia und er selbst als Statthalter der Vereinigten Königreiche der Großen Leiden". Im dritten schließlich geht es um den Direktor eines Eisen- und Stahlkombinats, der nach dem August 1968 eine Stelle als Nachtportier annehmen muß und einmal für ein paar Stunden verhaftet wird. An nichts, meint der Erzähler, könne er sich aus seiner Zeit in Prag besser erinnern als an die Szene jener Verhaftung. Obwohl er nicht dabeigewesen sei: "Wie nachts zwei Männer einen dritten abführen. Einen kleinen korpulenten Mann in Uniform mit weißen Handschuhen, durch vieles Waschen vergilbt und an den Nähten aufgeplatzt." So ist es immer in diesen Geschichten: Wenn man die Auflösung der Anekdote in ihre Moral erwartet, kommt eine Beobachtung. Am Ende bleibt ein Bild.

In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren gab es Gesandte, die zu Essayisten wurden. Timothy Garton Ash war ein Botschafter des Westens, der in den Kapitalen Osteuropas die Debatte führte. Und es gab Essayisten, die zu Gesandten wurden. György Konrád, in jener Zeit der Präsident des internationalen PEN, war der Botschafter Budapests in der ganzen Welt bis hin nach New York, und Karl Schlögel war György Konráds Botschafter in Berlin. Seit geraumer Zeit aber müssen die osteuropäischen Länder ohne diese Botschafter auskommen. Zumindest ist die Bedeutung der Botschaften, die von diesen Gesandten durch die Welt getragen wurden, geschrumpft. Es ist nicht ohne Ironie, wenn Richard Swartz vom Zigeunerkönig erzählt, den er in Siebenbürgen treffen möchte, der sich aber gerade in der Hauptstadt aufhält, um Michael Jackson kennenzulernen. Er findet ihn jetzt viel besser als die "Gipsy Kings", die er zu seinem Krönungsfest eingeladen habe. Aber die "Gipsy Kings" kamen nicht. Statt des Königs lernt Richard Swartz zunächst den Prinzen kennen. Der fängt eine Wespe im umgestülpten Wasserglas, während der Audienz liegt ein Autoradio auf dem Tisch, und eine staubige Piste trennt den Palast von der "King Gipsy Non Stop Snackbar", die dem König gehört. Einunddreißig Millionen Mark will der König von der Bundesrepublik, einunddreißig Millionen, die versprochen seien, damit seine Roma in Deutschland nicht Asyl begehren. Das Groteske, das Mißverhältnis zwischen dem Anspruch und den Mitteln, die zu seiner Einlösung erforderlich wären, wird beim Zigeunerkönig sofort erkennbar. Aber wie ist es mit einem Mitteleuropa, das eines Tages wieder von allen bewohnt werden sollte?

Vor fünf Jahren sprach Karl Schlögel davon, daß man die Umwälzung im östlichen und mittleren Europa auch beschreiben könne als die "Rückgewinnung der eigenen Sprache". Seither ist es schwierig geworden, sich auf so Großes zu berufen. Es wird kein "blocktranszendentes Mitteleuropa" geben, und auch die anderen mächtigen historischen Instanzen, für die man schreiben und an die man appellieren kann, sind klein und schemenhaft geworden. Statt dessen ist dieser geographische Raum heterogen geworden, noch mehr vielleicht, als er es je war. Jedes der Teile befindet sich im Überlebenskampf. Die großen, allgemeinen Anliegen sind von ihren ehemaligen Wortführern aufgegeben worden. Auch der Reporter, der eben noch ein Agent der Weltgeschichte war, muß sich jetzt unauffälliger machen.

Fortsetzung auf der folgenden Seite

Es gibt bei Richard Swartz eine große Scheu vor dem einzelnen: Es ist zwar von unzähligen Menschen die Rede, und viele tragen Namen und tun Dinge, die man auch im Westen kennt: Mircea Dinescu und Péter Nádas oder Mile Princip. Trotzdem sind sie alle unvergleichliche Wesen - so wie Ion Iliescu, der die besten Schuhe tragen soll, die der Reporter je auf dem Balkan gesehen hat. Handgenähte schwarze Brogues, tadellos geputzt. Ein Lügner sei dieser Mann, und die Lügen "hatten ihn eingespannt, weshalb es ihm am besten zu sein schien, sich zu ihnen zu bekennen und dadurch zu einem ehrlichen, aufrechten Menschen zu werden; hätte jemand das Gegenteil behauptet, wäre Iliescu empört gewesen, hätte den anderen einen Lügner genannt. Seine Schuhe faszinierten mich." Richard Swartz hat eine Form gefunden, auf persönliche Weise von etwas Anonymem zu berichten oder anonym von etwas Persönlichem.

Der Reporter ist ein verantwortungsloser Mensch. Er beruft sich auf seine Fremdheit. Das macht ihn hochmütig. "Ein Fremder wollte ich nicht sein. Es genügte mir nicht, diese Welt als Gast zu besuchen", bekennt Richard Swartz. "Meine Neugier erkannte keine Grenzen an, da ich überzeugt war, mich stets retten zu können mit einem Schritt zurück in meine eigene Welt. Aber so schuf ich mehr Verwirrung und weckte größere Erwartungen, als mir bewußt war. Erwartungen von Menschen, die sich selber retten wollten und in mir eine Möglichkeit dazu sahen. Ihre Selbstachtung gestattete ihnen jedoch nicht, nach mir zu greifen wie der Ertrinkende nach einem Rettungsring. Sie wollten keine Opfer, wollten nicht betteln, und so begegneten wir uns in der Liebe, ohne zu wissen, ob ich der Verführer war oder mein Paß." So vollendet sich die Verwirrung. Und es bleibt: der Mensch, der überleben muß.

So etwas lehrt keiner, der die nächste Neuigkeit vorbereitet. Dem Reporter ist der Gegenstand seiner Reportage ans Herz gewachsen, und das hat einen Widerstand gegen das Diktat des Ereignisses zur Folge. Wo in den modernen Medien die Distanzen von Raum und Zeit zusammenschnurren und eine Nachricht die andere jagt, schafft dieser Reporter neue Entfernungen und neue Abstände. Er wehrt sich gegen den Zwang zum Interessanten, gegen die Pflicht zur Abwechslung und damit auch gegen die Einhelligkeit, die das moderne Informationswesen voraussetzt.

Statt dessen tut sich ein Zwischenreich auf, die Grauzone zwischen Journalismus und Literatur. Das Ich, das eben noch ein Reporter war, muß sich nun plausibel machen. Es genügt nicht mehr zu sagen: "Ich war da" und sich auf die Techniken des Schreibens zu verlassen, die im literarischen Realismus entstanden sind und deren sich die Reportage seither bedient. Alles hängt nun von der Wahl eines Ausschnitts ab, von der Prägnanz, die gerade diese Szene liefern muß. Denn der Bericht des Reporters muß jetzt ein Doppeltes leisten: Er muß ein Dokument sein und zugleich eine allegorische Form haben. So entsteht politische Dichtung, die nach den Lebensverhältnissen fragt. Sie ist etwas ganz anderes als Dichtung, die politisch sein will. Das Assoziative ist dieser Literatur nicht fremd, auch die Techniken der Avantgarde sind es nicht. Wenn sich Richard Swartz in Transsylvanien mit einem Herrn im Trainingsanzug unterhält, wirkt das Gespräch, als führten es Wladimir und Estragon.

Im Vorwort erläutert Richard Swartz, er habe seine Berichte geschrieben, um zu verhindern, daß eines Tages jemand zu ihm sagt: "Das hast du alles nur geträumt." Diese Sorge ist begründet. Natürlich wird man sich auch noch in Zukunft an die großen politischen Ereignisse erinnern, und wahrscheinlich wird es auch noch genügend Stoff für die Alltagsgeschichte geben. Aber was ist mit dem, was uns heute als banal erscheint und doch den größten Teil der Erfahrung ausmacht? Vom Banalen ist unendlich schwer zu erzählen, und am Banalen erweist sich die Kunst dieses Berichterstatters. Er scheut das Fiktive nicht, um einer stummen Welt eine Botschaft zu entreißen. Banal ist der Monolog eines polnischen Mädchens, das mit einem verheirateten Deutschen eine Affäre hatte und zu Weihnachten ein Paket bekommt, das mit Werbegeschenken gefüllt ist. Banal ist die Enttäuschung dieses Mädchens, banal sind die Hoffnungen seiner Eltern. Banal auch die Rede eines alten rumänischen Juden, der den Autor belehrt: "Hätten wir zwei Köpfe bekommen, so wie manche Kälber, die man im Spiritus für Geld herzeigt, dann wüßten wir bestimmt, daß unsere anderen Körperteile viel wichtiger sind, wie die Füße, die werden immer unterschätzt." Die Erzählung ist ein moderner Anachronismus: Sie kommt auf der einen Seite daher wie etwas Vergangenes, Verlorenes, weil sie sich gegen das Diktat des Ereignisses wehrt. Und gleichzeitig ist sie modern, weil jedes Pathos zerstört wird.

Im deutschsprachigen Raum gab es viele Versuche, die literarische Reportage heimisch zu machen. Hans Magnus Enzensberger hat solche Versuche immer wieder gefördert. Sein Projekt einer Zeitschrift - das an der angelsächsischen Reportage orientierte Magazin "Transatlantik" - löste die Erwartungen nicht ein. Die Zeitschrift verschwand schließlich. Fragt man aber, wo und wann die Reportage gelingt, so bemerkt man, daß sie einen schiefen Blick voraussetzt, eine heimatliche Verbundenheit mit mehreren Ländern, oder den Blick eines weltläufigen Menschen, der aus einem Land an der Peripherie kommt. Die Reportage geht dort auf, wo es gemischte Loyalitäten gibt.

"Ich war da," ruft der Reporter, wenn er von einer seiner Expeditionen zurückkehrt. "Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen", berichtete Henry Morton Stanley, als er David Livingstone am Tanganjikasee traf. "Ich war da," rief Siegfried Kracauer, als er das unbekannte Innere der modernen Gesellschaft, die Welt der Angestellten, besucht hatte. "Ich war da", kann auch Richard Swartz sagen. Er sagt es merkwürdig leise, und er kehrt von seiner Reise nicht zurück wie ein Marco Polo. Die Reportagen von Richard Swartz sind Berichte von der unendlichen Tücke des Objekts. Nichts, lehrt er, wird so sein, wie man es erwartet, und man muß viel hellhöriger sein, als man das in Paris zu sein scheint. In achtzehn Reportagen berichtet er von der Ungewißheit im Inneren der Welt. Eine jede ist ein Sieg der Literatur im Journalismus.

Richard Swartz: "Room Service". Geschichten aus Europas Nahem Osten. Aus dem Schwedischen übersetzt von Jörg Scherzer. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1996 (Die Andere Bibliothek, Band 142). 372 S., geb., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr