Rosa Luxemburg, 1871 im russischen Teil Polens geboren, gehörte vielen Minderheiten an. Sie kam aus einem jüdischen Elternhaus, perfektionierte erst während ihres Studiums in Zürich die deutsche Sprache, fand mithilfe einer Scheinehe in Deutschland ihre politische Heimat, war auf SPD-Parteitagen die einzige Frau mit einem Doktortitel und engagierte sich als rastlose Kämpferin für die europäische Arbeiterbewegung in nicht weniger als sieben verschiedenen sozialistischen Parteien.
Luxemburg war die bedeutendste marxistische Denkerin ihrer Zeit. Sie kämpfte für die Diktatur des Proletariats, aber zugleich gegen den autoritären Zentralismus Lenins, weshalb sie auch die Gründung der Kommunistischen Internationale ablehnte. Ihre Revolutionstheorie, ihr Freiheitsbegriff und ihr unbedingter Internationalismus ließen sie zur Ikone des weltweiten Protests der 1968er-Bewegung werden. Ihr berühmter Satz «Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden» wurde eine Parole der Bürgerrechtler in der untergehenden DDR. In ihrer Gedanken- und Ideenwelt ist vieles zu finden, was auch heute, in einer Zeit des wieder erwachenden Nationalismus, anregend und wichtig ist.
Luxemburg war die bedeutendste marxistische Denkerin ihrer Zeit. Sie kämpfte für die Diktatur des Proletariats, aber zugleich gegen den autoritären Zentralismus Lenins, weshalb sie auch die Gründung der Kommunistischen Internationale ablehnte. Ihre Revolutionstheorie, ihr Freiheitsbegriff und ihr unbedingter Internationalismus ließen sie zur Ikone des weltweiten Protests der 1968er-Bewegung werden. Ihr berühmter Satz «Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden» wurde eine Parole der Bürgerrechtler in der untergehenden DDR. In ihrer Gedanken- und Ideenwelt ist vieles zu finden, was auch heute, in einer Zeit des wieder erwachenden Nationalismus, anregend und wichtig ist.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.01.2019Die Ruhestörerin
Zu Rosa Luxemburgs 100. Todestag
legt der Historiker Ernst Piper eine exzellent
erzählte und dokumentierte Biografie vor
VON RAINER STEPHAN
Wie oft kann man einen Menschen um sein Leben bringen? 1931 brandmarkte Josef Stalin die zwölf Jahre zuvor, am 15. Januar 1919, von deutschen Soldaten umgebrachte Rosa Luxemburg wegen ihres Konzepts der „permanenten Revolution“ als Feindin des einzig wahren, nämlich des sowjetischen Kommunismus. Damit, schreibt der Historiker Ernst Piper in seiner jetzt vorgelegten Biografie, habe Stalin Rosa Luxemburg „zum zweiten Mal ermordet“.
Piper meint das wörtlich. Der zweite Mord besteht nicht in der berechtigten Vermutung, dass Rosa Luxemburg den Großen Terror in der Sowjetunion nicht überlebt hätte; er besteht in Stalins Satz. Es kommt auf die Sprache an. Auch die dumpf fanatisierten Soldaten der Berliner Garde-Kavallerie-Schützen-Division, die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Anführer der aus der SPD ausgeschlossenen „Spartakusgruppe“ und Gründer der KPD, ermordeten, führten nur aus, was andere gesagt hatten. Als die im November 1918 gebildete Regierung unter der Führung Friedrich Eberts (SPD) nach dem sogenannten Januar-Aufstand 1919 beschloss, mit Waffengewalt gegen die vermeintlichen Rädelsführer vorzugehen, sagte der Militärbeauftragte Gustav Noske: „Einer muss der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!“ Der Satz hätte in die zu jener Zeit entstehende dramatische Montage von Reden und Zeitungsartikeln gepasst, mit der Karl Kraus vorführte, dass und wie Sprache tötet. Das Stück heißt: „Die letzten Tage der Menschheit“.
In Wahrheit dachten die Spartakisten damals nicht an einen Putsch. Rosa Luxemburg, die immer die Ansicht vertreten hatte, eine Revolution könne man nicht „machen“, sie passiere einfach, lehnte ihn sogar dezidiert ab. Dennoch hingen wenig später in ganz Berlin rote Plakate, auf denen zu lesen stand: „Arbeiter, Bürger! Das Vaterland ist dem Untergang nahe. Es wird nicht von außen bedroht, sondern von innen. Von der Spartakusgruppe. Schlagt ihre Führer tot!“
47 Jahre alt ist die im polnischen Zamość als Tochter eines begüterten jüdischen Holzhändlers geborene Rosa Luxemburg geworden. Ein Hüftleiden fesselte sie als kleines Mädchen für ein ganzes Jahr ans Bett. Auch darum las und schrieb sie unentwegt, und spätestens mit 13 war ihr klar, wogegen sie fortan vor allem anschreiben würde: gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Natürlich muss so eine Sozialistin werden, und da Sozialisten im vom zaristischen Russland kontrollierten Polen hart verfolgt werden, schloss sie sich bereits als Gymnasiastin einer marxistischen Untergrundorganisation an. Ihr Biograf Piper zeichnet das sorgfältig und – in seltenen Glücksfällen gibt es so etwas – mit objektiver Empathie nach. Mit 17 machte Rosa als Klassenbeste das Abitur; kurz darauf floh sie vor der russischen Geheimpolizei nach Zürich und beginnt dort ihr Studium.
Studium in der Schweiz? Als Frau? Als Marxistin? Ja. Ausgerechnet die Schweiz hatte bereits 1840 Frauen zum Universitätsstudium zugelassen, anders als Deutschland und Österreich, wo das erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts geschah. Und: In Schweizer Universitätsstädten, so der ebenfalls dort studierende Chaim Weizmann, der 1949 Israels erster Staatspräsident wurde, trafen sich damals „die revolutionären Kräfte aus ganz Europa“.
„Freiheit“, lautet Rosa Luxemburgs meistzitierter Satz, „ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ Piper dokumentiert, dass und wie dieses Prinzip – durchaus anders als im heutigen, am Gängelband von Effizienz- und Exzellenz-Planern hängenden Bildungssystem – damals auch für die Universitäten galt. Rosa Luxemburgs Zürcher Doktorvater Julius Wolf war ein erklärter Gegner des Marxismus; er plädierte, so Ernst Piper, „für eine staatliche Sozialpolitik, um der revolutionären Sozialdemokratie das Wasser abzugraben“. Was passiert, wenn eine glühende Marxistin so jemandem eine Dissertation über die industrielle Entwicklung Polens vorlegt? „Der Arbeit“, urteilt Wolf, „ist nachzurühmen volle Beherrschung des Gegenstandes, große Sorgfalt, großer Scharfsinn.“ Sie „legt Zeugnis ab ebenso von theoretischer Begabung wie von praktischem Blick“. Zwar: „Die Verfasserin ist Sozialistin und steht zu der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung.“ Aber: „Das tut der Tüchtigkeit der Leistung keinen Abbruch, welche weit darüber hinausgeht, was von einer Dissertation gefordert werden muss.“
Schreiben und schreibend denken lässt sich, möglicherweise, lernen. Verlernen lässt es sich nicht. Rosa Luxemburg hat eine schier unüberschaubare Menge von Büchern, Aufsätzen, Zeitungsartikeln und Briefen verfasst. Es ist mehr als bewundernswert, wie viele dieser Texte Piper in seiner Biografie nicht nur zitiert, sondern auch erläutert und in ihren jeweiligen Kontext einordnet: Weiterentwicklungen der marxistischen Theorie, Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Parteien und Funktionären, aber auch anrührend heftige Liebeserklärungen an ihren Jugendfreund und Kampfgenossen Leo Jogiches (aus dessen privat wie politisch ziemlich kontrollsüchtiger Verfügungsgewalt sie sich nur unter großen Mühen befreite), an den heiß geliebten, 15 Jahre jüngeren Kostja Zetkin, den Sohn ihrer Freundin Clara Zetkin, oder an Paul Levi, der sie in vielen Strafverfahren verteidigte und zugleich die letzte große Liebe ihres Lebens war. Und auch wenn selbstverständlich nicht allen Texten die gleiche Bedeutung zukommt, so bestätigen doch so gut wie alle das zitierte Urteil ihres Doktorvaters.
Der Öffentlichkeit ist Rosa Luxemburg in erster Linie durch ihre Reden bekannt, ja zur Berühmtheit geworden. Sie hatte, staunte sogar das bürgerlich-liberale Hamburger Abendblatt, „etwas Faszinierendes in ihrem Wesen, sie verfügt über eine zündende Beredsamkeit, sie versteht es, für jede ihrer Ausführungen selbst dem nicht sozialistischen Zuhörer das regste Interesse einzuflößen, und gerade gestern wurde es dem rein objektiven Zuhörer klar, dass es einer Frau wie ihr gelingen muss, die Arbeitermassen mit sich fortzureißen“.
Kein Wunder also, dass die SPD als damals mit Abstand größte sozialistische Partei Europas Rosa Luxemburg sofort für sich einspannte, nachdem diese – nicht zuletzt wegen der SPD – durch eine Scheinehe die preußische Staatsbürgerschaft erworben hatte und nach Berlin umgezogen war. Die beiden großen Männer der Partei, der Vorsitzende August Bebel und der Cheftheoretiker Karl Kautsky hielten zwar, jedenfalls bis zur endgültigen Selbstdemontage der SPD 1914, stets loyal zu ihr, auch wenn sie sich oft kompromissbereiter als ihre scharfzüngige Freundin gaben. Doch schnell bekam die mit ihren zunehmenden Wahlerfolgen immer behäbiger und bürokratischer gewordene SPD (Piper redet bündig und, schlimmer, bis heute kaum widerlegbar von „bürokratischer Sklerose“) zu spüren, welch kritischen Geist sie da in ihre Reihen aufgenommen hatte.
Ausführlich verfolgt Piper, wie sich Rosa Luxemburgs Grundpositionen bereits in ihrer polnischen Untergrundarbeit bildeten und sich dann weiterentwickelten – in ständiger Auseinandersetzung mit selbstgenügsamen, um ihre bürgerliche Anerkennung wie um ihre Privilegien als Abgeordnete oder Inhaber von Parteiämtern besorgten SPD-Funktionären auf der einen und mit doktrinären Bolschewisten auf der anderen Seite. Diese Grundpositionen waren Verstaatlichung von Produktionsmitteln, Bildung von Genossenschaften, Trennung von Kirche und Staat, kostenlose Schulbildung. Wobei sie unter Bildung immer humanistische Bildung verstand; die „Internationale“ sang sie so gerne wie Arien aus Mozarts „Figaro“ oder die Lieder des Romantikers Hugo Wolf, und weil sie das alles schön durcheinander und laut und sogar nachts auf der Straße sang, blieb sie auch dabei, was sie immer war: Eine große Ruhestörerin.
Dennoch: Wo sie ihre Zeitgenossen nervte, geschah das nahezu in aller Unschuld. Sie war das Gegenteil einer Krampfhenne, sie glühte nur für ihre Ziele, und sie glaubte zu wissen, wie sie durchzusetzen waren: durch Demonstrationen, Steuerverweigerungen und Streiks. Vor allem die Überzeugung vom spontanen Massenstreik als wirksamstem politischen Instrument brachte sie immer heftiger in Konflikt mit etablierten Sozialdemokraten und um ihre Kontrolle fürchtende Gewerkschaftler. Individuellen Terror dagegen lehnte sie bis zuletzt vehement ab.
Rosa Luxemburg glaubte, und das war zu ihrer Zeit noch nicht verkehrt, an das Proletariat als Subjekt der Geschichte. Dass das Proletariat als internationale Interessengemeinschaft agieren müsse, erschien ihr selbstverständlich. Und so kämpfte sie, prononcierter als auch die meisten Sozialisten ihrer Zeit, gegen jeden Nationalismus – gleich ob der als Tarnung unternehmerischer Interessen erschien oder, in seiner aggressiven Form, als Ventil unzufriedener Zeitgenossen, die nicht imstande waren, sich über die wahren Ursachen ihrer Unzufriedenheit aufzuklären. Mit der patriotisch motivierten (oder nur maskierten) Bewilligung der Kriegskredite 1914 hat die SPD Rosa Luxemburgs Urteil über den Nationalismus auf eine Art bestätigt, die sie selbst nicht für möglich gehalten hätte. Sie dachte damals an Selbstmord, hat dann aber weiter und erbitterter denn je gegen den Nationalismuswahn gekämpft – eine Haltung, die es leicht machte, sie während des Kriegs für drei Jahre einzusperren und sie am Ende als Vaterlandsverräterin oder, wahlweise, als jüdische Agentin für vogelfrei zu erklären.
War Rosa Luxemburgs politisches Programm schon zu ihrer Zeit illusorisch, wie viele, auch viele Sozialdemokraten, behaupten? Piper sieht das anhand ihrer Auseinandersetzung mit Lenin differenzierter: „Rosa Luxemburg ist der lebendige Beweis dafür, dass ein Marxismus jenseits des Leninismus möglich ist. Wo Lenin Kontrolle verlangte, wollte sie Spontaneität, ohne dass deswegen ihre Erwiderung ein Plädoyer für Desorganisation war.“
Erst recht zu leicht macht es sich, wer Rosa Luxemburg als leidenschaftliche Kämpferin, scharfäugige Kassandra und/oder hochsensible Idealistin preist, aber ihre Dauerauseinandersetzung mit der SPD für historisch nicht mehr relevant erklärt. An den historischen Kontext gebunden sind lediglich die Themen, keineswegs aber die Struktur dieser Auseinandersetzung. Die war schon damals geprägt von der panischen Angst der SPD, man könne sie für sozialistisch halten. Dass heute kein industrielles Proletariat mehr existiert, dass der globale Finanzkapitalismus sich nicht mit Massenstreiks bändigen lässt, ist sicher richtig.
Aber ist die SPD deswegen heute weniger kleinmütig, als sie es 1914 war? Ist sie heute eine linke Partei, eine, die entschieden auf der Seite derer agiert, die von diesem Kapitalismus bedroht sind?
Man kann Rosa Luxemburgs Biografie, wie Piper sie exzellent erzählt und dokumentiert, auch als ein entscheidendes Stück Geschichte der SPD lesen. Warum sie keine Volkspartei mehr ist, warum sie sich mittlerweile dagegen wehren muss, in die Bedeutungslosigkeit abzusinken: Rosa Luxemburg, die nie aus der SPD austreten wollte, hätte es womöglich erklären können.
„Einer Frau wie ihr muss es
gelingen, die Arbeitermassen
mit sich fortzureißen.“
Man kann die Biografie
auch als ein entscheidendes
Stück Geschichte der SPD lesen
Ernst Piper:
Rosa Luxemburg.
Ein Leben. Karl Blessing Verlag, München 2018. 832 Seiten, 32 Euro.
E-Book: 27,99 Euro.
Ungeliebte Geschichte. Die Tafel mit der Aufschrift: „In diesem Haus
wurde im Jahr 1871 Rosa Luxemburg geboren, die herausragende Aktivistin
der internationalen Arbeiterbewegung. Zamość 1979“ wurde im März 2018
vom vermeintlichen Geburtshaus (unten) in Polen entfernt.
Fotos: picture-alliance / schroewig, Nowy Kurier Zamojski
Freundinnen des Marxismus: Rosa Luxemburg (rechts) und Clara Zetkin bei einem Spaziergang im Jahr 1910.
Foto: S.M./SZ Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zu Rosa Luxemburgs 100. Todestag
legt der Historiker Ernst Piper eine exzellent
erzählte und dokumentierte Biografie vor
VON RAINER STEPHAN
Wie oft kann man einen Menschen um sein Leben bringen? 1931 brandmarkte Josef Stalin die zwölf Jahre zuvor, am 15. Januar 1919, von deutschen Soldaten umgebrachte Rosa Luxemburg wegen ihres Konzepts der „permanenten Revolution“ als Feindin des einzig wahren, nämlich des sowjetischen Kommunismus. Damit, schreibt der Historiker Ernst Piper in seiner jetzt vorgelegten Biografie, habe Stalin Rosa Luxemburg „zum zweiten Mal ermordet“.
Piper meint das wörtlich. Der zweite Mord besteht nicht in der berechtigten Vermutung, dass Rosa Luxemburg den Großen Terror in der Sowjetunion nicht überlebt hätte; er besteht in Stalins Satz. Es kommt auf die Sprache an. Auch die dumpf fanatisierten Soldaten der Berliner Garde-Kavallerie-Schützen-Division, die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Anführer der aus der SPD ausgeschlossenen „Spartakusgruppe“ und Gründer der KPD, ermordeten, führten nur aus, was andere gesagt hatten. Als die im November 1918 gebildete Regierung unter der Führung Friedrich Eberts (SPD) nach dem sogenannten Januar-Aufstand 1919 beschloss, mit Waffengewalt gegen die vermeintlichen Rädelsführer vorzugehen, sagte der Militärbeauftragte Gustav Noske: „Einer muss der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!“ Der Satz hätte in die zu jener Zeit entstehende dramatische Montage von Reden und Zeitungsartikeln gepasst, mit der Karl Kraus vorführte, dass und wie Sprache tötet. Das Stück heißt: „Die letzten Tage der Menschheit“.
In Wahrheit dachten die Spartakisten damals nicht an einen Putsch. Rosa Luxemburg, die immer die Ansicht vertreten hatte, eine Revolution könne man nicht „machen“, sie passiere einfach, lehnte ihn sogar dezidiert ab. Dennoch hingen wenig später in ganz Berlin rote Plakate, auf denen zu lesen stand: „Arbeiter, Bürger! Das Vaterland ist dem Untergang nahe. Es wird nicht von außen bedroht, sondern von innen. Von der Spartakusgruppe. Schlagt ihre Führer tot!“
47 Jahre alt ist die im polnischen Zamość als Tochter eines begüterten jüdischen Holzhändlers geborene Rosa Luxemburg geworden. Ein Hüftleiden fesselte sie als kleines Mädchen für ein ganzes Jahr ans Bett. Auch darum las und schrieb sie unentwegt, und spätestens mit 13 war ihr klar, wogegen sie fortan vor allem anschreiben würde: gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Natürlich muss so eine Sozialistin werden, und da Sozialisten im vom zaristischen Russland kontrollierten Polen hart verfolgt werden, schloss sie sich bereits als Gymnasiastin einer marxistischen Untergrundorganisation an. Ihr Biograf Piper zeichnet das sorgfältig und – in seltenen Glücksfällen gibt es so etwas – mit objektiver Empathie nach. Mit 17 machte Rosa als Klassenbeste das Abitur; kurz darauf floh sie vor der russischen Geheimpolizei nach Zürich und beginnt dort ihr Studium.
Studium in der Schweiz? Als Frau? Als Marxistin? Ja. Ausgerechnet die Schweiz hatte bereits 1840 Frauen zum Universitätsstudium zugelassen, anders als Deutschland und Österreich, wo das erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts geschah. Und: In Schweizer Universitätsstädten, so der ebenfalls dort studierende Chaim Weizmann, der 1949 Israels erster Staatspräsident wurde, trafen sich damals „die revolutionären Kräfte aus ganz Europa“.
„Freiheit“, lautet Rosa Luxemburgs meistzitierter Satz, „ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ Piper dokumentiert, dass und wie dieses Prinzip – durchaus anders als im heutigen, am Gängelband von Effizienz- und Exzellenz-Planern hängenden Bildungssystem – damals auch für die Universitäten galt. Rosa Luxemburgs Zürcher Doktorvater Julius Wolf war ein erklärter Gegner des Marxismus; er plädierte, so Ernst Piper, „für eine staatliche Sozialpolitik, um der revolutionären Sozialdemokratie das Wasser abzugraben“. Was passiert, wenn eine glühende Marxistin so jemandem eine Dissertation über die industrielle Entwicklung Polens vorlegt? „Der Arbeit“, urteilt Wolf, „ist nachzurühmen volle Beherrschung des Gegenstandes, große Sorgfalt, großer Scharfsinn.“ Sie „legt Zeugnis ab ebenso von theoretischer Begabung wie von praktischem Blick“. Zwar: „Die Verfasserin ist Sozialistin und steht zu der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung.“ Aber: „Das tut der Tüchtigkeit der Leistung keinen Abbruch, welche weit darüber hinausgeht, was von einer Dissertation gefordert werden muss.“
Schreiben und schreibend denken lässt sich, möglicherweise, lernen. Verlernen lässt es sich nicht. Rosa Luxemburg hat eine schier unüberschaubare Menge von Büchern, Aufsätzen, Zeitungsartikeln und Briefen verfasst. Es ist mehr als bewundernswert, wie viele dieser Texte Piper in seiner Biografie nicht nur zitiert, sondern auch erläutert und in ihren jeweiligen Kontext einordnet: Weiterentwicklungen der marxistischen Theorie, Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Parteien und Funktionären, aber auch anrührend heftige Liebeserklärungen an ihren Jugendfreund und Kampfgenossen Leo Jogiches (aus dessen privat wie politisch ziemlich kontrollsüchtiger Verfügungsgewalt sie sich nur unter großen Mühen befreite), an den heiß geliebten, 15 Jahre jüngeren Kostja Zetkin, den Sohn ihrer Freundin Clara Zetkin, oder an Paul Levi, der sie in vielen Strafverfahren verteidigte und zugleich die letzte große Liebe ihres Lebens war. Und auch wenn selbstverständlich nicht allen Texten die gleiche Bedeutung zukommt, so bestätigen doch so gut wie alle das zitierte Urteil ihres Doktorvaters.
Der Öffentlichkeit ist Rosa Luxemburg in erster Linie durch ihre Reden bekannt, ja zur Berühmtheit geworden. Sie hatte, staunte sogar das bürgerlich-liberale Hamburger Abendblatt, „etwas Faszinierendes in ihrem Wesen, sie verfügt über eine zündende Beredsamkeit, sie versteht es, für jede ihrer Ausführungen selbst dem nicht sozialistischen Zuhörer das regste Interesse einzuflößen, und gerade gestern wurde es dem rein objektiven Zuhörer klar, dass es einer Frau wie ihr gelingen muss, die Arbeitermassen mit sich fortzureißen“.
Kein Wunder also, dass die SPD als damals mit Abstand größte sozialistische Partei Europas Rosa Luxemburg sofort für sich einspannte, nachdem diese – nicht zuletzt wegen der SPD – durch eine Scheinehe die preußische Staatsbürgerschaft erworben hatte und nach Berlin umgezogen war. Die beiden großen Männer der Partei, der Vorsitzende August Bebel und der Cheftheoretiker Karl Kautsky hielten zwar, jedenfalls bis zur endgültigen Selbstdemontage der SPD 1914, stets loyal zu ihr, auch wenn sie sich oft kompromissbereiter als ihre scharfzüngige Freundin gaben. Doch schnell bekam die mit ihren zunehmenden Wahlerfolgen immer behäbiger und bürokratischer gewordene SPD (Piper redet bündig und, schlimmer, bis heute kaum widerlegbar von „bürokratischer Sklerose“) zu spüren, welch kritischen Geist sie da in ihre Reihen aufgenommen hatte.
Ausführlich verfolgt Piper, wie sich Rosa Luxemburgs Grundpositionen bereits in ihrer polnischen Untergrundarbeit bildeten und sich dann weiterentwickelten – in ständiger Auseinandersetzung mit selbstgenügsamen, um ihre bürgerliche Anerkennung wie um ihre Privilegien als Abgeordnete oder Inhaber von Parteiämtern besorgten SPD-Funktionären auf der einen und mit doktrinären Bolschewisten auf der anderen Seite. Diese Grundpositionen waren Verstaatlichung von Produktionsmitteln, Bildung von Genossenschaften, Trennung von Kirche und Staat, kostenlose Schulbildung. Wobei sie unter Bildung immer humanistische Bildung verstand; die „Internationale“ sang sie so gerne wie Arien aus Mozarts „Figaro“ oder die Lieder des Romantikers Hugo Wolf, und weil sie das alles schön durcheinander und laut und sogar nachts auf der Straße sang, blieb sie auch dabei, was sie immer war: Eine große Ruhestörerin.
Dennoch: Wo sie ihre Zeitgenossen nervte, geschah das nahezu in aller Unschuld. Sie war das Gegenteil einer Krampfhenne, sie glühte nur für ihre Ziele, und sie glaubte zu wissen, wie sie durchzusetzen waren: durch Demonstrationen, Steuerverweigerungen und Streiks. Vor allem die Überzeugung vom spontanen Massenstreik als wirksamstem politischen Instrument brachte sie immer heftiger in Konflikt mit etablierten Sozialdemokraten und um ihre Kontrolle fürchtende Gewerkschaftler. Individuellen Terror dagegen lehnte sie bis zuletzt vehement ab.
Rosa Luxemburg glaubte, und das war zu ihrer Zeit noch nicht verkehrt, an das Proletariat als Subjekt der Geschichte. Dass das Proletariat als internationale Interessengemeinschaft agieren müsse, erschien ihr selbstverständlich. Und so kämpfte sie, prononcierter als auch die meisten Sozialisten ihrer Zeit, gegen jeden Nationalismus – gleich ob der als Tarnung unternehmerischer Interessen erschien oder, in seiner aggressiven Form, als Ventil unzufriedener Zeitgenossen, die nicht imstande waren, sich über die wahren Ursachen ihrer Unzufriedenheit aufzuklären. Mit der patriotisch motivierten (oder nur maskierten) Bewilligung der Kriegskredite 1914 hat die SPD Rosa Luxemburgs Urteil über den Nationalismus auf eine Art bestätigt, die sie selbst nicht für möglich gehalten hätte. Sie dachte damals an Selbstmord, hat dann aber weiter und erbitterter denn je gegen den Nationalismuswahn gekämpft – eine Haltung, die es leicht machte, sie während des Kriegs für drei Jahre einzusperren und sie am Ende als Vaterlandsverräterin oder, wahlweise, als jüdische Agentin für vogelfrei zu erklären.
War Rosa Luxemburgs politisches Programm schon zu ihrer Zeit illusorisch, wie viele, auch viele Sozialdemokraten, behaupten? Piper sieht das anhand ihrer Auseinandersetzung mit Lenin differenzierter: „Rosa Luxemburg ist der lebendige Beweis dafür, dass ein Marxismus jenseits des Leninismus möglich ist. Wo Lenin Kontrolle verlangte, wollte sie Spontaneität, ohne dass deswegen ihre Erwiderung ein Plädoyer für Desorganisation war.“
Erst recht zu leicht macht es sich, wer Rosa Luxemburg als leidenschaftliche Kämpferin, scharfäugige Kassandra und/oder hochsensible Idealistin preist, aber ihre Dauerauseinandersetzung mit der SPD für historisch nicht mehr relevant erklärt. An den historischen Kontext gebunden sind lediglich die Themen, keineswegs aber die Struktur dieser Auseinandersetzung. Die war schon damals geprägt von der panischen Angst der SPD, man könne sie für sozialistisch halten. Dass heute kein industrielles Proletariat mehr existiert, dass der globale Finanzkapitalismus sich nicht mit Massenstreiks bändigen lässt, ist sicher richtig.
Aber ist die SPD deswegen heute weniger kleinmütig, als sie es 1914 war? Ist sie heute eine linke Partei, eine, die entschieden auf der Seite derer agiert, die von diesem Kapitalismus bedroht sind?
Man kann Rosa Luxemburgs Biografie, wie Piper sie exzellent erzählt und dokumentiert, auch als ein entscheidendes Stück Geschichte der SPD lesen. Warum sie keine Volkspartei mehr ist, warum sie sich mittlerweile dagegen wehren muss, in die Bedeutungslosigkeit abzusinken: Rosa Luxemburg, die nie aus der SPD austreten wollte, hätte es womöglich erklären können.
„Einer Frau wie ihr muss es
gelingen, die Arbeitermassen
mit sich fortzureißen.“
Man kann die Biografie
auch als ein entscheidendes
Stück Geschichte der SPD lesen
Ernst Piper:
Rosa Luxemburg.
Ein Leben. Karl Blessing Verlag, München 2018. 832 Seiten, 32 Euro.
E-Book: 27,99 Euro.
Ungeliebte Geschichte. Die Tafel mit der Aufschrift: „In diesem Haus
wurde im Jahr 1871 Rosa Luxemburg geboren, die herausragende Aktivistin
der internationalen Arbeiterbewegung. Zamość 1979“ wurde im März 2018
vom vermeintlichen Geburtshaus (unten) in Polen entfernt.
Fotos: picture-alliance / schroewig, Nowy Kurier Zamojski
Freundinnen des Marxismus: Rosa Luxemburg (rechts) und Clara Zetkin bei einem Spaziergang im Jahr 1910.
Foto: S.M./SZ Photo
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.01.2019Die Massen konnte sie niemals gewinnen
Heute vor hundert Jahren wurde sie ermordet: Ernst Piper legt eine Biographie Rosa Luxemburgs vor
"Sei ruhig, werde nicht nervös und zeige keine falsche Bescheidenheit: tritt mit aller Brutalität für unsere Sache ein." Diesen Rat gab die zweiunddreißigjährige Rosa Luxemburg 1903 einem ihrer polnischen Kameraden mit auf den Weg zu einer der vielen damals abgehaltenen und stets kontroversen Parteikonferenzen. Er verrät viel über das Selbstbild und Politikverständnis der bis heute umstrittenen Revolutionärin. Rosa Luxemburg lebte für den von Karl Marx entworfenen Versuch einer totalen Verschmelzung von politischer Theorie und Praxis. Über drei Jahrzehnte hinweg - ihr gesamtes Erwachsenenleben lang - engagierte sich die 1871 im polnischen Zamosc geborene Tochter eines jüdischen Kaufmanns in Deutschland wie im Zarenreich für die Umsetzung des "wissenschaftlichen Sozialismus" in eine sozialistische Revolution.
In einer umfangreichen neuen Biographie zeichnet der Historiker Ernst Piper nun das turbulente Lebensbild einer Frau nach, die die Geschichte der deutschen und europäischen Linken im zwanzigsten Jahrhundert prägte wie keine andere vor oder nach ihr. Wie die meisten Biographen, auf deren Arbeiten er zurückgreift, bekennt Piper sich dazu, von Luxemburg fasziniert zu sein, aber er sei "deshalb noch lange kein Anhänger der Idee der Diktatur des Proletariats". Das ist eine angemessene Ausgangslage, um sich einer Figur zu nähern, die eine äußerst polarisierende Wirkung entfaltet hat und immer noch entfaltet.
Das grundsätzlich wohlwollende Licht, in das Piper die täglichen politischen, publizistischen und privaten Mühen dieser rastlosen und letztlich glücklosen Frau taucht, wird der Lebensgeschichte durchaus gerecht. Doch in seiner um Ausgewogenheit bemühten Würdigung ihrer politischen Bedeutung und damit ihres historischen Vermächtnisses - nicht nur für die Sozialdemokratie, sondern die (deutsche) Demokratiegeschichte insgesamt - versäumt es Piper, sich mit den antidemokratischen und unfreiheitlichen Aspekten ihres Denkens und Handelns in der gebotenen Weise auseinanderzusetzen.
Auch wenn dieses Lebensbild im Einzelnen wenig Neues bringt, gelingt es dem Autor dank seiner umfassenden Kenntnis der Quellen und Sekundärliteratur und nicht zuletzt einer großen Erzählkunst, Rosa Luxemburgs Weg anschaulich nachzuzeichnen: von der polnisch-jüdischen Kindheit über das Studium und die Promotion in Zürich, die ersten politischen Aktivitäten in der polnisch-russischen Sozialistenbewegung bis hin zur Übersiedlung nach Berlin, wo 1898 ihr steiler Aufstieg in der deutschen Sozialdemokratie seinen Anfang und 1919 sein jähes Ende nehmen sollte.
Seit John Peter Nettls maßgeblicher zweibändiger Biographie ist Piper der Erste, der es exzellent versteht, Luxemburgs umfangreiche Korrespondenz als kritische Quelle neben anderen für ihr politisches Wirken heranzuziehen und zugleich ihre intimsten darin enthaltenen Gedanken - etwa im Zusammenhang mit ihrer Kinderlosigkeit - angemessen zu berücksichtigen. Detailreich schildert er Luxemburgs Aktivitäten in der polnisch-russischen Arbeiterbewegung, die 1905/06 während der ersten Russischen Revolution einen Höhepunkt erreichen, als sie nach Warschau reist, die Ereignisse hautnah miterlebt und erstmals in Haft kommt. Rückblickend sah sie diese Monate als die "glücklichsten" ihre Lebens.
Dass seit jenen Erfahrungen die Kluft zwischen ihren Vorstellungen eines auf die "Spontanität proletarischer Massen" bauenden "revolutionären Marxismus" und der parlamentarisch stets geordnet voranschreitenden SPD immer größer wurde, arbeitet Piper eindringlich heraus. Doch ungeachtet ihres außergewöhnlichen Intellekts, ihrer rhetorischen Brillanz und organisatorischen Leistungsfähigkeit vermochte es Rosa Luxemburg selten, sich politische Mehrheiten zu verschaffen. Oft sprach sie als in vielerlei Hinsicht "exotische" Erscheinung vor Hunderten von begeisterten Zuhörern - nicht etwa, weil sie jenen "höheres Verständnis" vermittelte, sondern lediglich "die Einbildung, sie verstünden schon alles", so das Diktum Karl Kautskys. Als 1918 auch in Deutschland eine Revolution ausbrach, konnte von einer "Massenbasis" für ihre "soziale Utopie" keine Rede sein, wie Piper zu Recht betont. Am Ende wird deutlich, dass Luxemburg mit ihrem Engagement für den Sozialismus eine lange vor ihrer Ermordung in mehrfacher Hinsicht gebrochene Existenz führte: mit den Füßen stand sie (mehr schlecht als recht) in der deutschen Sozialdemokratie, mit dem Kopf und dem Herzen in der russisch-polnischen Bewegung.
Bei aller Einsicht in ihr Wirken bleibt bei Piper merkwürdig unscharf, welche Bedeutung er Rosa Luxemburg als marxistischer Theoretikerin zuweist. Er konstatiert, dass sie "als eine der bedeutendsten Denkerinnen in der Nachfolge von Karl Marx" galt, verweist aber in Bezug auf die Frage, was sie unter Marxismus verstand, nur kursorisch auf die jüngere Forschungsliteratur. Wo aber, wenn nicht in einer achthundert Seiten starken Biographie wäre der Ort, den präzisen Quellen ihrer politisch-philosophischen Weltanschauung nachzuspüren? Nicht zuletzt hätte man gern etwas mehr über die in jüngerer Zeit verfügbar gewordenen Quellen wie Luxemburgs polnische Artikel oder die Mitschriften von Schülern an der SPD-Parteihochschule erfahren; das ist zukünftigen Studien überlassen.
Es bleibt die Frage, inwiefern Luxemburg jene "charismatische Persönlichkeit" war, als die Piper sie gleich im ersten Satz seines Buchs bezeichnet. Charismatische Wirkung im Sinne Max Webers fußt auf der "außeralltäglichen Hingabe" an die "Heldenkraft" oder "Vorbildhaftigkeit" einer Person und die durch sie "geschaffene Ordnung". Selbst im weniger strengen Sinne hat Luxemburg zu Lebzeiten - nicht zuletzt als Frau mit "beeindruckender" Ausstrahlung - zwar viel Respekt und Bewunderung genossen, aber sie hat niemals jene breite "Massen"-Unterstützung generiert, von der sie stets ausging. Vielleicht sollte man präziser von einem posthumen Charisma sprechen, denn seit ihrem Tod ist Luxemburg wie kaum einer anderen politischen Figur Vorbildhaftigkeit und Heldentum zugesprochen worden; und auf fast ebenso vielfältige Weise wurde sie seither auch verteufelt.
Welche Haltung man in dieser Frage einnimmt, hängt maßgeblich davon ab, wie man ihr politisches Denken und Handeln beurteilt. Auch wenn Piper immer wieder zu treffenden Bewertungen kommt und seinem Anspruch eines differenzierten Urteils überwiegend gerecht wird, etwa wenn er Luxemburg für ihr Agieren in der Opposition im Ersten Weltkrieg eine "leninistische Attitüde" bescheinigt oder daran erinnert, dass ihrem Plädoyer für die "Freiheit der Andersdenkenden" kein absoluter Freiheitsbegriff zugrunde lag, sondern eine äußerst machtbewusste Logik des "sozialistischen Pluralismus im Rahmen einer Diktatur des Proletariats".
Letztlich schreibt er, wenn auch in leisen Tönen, an einer rosigen Sicht auf "Rosa" weiter. Wenn man ihr Scheitern als "Tragik", ihre Kompromissunfähigkeit als "Kühnheit" und ihren auf Gefühls- statt auf Interessenpolitik abzielenden "Kampf für die Befreiung der Menschheit" als "rücksichtslos gegen andere und sich selbst" charakterisiert, gerät leicht in Vergessenheit, dass ein humanes Engagement nicht auf Rücksichtslosigkeit beruhen kann.
CHRISTINA MORINA.
Ernst Piper: "Rosa Luxemburg". Ein Leben.
Blessing Verlag, München 2018. 832 S., Abb., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heute vor hundert Jahren wurde sie ermordet: Ernst Piper legt eine Biographie Rosa Luxemburgs vor
"Sei ruhig, werde nicht nervös und zeige keine falsche Bescheidenheit: tritt mit aller Brutalität für unsere Sache ein." Diesen Rat gab die zweiunddreißigjährige Rosa Luxemburg 1903 einem ihrer polnischen Kameraden mit auf den Weg zu einer der vielen damals abgehaltenen und stets kontroversen Parteikonferenzen. Er verrät viel über das Selbstbild und Politikverständnis der bis heute umstrittenen Revolutionärin. Rosa Luxemburg lebte für den von Karl Marx entworfenen Versuch einer totalen Verschmelzung von politischer Theorie und Praxis. Über drei Jahrzehnte hinweg - ihr gesamtes Erwachsenenleben lang - engagierte sich die 1871 im polnischen Zamosc geborene Tochter eines jüdischen Kaufmanns in Deutschland wie im Zarenreich für die Umsetzung des "wissenschaftlichen Sozialismus" in eine sozialistische Revolution.
In einer umfangreichen neuen Biographie zeichnet der Historiker Ernst Piper nun das turbulente Lebensbild einer Frau nach, die die Geschichte der deutschen und europäischen Linken im zwanzigsten Jahrhundert prägte wie keine andere vor oder nach ihr. Wie die meisten Biographen, auf deren Arbeiten er zurückgreift, bekennt Piper sich dazu, von Luxemburg fasziniert zu sein, aber er sei "deshalb noch lange kein Anhänger der Idee der Diktatur des Proletariats". Das ist eine angemessene Ausgangslage, um sich einer Figur zu nähern, die eine äußerst polarisierende Wirkung entfaltet hat und immer noch entfaltet.
Das grundsätzlich wohlwollende Licht, in das Piper die täglichen politischen, publizistischen und privaten Mühen dieser rastlosen und letztlich glücklosen Frau taucht, wird der Lebensgeschichte durchaus gerecht. Doch in seiner um Ausgewogenheit bemühten Würdigung ihrer politischen Bedeutung und damit ihres historischen Vermächtnisses - nicht nur für die Sozialdemokratie, sondern die (deutsche) Demokratiegeschichte insgesamt - versäumt es Piper, sich mit den antidemokratischen und unfreiheitlichen Aspekten ihres Denkens und Handelns in der gebotenen Weise auseinanderzusetzen.
Auch wenn dieses Lebensbild im Einzelnen wenig Neues bringt, gelingt es dem Autor dank seiner umfassenden Kenntnis der Quellen und Sekundärliteratur und nicht zuletzt einer großen Erzählkunst, Rosa Luxemburgs Weg anschaulich nachzuzeichnen: von der polnisch-jüdischen Kindheit über das Studium und die Promotion in Zürich, die ersten politischen Aktivitäten in der polnisch-russischen Sozialistenbewegung bis hin zur Übersiedlung nach Berlin, wo 1898 ihr steiler Aufstieg in der deutschen Sozialdemokratie seinen Anfang und 1919 sein jähes Ende nehmen sollte.
Seit John Peter Nettls maßgeblicher zweibändiger Biographie ist Piper der Erste, der es exzellent versteht, Luxemburgs umfangreiche Korrespondenz als kritische Quelle neben anderen für ihr politisches Wirken heranzuziehen und zugleich ihre intimsten darin enthaltenen Gedanken - etwa im Zusammenhang mit ihrer Kinderlosigkeit - angemessen zu berücksichtigen. Detailreich schildert er Luxemburgs Aktivitäten in der polnisch-russischen Arbeiterbewegung, die 1905/06 während der ersten Russischen Revolution einen Höhepunkt erreichen, als sie nach Warschau reist, die Ereignisse hautnah miterlebt und erstmals in Haft kommt. Rückblickend sah sie diese Monate als die "glücklichsten" ihre Lebens.
Dass seit jenen Erfahrungen die Kluft zwischen ihren Vorstellungen eines auf die "Spontanität proletarischer Massen" bauenden "revolutionären Marxismus" und der parlamentarisch stets geordnet voranschreitenden SPD immer größer wurde, arbeitet Piper eindringlich heraus. Doch ungeachtet ihres außergewöhnlichen Intellekts, ihrer rhetorischen Brillanz und organisatorischen Leistungsfähigkeit vermochte es Rosa Luxemburg selten, sich politische Mehrheiten zu verschaffen. Oft sprach sie als in vielerlei Hinsicht "exotische" Erscheinung vor Hunderten von begeisterten Zuhörern - nicht etwa, weil sie jenen "höheres Verständnis" vermittelte, sondern lediglich "die Einbildung, sie verstünden schon alles", so das Diktum Karl Kautskys. Als 1918 auch in Deutschland eine Revolution ausbrach, konnte von einer "Massenbasis" für ihre "soziale Utopie" keine Rede sein, wie Piper zu Recht betont. Am Ende wird deutlich, dass Luxemburg mit ihrem Engagement für den Sozialismus eine lange vor ihrer Ermordung in mehrfacher Hinsicht gebrochene Existenz führte: mit den Füßen stand sie (mehr schlecht als recht) in der deutschen Sozialdemokratie, mit dem Kopf und dem Herzen in der russisch-polnischen Bewegung.
Bei aller Einsicht in ihr Wirken bleibt bei Piper merkwürdig unscharf, welche Bedeutung er Rosa Luxemburg als marxistischer Theoretikerin zuweist. Er konstatiert, dass sie "als eine der bedeutendsten Denkerinnen in der Nachfolge von Karl Marx" galt, verweist aber in Bezug auf die Frage, was sie unter Marxismus verstand, nur kursorisch auf die jüngere Forschungsliteratur. Wo aber, wenn nicht in einer achthundert Seiten starken Biographie wäre der Ort, den präzisen Quellen ihrer politisch-philosophischen Weltanschauung nachzuspüren? Nicht zuletzt hätte man gern etwas mehr über die in jüngerer Zeit verfügbar gewordenen Quellen wie Luxemburgs polnische Artikel oder die Mitschriften von Schülern an der SPD-Parteihochschule erfahren; das ist zukünftigen Studien überlassen.
Es bleibt die Frage, inwiefern Luxemburg jene "charismatische Persönlichkeit" war, als die Piper sie gleich im ersten Satz seines Buchs bezeichnet. Charismatische Wirkung im Sinne Max Webers fußt auf der "außeralltäglichen Hingabe" an die "Heldenkraft" oder "Vorbildhaftigkeit" einer Person und die durch sie "geschaffene Ordnung". Selbst im weniger strengen Sinne hat Luxemburg zu Lebzeiten - nicht zuletzt als Frau mit "beeindruckender" Ausstrahlung - zwar viel Respekt und Bewunderung genossen, aber sie hat niemals jene breite "Massen"-Unterstützung generiert, von der sie stets ausging. Vielleicht sollte man präziser von einem posthumen Charisma sprechen, denn seit ihrem Tod ist Luxemburg wie kaum einer anderen politischen Figur Vorbildhaftigkeit und Heldentum zugesprochen worden; und auf fast ebenso vielfältige Weise wurde sie seither auch verteufelt.
Welche Haltung man in dieser Frage einnimmt, hängt maßgeblich davon ab, wie man ihr politisches Denken und Handeln beurteilt. Auch wenn Piper immer wieder zu treffenden Bewertungen kommt und seinem Anspruch eines differenzierten Urteils überwiegend gerecht wird, etwa wenn er Luxemburg für ihr Agieren in der Opposition im Ersten Weltkrieg eine "leninistische Attitüde" bescheinigt oder daran erinnert, dass ihrem Plädoyer für die "Freiheit der Andersdenkenden" kein absoluter Freiheitsbegriff zugrunde lag, sondern eine äußerst machtbewusste Logik des "sozialistischen Pluralismus im Rahmen einer Diktatur des Proletariats".
Letztlich schreibt er, wenn auch in leisen Tönen, an einer rosigen Sicht auf "Rosa" weiter. Wenn man ihr Scheitern als "Tragik", ihre Kompromissunfähigkeit als "Kühnheit" und ihren auf Gefühls- statt auf Interessenpolitik abzielenden "Kampf für die Befreiung der Menschheit" als "rücksichtslos gegen andere und sich selbst" charakterisiert, gerät leicht in Vergessenheit, dass ein humanes Engagement nicht auf Rücksichtslosigkeit beruhen kann.
CHRISTINA MORINA.
Ernst Piper: "Rosa Luxemburg". Ein Leben.
Blessing Verlag, München 2018. 832 S., Abb., geb., 32,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Alexander Cammann dankt Ernst Piper für die Entkitschung von Rosa Luxemburg. Nicht als linke Ikone begreift der Autor sie, sondern als leidenschaftliche, faszinierende Politikerin, die sich in ihren Ambivalenzen darstellen lässt, erklärt der Rezensent. Andere Biografien Luxemburgs überflügelt der Band für Cammann schon deshalb, weil Piper abzuwägen weiß und die Quellen befragt. Das abenteuerliche Leben und Schaffen Luxemburgs zeigt Piper laut Cammann unvoreingenommen. Dabei, so erklärt der Rezensent, räumt der Autor unter anderem auch auf mit der Vorstellung, führende Sozialdemokraten hätten über die Ermordung Luxemburgs Bescheid gewusst.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»In der mit Abstand besten, abwägend-unvoreingenommenen, brillant aus den Quellen geschriebenen Biografie dieser faszinierenden Figur schildert der Historiker Ernst Piper ihr Leben und ihre politische Karriere.« Die Zeit, Alexander Cammann